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Kapitel 12

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1. März 2023

Sun City

Eine einsame, grau-braun gefiederte Wüstenläuferlerche stolzierte auf dem Glasdach über den Köpfen der Gäste entlang. Sie flog nur selten mehr als ein paar Meter und verbrachte die meiste Zeit auf dem Boden oder auf Gebäuden. Die Sonne brannte bereits sengend vom Himmel, wovon in dem klimatisierten Glastunnel jedoch nichts zu merken war. Die gläserne Verbindungsstrecke befand sich etwa drei bis vier Meter über dem Boden, und man hatte einen fabelhaften Ausblick auf einen Großteil der PECS-Anlage.

Estella drehte sich zu der kleinen Gruppe, die ihr aufmerksam folgte, herum und zeigte aus der Fensterfront.

»Sie kennen Solarstromanlagen bereits aus ihren Heimatländern: Flächen mit 1000 bis 1400 Solarmodulen, die eine Gesamtleistung von maximal zwölf Megawatt erreichen. Dort draußen befinden sich 30000 PECS-Module; die Leistung beträgt allerdings nicht etwa 500, sondern 2000 Megawatt. Aufgrund neuester Technologien ist es uns gelungen, die gewonnene Leistung mehr als zu verdreifachen. Nirgendwo auf der Welt werden Sie eine Technik wie die unsere vorfinden, zumindest jetzt noch nicht. Mister Heckler wird Sie in der anschließenden Präsentation mit dem PECS-Verfahren vertraut machen.«

Die Gruppe nickte anerkennend, während sie Estella Meinhards Ausführungen folgte.

Wo zum Teufel bleibt Shane?, fragte sie sich. Ob auch er an einer Magenverstimmung litt? Einige Gäste, darunter auch Thalia Morgan sowie Meiers Assistent, klagten seit den frühen Morgenstunden über Magenkrämpfe und Übelkeit. Möglicherweise war ein Teil des Menüs von gestern Abend verdorben gewesen, was sich Estella nur schwer vorstellen konnte. Doch auch sie verspürte ein unterschwelliges Rumoren, was ihre Arbeitsfähigkeit zum Glück nicht beeinträchtigte.

Nur um ganz sicherzugehen hatte sie Fritzsch angewiesen, die Reste des Essens auf Gifte untersuchen zu lassen. Das Ergebnis wartete bestimmt schon auf sie; falls tatsächlich etwas gefunden worden wäre, hätte man sie allerdings längst informiert. Zwar sagte ihr der Verstand, dass alles in Ordnung sei, aber ihr sechster Sinn, falls es etwas Derartiges gab, war anderer Meinung. Auch wenn es albern zu sein schien: Die Luft fühlte sich dicker an als sonst, so als hätte sich eine zähflüssige Bedrohung in ihr verfestigt.

Die heutige Präsentation entschied über Erfolg oder Misserfolg der weiteren Projekte. Hawkes Enterprises konnte ohne Unterstützung weiterexistieren, aber nicht expandieren. Dafür fehlten ihnen die finanziellen Mittel, die ihnen hoffentlich bald zur Verfügung gestellt werden würden, sollte es ihr gelingen, die potenziellen Investoren zu überzeugen. Ebendeshalb musste sie Überzeugungsarbeit leisten und durfte sich keine Fehler erlauben.

Noch verlief alles genau nach Plan. Die Gäste waren beeindruckt, und bis auf die Magenverstimmungen gab es keine Schwierigkeiten. Ohne Shane würde jedoch der Artikel wegfallen, von dem sie sich so viel erhofften, weswegen sie ständig verstohlen nach ihm Ausschau hielt.

Die Wüstenläuferlerche folgte dem Weg, den die Menschen einschlugen, und beobachte sie ebenso furchtlos wie neugierig. Nach einigen Metern endete der scheinbar schwebende Glastunnel und führte in einen großen Metall- und Betonkomplex. Die Wüstenläuferlerche zwitscherte aufgebracht, da sie die interessanten Gestalten nirgendwo mehr ausmachen konnte. Schnell wie der Wind rannte sie über das Dach, breitete ihre Flügel aus und kreiste langsam herunter, bis sie auf einem der Solarmodule für kurze Zeit hocken blieb. Doch auch hier wurde sie unruhig, hüpfte von Modul zu Modul und kreischte panisch. Sie roch etwas, was sie weder sehen noch zuordnen konnte. Ihr Instinkt riet ihr, schleunigst zu verschwinden. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sie sich, um das Gelände zu verlassen.

Gerade noch rechtzeitig!

»Sie werden nun Gelegenheit erhalten, die PECS-Module einmal aus der Nähe zu betrachten, bevor Ihnen Mr. Heckler deren Funktionsweise und das Kontrollzentrum erläutert«, informierte Estella die Gruppe und öffnete mit ihrer Schlüsselkarte eine der Schiebetüren zum Außenbereich.

Hitze schlug ihnen entgegen. Hitze, die nicht durch die natürliche Umgebung einer Oase abgemildert wurde. Lennard Franks Ehefrau fächerte sich mit einem asiatisch anmutenden Fächer frische Luft zu. Einer nach dem anderen verließen sie das schützende Gebäude.

Estella rümpfte die Nase. Ein undefinierbarer, leicht stechender Geruch lag in der Luft. Wahrscheinlich ein toter Vogel oder eine Echse, die in der sengenden Wüstensonne verrottete. Kaum hatte sich die Gruppe ein paar Schritte vom Eingang entfernt, wurde es erträglicher, und schließlich war von dem beißenden Geruch nichts mehr wahrzunehmen.

Ein kleiner, überaus lebendiger Vogel, den Estella als Wüstenläuferlerche identifizierte, flog kreischend über sie hinweg in Richtung See; Sie mussten ihn zu Tode erschreckt haben.

In geschlossener Formation durchquerte die Gruppe die Reihen von Solarmodulen, und Estella genehmigte sich ein zufriedenes Lächeln. Wenn den Gästen das ökonomische Wunderwerk der Anlage erst bewusst wurde, mussten sie den weiteren Projekten einfach zustimmen. Und noch konnte niemand auch nur ahnen, woran Hawkes Enterprises zurzeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit arbeitete …

Estellas Gedanken schweiften ab, Heckler übernahm derweil die Erklärungen. Sie stellte sich den Moment vor, wo sie und nur sie ganz allein ihre Entdeckung verkünden würde. Die Welt würde aufschreien und ihr zujubeln und die bedeutendsten Politiker würden ihr die Hände schütteln. Bald war es so weit! Bald würden sie die Führung auf dem weltweiten Energiemarkt übernehmen.

Der beißende Geruch schlug ihr erneut entgegen und riss sie aus ihren Gedanken. Was stimmte jetzt wieder nicht? Ihr Blick richtete sich gen Osten, von wo aus der Wind den Geruch zu ihnen herübertrug. Ein zartes Grau trübte den ansonsten strahlend blauen Himmel. Was ging dort vor sich?

Es dauerte einen Augenblick, ehe Estella bewusst wurde, worum es sich bei dem Grau handelte: Rauch, dünner, in der heißen Wüstenluft flimmernder Rauch! Und wo Rauch war, war auch Feuer. Es brannte!

»Nein, nicht auch noch das!«, flüsterte Estella ernüchtert, und in diesem Moment drehten sich auch die Gäste herum. Der Rauch verdichtete sich, Funken stoben in kleinen Fontänen aus den betroffenen PECS-Modulen. Dann überschlugen sich die Ereignisse!

Als wäre ihr entsetztes Flüstern ein Katalysator gewesen, sprühte es nun auch aus den anderen Modulen, und dicker schwarzer Qualm quoll daraus hervor. Er wehte zu ihnen herüber, beißend und unheilvoll. Die Gäste begannen zu husten und zu würgen und bedeckten in Eile ihre Münder. Heckler stöhnte und starrte entsetzt auf die flammenschlagenden Module. Mit der Hand stützte er sich auf einen Verteilerkasten, den er soeben hatte vorführen wollen. Ein schwerer Fehler …!

Estellas Verstand gewann wieder die Oberhand. Sie löste sich von der schrecklichen Szenerie und rannte los. Der Verteilerkasten war mit den Modulen verbunden, und wenn diese aus einem unerkenntlichen Grund überlasteten, wanderte die angestaute Spannung geradewegs zu ihm. Die Sicherungen würden anspringen, aber Stromstöße waren dennoch nicht auszuschließen.

Sie war nur noch wenige Schritte von Heckler entfernt, als es passierte. Mit einem ohrenbetäubenden Zischen explodierte der Kasten, und Hecklers Körper begann augenblicklich wild zu zucken. Eingehüllt in eine Wolke sprühender elektrischer Funken geriet sein Haar in Brand. Wie paralysiert sah die Gruppe zu, wie er bei lebendigem Leib verbrannte. Es war furchtbar! Er schien schreien zu wollen, doch seine Muskulatur war längst so verkrampft, dass kein Wort mehr über seine Lippen kam. Dann kippte er, einer brennenden Statue gleich, vornüber und schlug auf dem Boden auf.

Die Gäste schrien panisch. Aus einem auf den ersten Blick harmlosen Schwelbrand war eine lebensbedrohliche Gefahr geworden. Estella wollte ebenfalls kreischen, ihrer Panik Ausdruck verleihen, entsann sich aber ihrer Verantwortung. Mit eisernem Willen gelang es ihr, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Es lag nun an ihr, die Gäste in Sicherheit zu bringen.

Thalia Morgan versuchte, an ihr vorbei zurück zum Gebäude zu laufen, doch Estella setzte ihr nach und riss sie an der Schulter herum. Der Weg, den sie gekommen waren, wurde nun ebenfalls vom Feuer eingehüllt.

»Hören Sie mir jetzt alle zu!«, brüllte sie in Richtung der Gruppe und gestikulierte wild mit den Armen. »Wir werden das Gelände an einem der Wartungszugänge auf der Westseite verlassen!«

»Aber dann laufen wir mitten in die Wüste!«, brüllte Lennard Frank zurück.

»Bis zum Hotel ist es nicht weit. Wir müssen es versuchen, es ist unsere einzige Chance!«

Von einer kalten Wut getrieben, lief Estella den anderen voraus. Dieser Zwischenfall mochte das Aus für Hawkes Enterprises bedeuten, aber sie würde nicht zulassen, dass auch noch die Gäste zu Schaden kamen. Hoffentlich schlug der Brand keine konzentrischen Kreise. Dann säßen sie in der Falle, bevor sie den Wartungszugang erreichten. Doch noch deutete nichts darauf hin. Noch konnten sie es schaffen.

Eilig warf Estella einen Blick über ihre Schulter. Das halbe Feld stand mittlerweile in Flammen, und der Anblick trieb ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen. Was auch immer für den Brand verantwortlich war, ob menschliches oder technisches Versagen, es gefährdete nicht nur die Zukunft des Unternehmens, sondern auch ihre ganz persönliche. Das Projekt, an dem sie auf dem Stützpunkt in Deutschland arbeitete, war ihre Erfindung und tausendmal wichtiger als jedes gottverdammte Sonnenkraftwerk in einem afrikanischen Schurkenstaat. Die Daten durften auf keinen Fall verlorengehen.

Sie zwang sich, wieder an die Gäste zu denken und trieb sie weiter voran. Das Knirschen und Krachen umstürzender PECS-Module kam immer näher.

Sie rannte nach links. »Hier entlang!«

Der Wartungszugang war nun in greifbarer Nähe. Nur zwei-, dreihundert Meter und sie hatten es geschafft. Die Gäste begannen bereits zu schwächeln, doch die Aussicht, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, ließ sie auch das letzte Stück der Strecke überwinden.

Hinter ihnen brach die Hölle los.

Kalte Zukunft

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