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Kapitel 8

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Gegen zwanzig Uhr öffneten sich die schweren Eichenholztüren des großen Speisesaals und gaben den Blick frei auf eine festlich gedeckte Tafel. Die Einzelheiten des Fünf-Gänge-Menüs, das von einem deutschen Sternekoch zubereitet wurde, konnten bereits vorab einer Karte entnommen werden. Der Hauptgang, Ente à l’orange, ließ Shanes Wut vom Nachmittag augenblicklich verfliegen. Das Leben war zu kurz, um sich über unangenehme Zeitgenossen zu ärgern. Das Einfachste war, ihnen einfach aus dem Weg zu gehen, und genau das hatte Shane vor. Magengeschwüre waren schon aus denkbar geringeren Anlässen entstanden und er wollte sein ohnehin schon immenses Glück nicht überstrapazieren.

Die Tafel im Saal war, wie bei einem festlichen Bankett nicht anders zu erwarten, entsprechend hergerichtet – weiße Tischtücher, Blumengestecke, edles Porzellan, Sitzkärtchen … Der Raum strahlte eine moderne, warme Atmosphäre aus, obwohl Shane sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, ein Tagungszimmer zu betreten. Wenn hier künftig auch die Touristen speisen sollten, und der Größe des Saals nach zu urteilen, war das anzunehmen, dann würde sich noch einiges ändern müssen. Es fehlte das gewisse Etwas, der unvergleichbare Charme, mit dem gute Restaurants für gewöhnlich bestachen.

Allmählich fanden sich auch die anderen Gäste ein, und sobald alle am Tisch saßen, gingen Kellner mit Silbertabletts voller Aperitifs herum. Es wurde getrunken, Höflichkeiten ausgetauscht und Spekulationen über die Qualität des Essens angestellt.

Shane hielt sich zurück, nippte gelangweilt an seinem Glas und prostete, wenn es der Moment erforderte, anderen Gästen zu. In Gedanken war er jedoch immer noch bei der indirekten Drohung, die Meier vorhin ausgesprochen hatte. Etwas daran hatte ihn beunruhigt, und für sein Ego war das schwer zu schlucken, da er für gewöhnlich kein Mann war, der sich ohne Weiteres einschüchtern ließ. Aber die Art und Weise, wie Meier vom ›Machtgefüge‹ gesprochen hatte, hatte in Shane unangenehme Assoziationen geweckt. Man konnte allerdings auch etwas Gutes darin sehen: Seine Position war jetzt klar.

Als Estella Meinhard ihre Stimme erhob, um die Gäste beim Dinner willkommen zu heißen, kehrte Ruhe ein. Alle warteten nun gespannt auf die Vorspeise, ein Rucola-Salat mit Pinienkernen, Joghurt-Dressing und gehobeltem Parmesan. Die gefüllten Teller wurden verteilt, die Unterhaltungen wieder aufgenommen. Shane saß neben Lennard Frank und Mrs. Blinow. Frank war ein angenehmer Gesprächspartner, Mrs. Blinow dagegen recht wortkarg, weshalb er nicht befürchten musste, in hitzige Diskussionen hineingezogen zu werden.

Shane ließ sich Zeit, um den Salat zu genießen. Er mochte den herben Geschmack des Rucolas, und das Dressing war vorzüglich. Frank schien seinen Geschmack nicht zu teilen, er stocherte nur zaghaft mit seiner Gabel in den Blättern herum, während Mrs. Blinow wie ein wild gewordener Stier darüber herfiel. »Köstlich!«, ließ sie ungeniert verlauten. Wahrscheinlich gab es da, wo sie herkam, nichts als Rübensuppe und Kohl zu essen.

Nach einer Weile legte sich das Klappern des Bestecks, und Estella verschaffte sich erneut Gehör, indem sie mit der Messerspitze gegen ihr Weinglas tippte.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben heute eines der Wunder unserer Mutter Natur kennengelernt – eine Oase in der Wüste. Ein Quell des Lebens in einer der lebensfeindlichsten Umgebungen überhaupt. Sie werden sich sicherlich gefragt haben, warum wir meinen, ausgerechnet hier eine Freizeitanalage für Touristen errichten zu müssen. Auf den ersten Blick mag es unlogisch und unrentabel erscheinen – doch hier bietet sich uns die einzigartige Möglichkeit, das Verhalten der Menschen gegenüber den natürlichen Energiequellen unseres Planeten grundlegend zu verändern. Denn bedenken Sie, dass natürliche, alternative Energiequellen oft nur da zu finden sind, wo, zumindest in den Augen unserer westlichen Zivilisation, extreme Lebensbedingungen vorherrschen. Zum Beispiel sind Sonnenkraftwerke nur dort wirklich rentabel, wo es eine sehr hohe Sonneneinstrahlung und eine damit verbundene unerträgliche Hitze gibt.

Oder denken Sie an sehr kalte Orte, in diesem Fall Island. In Island gibt es die meisten und aktivsten Geysire überhaupt. Wenn Sie nur ein wenig mit der Wirkungsweise eines Geysirs vertraut sind, wissen Sie, dass die Erdwärme beziehungsweise das Magma das Grundwasser stark erhitzt und anschließend nach oben drückt. Diese Wärme können wir uns zu Nutze machen, ohne Einfluss auf die Natur zu nehmen.

Ich denke, Sie verstehen nun, worauf ich hinauswill. Wir planen, an all diesen Orten sowohl umweltverträgliche Kraftwerke als auch Freizeitanlagen zu errichten, die die Menschen zum Umdenken anregen oder ihnen zumindest die Möglichkeit bieten, sich in einem zwanglosen Umfeld mit der Materie auseinanderzusetzen. Eines der Hauptanliegen von Hawkes Enterprises ist es, nicht nur die Energieversorgung der Zukunft zu sichern, sondern auch Aufklärungsarbeit zu leisten, sodass zukünftige Generationen in der Lage sein werden, eigene Wege und Lösungen zu finden.«

»Und Sie meinen wirklich, die Herzen der Menschen mit ein paar Vergnügungsparks erweichen zu können?«, fragte Meier zynisch, fand jedoch nur wenig Unterstützung. Etwas vorsichtiger fügte er hinzu: »Wollen Sie denn nicht erkennen, dass es die Menschen einen Dreck schert, woher der Strom kommt, der ihre Geräte speist, oder das Benzin in ihren Tanks, solange es nur in Strömen fließt? Unsere Gesellschaft ist hungrig nach Energie, nach Erdöl, Kohle, Atomstrom … das sind die Motoren unserer Wirtschaft. Wenn die Energiereserven schrumpfen, die Versorgung nicht mehr gewährleistet werden kann - und das wird früher oder später passieren, wenn wir uns auf alternative Energien verlassen –, dann wird Hawkes Enterprises eines der ersten Unternehmen sein, das den Zorn des Volkes zu spüren bekommt. Der Hunger nach Energie ist eine Abhängigkeit und kann durch alternative Energien nicht gestillt werden.«

»Wir sind nicht so blauäugig, wie Sie vielleicht denken mögen, Mr. Meier, und ich stimme Ihnen sogar zu, dass wir nicht ohne eine ausreichende Übergangsphase auskommen werden, aber Sie müssen doch auch einsehen, dass Kohle- und Atomstrom nicht länger ernsthafte Alternativen sind. Die Uran-, Kohle- und Erdölreserven neigen sich unweigerlich dem Ende zu. Womit wollen Sie den Energiehunger denn stillen, den sie eben so lebhaft beschreiben haben, wenn diese Reserven endgültig aufgebraucht sind?«

Shane nickte Estella anerkennend zu, Meier bedachte er mit einem Kopfschütteln. »Und ausgerechnet Sie sprechen von Abhängigkeit!«

Langsam wurde das Dinner interessant. Shanes Informationslücken begannen sich zu schließen. Er konnte jetzt nachvollziehen, warum Hawkes Enterprises eine Freizeitanlage gebaut hatte, auch wenn er dem Ganzen weiterhin kritisch gegenüberstand. Die Absicht hinter dem Projekt war zwar löblich, und er erkannte durchaus das Potenzial, doch er zweifelte an der Durchführbarkeit. Jedes Bauvorhaben benötigte nun einmal seine Vorlaufzeit. An verschiedenen Standorten bezugsfertige Anlagen zu errichten, würde mindestens fünf, wenn nicht eher sieben Jahre in Anspruch nehmen, und selbst dann musste das Projekt erst noch weltweit ins Rollen kommen – ohne Garantie auf Erfolg.

»Miss Meinhard?« Ein schüchtern wirkender Mann mit kurzem, schütterem Haar hob wie ein Schuljunge die Hand. Manchen Menschen sah man ihren Einfluss einfach nicht an. »Wir haben Ihr Unternehmen bereits bei diversen Projekten unterstützt und sind jedes Mal aufs Neue fasziniert von Ihrem Ideenreichtum, aber ich fürchte, ich muss Ihrem Enthusiasmus dieses Mal einen Dämpfer verpassen.«

Er schwieg verlegen. Estella bedeute ihm, fortzufahren, auch auf die Gefahr hin, dass er das Vorhaben in ein schlechtes Licht rücken könnte.

»Sie haben vollkommen recht, dass wir mit fossilen Energiequellen unseren Energiebedarf nicht mehr lange decken können, doch Sie sollten bedenken, dass natürliche, unbegrenzte Energiequellen oft nur mit erhöhtem Aufwand und entsprechenden Maschinen gefördert werden können und dass die Förderung nicht selten, wenn auch indirekt, ins Ökosystem eingreift.«

»Was wir an der einen Stelle nehmen, fehlt uns an der anderen«, ergänzte Lennard Frank, und auch Thalia Morgan sprang auf das Thema an.

»Wir bringen die Biorhythmen unserer Erde durcheinander«, sagte sie und wischte sich mit einer Stoffserviette die Mundwinkel ab. »Unsere Ökosysteme sind ohnehin schon stark belastet, an vielen Stellen sogar überlastet. Wenn wir nun unkontrolliert darin eingreifen, könnten die Folgen verheerend sein.«

»Welch ein Dilemma!«, ertönte ein Zwischenruf. Böse Blicke wanderten zu David Meier.

»Eine Zwickmühle, mit der sich unser Unternehmen seit Jahren auseinandersetzt«, sagte Estella, »weswegen wir unsere Forschung auch auf andere Bereiche ausgeweitet haben.«

»Was meinen Sie mit ›andere Bereiche‹?« Shane reagierte blitzschnell. Als Journalist musste man den richtigen Moment abpassen, bevor sich einmal geöffnete Tore wieder verschlossen.

Estella hielt sich vage. »Sie verstehen sicherlich, dass sich einige Projekte noch in der Testphase befinden und ich Ihnen darüber leider keine genaueren Auskünfte geben darf.«

Gerade wollte Shane erneut nachhaken, als Frank intervenierte. »Ich für meinen Teil denke, dass das Projekt, weshalb wir hergekommen sind, ein guter Anfang ist. Wir werden sowieso niemals alle Probleme auf einmal lösen können. Deswegen sollten die Kraftwerke so umweltschonend und effizient wie möglich geplant werden. Mit meiner Unterstützung können Sie jedenfalls rechnen«, sagte er an Estella gerichtet und nahm Shane damit den Wind aus den Segeln.

»Danke, Mr. Frank«, entgegnete sie und setzte ihren Vortrag fort, der, je länger sie sprach, umso enthusiastischer wurde. Man konnte sehen, wie sie förmlich auftaute und ihre Unsicherheit abschüttelte.

Als sie zum Ende kam, waren alle ruhig geworden. Estella lehnte sich erleichtert zurück, und als hätte sie damit ein Startsignal gegeben, fluteten die Kellner erneut den Saal. Der Hauptgang, die lang ersehnte knochige Ente, wurde aufgetischt.

Kalte Zukunft

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