Читать книгу Kalte Zukunft - Benjamin Blizz - Страница 16
Kapitel 14
ОглавлениеIm Kontrollzentrum war es stockdunkel geworden. Alle Lichter einschließlich der Notbeleuchtung waren nach der Systemabschaltung durch den Trojaner II erloschen; nur der schwache stroboskopförmige Lichtkegel von Shadows Taschenlampe erhellte noch die unmittelbare Umgebung.
Alles war nach Plan verlaufen, bis auf die Tatsache, dass er selbst eine Verletzung davongetragen hatte, die nicht beabsichtigt gewesen war. Nun saß auch er fest – was später immerhin jeglichen Verdacht von ihm ablenken würde.
Eine der Stromleitungen im Inneren war geplatzt und hatte einen der Serverschränke zum Wanken gebracht, der unglücklicherweise direkt auf sein Bein gefallen war. Er konnte den glatten Knochenbruch förmlich spüren und ohne fremde Hilfe würde er es nicht unter dem Monstrum hervorschaffen; blieb nur abzuwarten und zu hoffen, dass keine weiteren Leitungen in Mitleidenschaft gezogen wurden, die ihm gefährlich werden könnten.
Während er vor Schmerzen stöhnend am Boden saß, dachte er an seine Heimat. Nicht an die großen und von Abgasen verpesteten Städte Afrikas, in denen er sein Studium absolviert hatte, nein, die Wüste mit all ihrer natürlichen Faszination. Er stammte von den Beduinen ab, die schon seit Jahrtausenden von Ort zu Ort wanderten. Leider hatte er sich von seinem Stamm getrennt, seine Familie zurückgelassen, um die weite Welt außerhalb der Natur zur erkunden. Sein Vater hatte ihm diesen Schritt nie verziehen, und im Nachhinein schämte sich Shadow für seinen Entschluss. Was war nur aus ihm geworden? Anstatt an einer Universität zu lehren, sprengte er welche in die Luft.
Er konnte sich nicht einmal mehr genau daran erinnern, wann er zum ersten Mal mit den Brüdern seiner Organisation in Kontakt gekommen war. Dabei markierte dieser Tag einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben. Seitdem gab es für ihn kein Zurück mehr. Wer einmal dem Ruf des Dschihad folgte, war dazu verdammt, den Weg bis zum bitteren Ende zu gehen. Die Vergangenheit hörte auf zu existieren. Man ließ sein bisheriges Leben hinter sich, und jede Form der Reue, des Bedauern, war eine Todsünde. Allah und nur Allah alleine richtete über die Taten derer, die für ihn in den heiligen Krieg zogen. Shadow konnte sich dem nicht entziehen. Der Einfluss seiner Brüder reichte zu weit. Selbst wenn er sich dazu entschließen würde, den Schwur, den er vor genau acht Jahren in den Tiefen der pakistanischen Höhlen geleistet hatte, zu brechen, würden sie ihn jagen und zur Strecke bringen. Überall auf der Welt. Viele Male hatte er an diesem Punkt gestanden, die Zweifel in ihm die Oberhand gewinnen lassen, doch jedes Mal hatte schlussendlich sein Überlebenswille gesiegt. Er dachte daran, wie viel Macht und Einfluss die Terrororganisationen über die Jahre gewonnen hatten. Spätestens seit Nine-Eleven formierten sich die einzelnen Terrorzellen zu einem gigantischen weltweiten Netzwerk, dessen Ausmaße man erst begriff, wenn man sich mittendrin befand. Jede der scheinbar selbständigen Organisationen war mit den anderen auf eine verstrickte Weise verbunden. Die Unterschiede waren marginal. Das gemeinsame Ziel, entstanden aus dem fanatischen Dunst aus Glaubenskriegen, politischen Anschlägen und Wirtschaftssabotagen stand nun im Vordergrund – der Terror um des Terrors selbst willen, um jeden Preis.
Der ursprüngliche Gedanke jeglichen Terrors war die unwillkürliche Verbreitung von Angst und Panik durch angedrohte oder ausgeführte Gewalt. Alle Terroristen, ob Dschihadisten, extreme politische Opportunisten oder Guerillakämpfer trachteten in ihrem Handeln letztendlich doch nur nach einem: den Schrecken und die Verzweiflung in den Augen ihrer Opfer zu erkennen; daran weideten sie sich, dafür lebten sie.
Überdies traten sie aber auch für ihre Dogmen ein, wie auch Shadow für seine Überzeugungen eingetreten war. Das war es, was er bewundert hatte: diesen Tatendrang, etwas verändern zu wollen, auch wenn es mit den falschen Mitteln geschah. Das Gros der Bevölkerung verschiedenster Länder akzeptierte vorbehaltlos die vorgefertigten, von oben diktierten Meinungen. Es war richtig, sich dagegen zu erheben! Aber nicht mit Hilfe des Terrors, das hatte er inzwischen erkennen müssen.
Ein leises Poltern im Hintergrund ließ seine Gedanken pausieren. Langsam drehte er sich, so weit es sein gebrochenes Bein zuließ, herum, und spähte angestrengt in die Dunkelheit. War es den Rettungstrupps mittlerweile gelungen, durchzubrechen? Seine Hand schloss sich fester um die Taschenlampe. Ein Anflug von Angst streifte seinen Geist – unwillkürliche, instinktive Angst, die keine konkrete Ursache hatte. Mehr ein böse Vorahnung.
Er ließ den Lichtkegel der kleinen Led-Lampe kreisen, erst nach rechts dann nach links. Gerade als er zurückschwenken wollte, sah er etwas, das sich in der Dunkelheit bewegte: ein Schemen, der sich nur schwach vom Hintergrund abhob. Der Lichtkegel schnellte auf den Schemen zu, doch bevor er ihn erwischte, verschwand dieser hinter einem Büroschrank.
Shadows Herz begann schlagartig so laut zu pochen, dass er glaubte, es würde jeden Moment aus ihm herausspringen. Wer außer ihm hielt sich noch in dem Komplex auf? Die Techniker waren allesamt im Außeneinsatz und Heckler leitete mit Meinhard die Führung. War einer der Techniker früher zurückgekehrt und versuchte nun, die Verbindung zum Hotel wieder zu öffnen? Doch wieso reagierte die Person nicht auf das Licht? Sie musste es unweigerlich bemerkt haben. Oder hatte er sich den Schemen nur eingebildet?
Die nächste Möglichkeit war die beunruhigendste: Der oder die Unbekannte wollte nicht gesehen werden.
Jahrelange Undercover-Missionen hatten Shadows Überlebensinstinkte geschult, und er spürte: Wer oder was auch immer sich zusammen mit ihm hier im Raum aufhielt, war eine potenzielle Bedrohung. Fieberhaft suchte er seine Umgebung nach einem Gegenstand ab, den er notfalls zur Verteidigung benutzten könnte, entdeckte jedoch nichts außer einem Stapel Papier, der ihm höchstens weiterhalf, wenn er sein Testament hätte schreiben wollen.
Eine gespenstische Stille, die nur durch das Zischen beschädigter Stromleitungen und dem gedämpften Tosen aus der Wüste unterbrochen wurde, senkte sich über das Kontrollzentrum. Es polterte und krachte erneut, so als würde gerade ein Wandregal mitsamt Schrauben und Dübeln aus dem Mörtel gerissen. Shadow spitzte die Ohren und vernahm Schritte, leise und schlurfend. Die Taschenlampe fiel ihm vor Aufregung aus den Händen, schepperte geräuschvoll beim Aufprall und blieb irgendwo im Dunkeln liegen. Shadows Herz krampfte sich erneut zusammen. Ein länglicher Schatten, unverkennbar der eines Menschen, ragte vor ihm auf.
»Name und Dienstnummer!«, forderte eine relativ junge, aber dennoch schockierend harte Stimme.
»Brian Goldwer, 1876«, log Shadow, obwohl ihm eigentlich klar war, dass die fremde Person nicht dem Unternehmen angehörte. Sie war seinetwegen hier – und nur seinetwegen! Seine einzige Chance bestand darin, Zeit zu schinden.
»Können Sie mir aufhelfen, mein Bein ist eingeklemmt? Und was ist überhaupt passiert?«, erkundigte er sich so beiläufig wie möglich, doch es gelang ihm nicht, die Furcht gänzlich aus seiner Stimme zu vertreiben.
»Was passiert ist? Das dürften Sie doch wohl am besten wissen! Oder haben Sie nur versehentlich Trojaner ins Netzwerk eingeschleust und die Sicherungen der Sammelstellen ausgetauscht?«
Das Englisch klang grauenhaft, möglicherweise ein deutscher Akzent. Der Fremde war offenbar bestens informiert und wusste um seine wahre Identität. Shadow spürte, wie die Wahrscheinlichkeit zu überleben mit jeder Sekunde drastisch sank. Doch weshalb war der Fremde hier? Shadows Auftraggeber hätten niemals einen zweiten Agenten ins Rennen geschickt. Oder wussten sie von …
Nein, unmöglich! Sie konnten nichts davon erfahren haben, konnten den Diebstahl nicht bemerkt haben. Nicht jetzt schon!
»Keine Angst. Sie werden nicht auffliegen, das verspreche ich Ihnen.« Das Versprechen des Fremden war zu schön, um wahr zu sein – es war eine Lüge.
Shadow nahm all seinen Mut zusammen und stellte die Frage, die ihn am stärksten beschäftigte. »Wer sind Sie und warum sind Sie hier?« In seinen eigenen Ohren klang es so banal und zugleich doch so bedeutend.
»Wer ich bin, ist irrelevant! Warum ich hier bin? Wie Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte, bestehen unsere Auftraggeber auf Diskretion. Äußerste Diskretion. Sie haben stets gute Arbeit geleistet, das wurde nicht vergessen, jedoch mussten meine Vorgesetzten leider eine Diskrepanz in der – sagen wir: Buchführung – feststellen. Das Stehlen beziehungsweise unerlaubte Kopieren vertraulicher Daten werten wir als illoyalen Akt. Es handelt sich hierbei schließlich nicht um ein Kavaliersdelikt. Nein, wirklich nicht.« Der Unbekannte ging leise vor Shadow auf und ab. Seine Stimme hatte nun etwas Süffisantes, Bedrohliches angenommen. »Über einen gestohlenen Keks könnten wir wohl noch hinwegsehen«, fuhr er fort, »doch in Ihrem Fall bedarf es einer entsprechenden Disziplinarmaßnahme. Ich habe entschieden, die Bestrafung hier und jetzt durchführen.«
Shadow wollte den Mund aufreißen, schreien, doch eine ungewöhnlich kräftige Hand schloss sich um seinen Kiefer und drückte so lange zu, bis sein Widerstand erlahmte. Die Hand hinderte ihn nicht nur am Schreien, sondern nahm ihm auch die Luft zum Atmen. Verzweifelt krümmte er sich vor Schmerz zusammen. Was das das Aus?
Eine schallende Ohrfeige befreite ihn aus seinem Krampf. »Nicht einschlafen! Noch nicht!«
Der Fremde verschwand wieder in der Dunkelheit, und Shadow vernahm erneut die Laute, die sich wie ein stürzendes Wandregal anhörten. Doch da war noch ein weiteres Geräusch, ein Knistern, das ihm nur allzu vertraut war. Während seiner Zeit an der Universität hatte er es nur allzu oft während seiner Experimente im Physiklabor vernommen. Dieses Knistern konnte nur durch elektrischen Strom hervorgerufen werden. Eine grauenhafte Vorahnung beschlich ihn. Das Knistern kam unaufhaltbar näher. Mit all seiner Kraft versuchte er, das gebrochene Bein unter dem Serverschrank hervorzuwuchten, doch es war aussichtslos.
Sich in sein Schicksal ergebend, schloss er die Augen und wurde mit einem letzten, wundervollen Bild belohnt, das seinen gesamten Geist auszufüllen schien. Mit der endlosen, unbeschreiblich schönen Wüste und seiner Familie vor Augen empfing er, was am Ende eines jeden Lebens stand: den Tod.
Der Starkstrom fraß sich in Nanosekundenschnelle bis hinauf in sein Gehirn und ließ sämtliche Gedanken explodieren. Seine letzten Sekunden waren erfüllender als alles, was er je zuvor gefühlt hatte.