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Kapitel 3

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Shane war ein wenig benommen von den Cocktails, die er getrunken hatte. Wankend stand er in seiner Suite und war sich unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte.

Aus dem Anzug musste er auf jeden Fall raus, so viel stand fest, denn trotz Klimaanlage schwitzte er sich halbtot. Seine Hände wanderten unter den Krawattenknoten, doch was normalerweise ein Akt von Sekunden war, zog sich heute hin. Das verdammte Ding wollte sich einfach nicht lösen! Aus einem Anflug von Nervosität heraus begann er, daran zu zerren und zu reißen, aber das verschlimmerte es nur noch. Ihn überkam regelrechte Panik, als er meinte, den Knoten noch fester gezogen zu haben. Die Krawatte schien ein Eigenleben zu entwickeln und ihn erwürgen zu wollen. Erst der Blick in den Spiegel brachte ihn wieder auf den Boden der Vernunft zurück und er riss sich den Stofffetzen erleichtert vom Hals.

Solche Panikattacken suchten ihn nur selten heim, aber wenn, dann trafen sie ihn mit voller Wucht. Chantal hatte gemeint, das könnte mit seinem ungesunden Lebensstil zusammenhängen. Wenn es etwas gab, das er noch mehr hasste als schlechten Whisky, dann waren das Seelenklempner. Aber auch zu richtigen Ärzten hatte er nur bedingt Vertrauen.

Als er sich auszog, versuchte er, den obligatorischen Blick in den Spiegel zu vermeiden. Er wusste, wie gut er aussah und dass sich das harte Training auszahlte. Das Einzige, was ihm ein Blick in den Spiegel also gebracht hätte, wäre Bestätigung gewesen, und die führte nur dazu, dass er sich noch ungesünder ernährte. Nur weil er vor Jahren mit dem Joggen und anderen Ausdauersportarten angefangen hatte, lagerten die Folgen seines nicht unerheblichen Alkoholkonsums noch tief unter seiner Haut, wo sie bisher nur Ultraschalluntersuchungen zutage fördern konnten. 20 Prozent Aufhellungen an der Leber hatte ihm der Arzt bescheinigt und zu einer ausgeglicheneren Lebensweise geraten. Einen Whisky weniger am Tag hatte Shane daraus gemacht und sich sogar daran gehalten.

Er sprang unter die Dusche, das half ihm meistens, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Angenehm temperiertes Wasser schoss aus unzähligen Düsen in den Wänden und in der Decke und massierte seine Haut. Ein Prozessor errechnete mit Hilfe von optischen Sensoren die Körpergröße der duschenden Person und regulierte dementsprechend den Wasserdruck an empfindlichen Körperstellen wie den Augen oder dem Mund. Technik, die in ihrer Ausgereiftheit beeindruckte, der Dekadenz aber die Krone aufsetzte.

Dasselbe galt auch für den Rest der Suite. Sie ließ keine Wünsche offen. In dem Wohnbereich mit Flachbildfernseher, Eckcouchgarnitur und Minibar hätten wahrscheinlich zwanzig Kinder dieses armen Kontinents Platz gefunden, die sich stattdessen in winzigen Wellblechhütten zusammenquetschen mussten. Aber daran wollte Shane erst gar nicht denken. Er war hier, um den Aufenthalt zu genießen und nicht, um sich über Armutszustände in der Dritten Welt den Kopf zu zerbrechen.

Er trocknete sich ab und ging hinüber ins Schlafzimmer, das auf die Oase ausgerichtet war und eine umwerfende Aussicht auf die Seenlandschaft bot. Falls die Sonne tagsüber zu grell hereinschien, konnte man die Scheiben per Knopfdruck verdunkeln.

Shane legte seine Wertgegenstände in den Safe und warf noch einen raschen Blick auf sein Smartphone. Er hatte versucht, Chantal zu erreichen, aber es war niemand rangegangen – sie hatte auch keine Nachricht hinterlassen.

Es war schon eigenartig – nachdem sie ihn hintergangen hatte, hatte er erst nur Verachtung für sie übrig gehabt, doch jetzt, wo es endgültig vorbei war, ergriff eine Sehnsucht von ihm Besitz, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte. Das Einzige, womit er sie in all den Jahren betrogen hatte, waren seine Arbeit und der Alkohol gewesen.

Shane verjagte abrupt seine Gedanken – das war ein ganz schlechtes Thema, vor allem dann, wenn er angetrunken war. Er musste unbedingt heraus aus der Einsamkeit dieses Zimmers.

In kurzer Hose und Polohemd machte er sich zurück auf den Weg in die Gesellschaft. Er konnte grundsätzlich nie lange an ein und demselben Ort verweilen, ein innerer Drang zog ihn beständig weiter.

Die Empfangshalle lag wie vor zwei Stunden leer und verlassen da, nur dass jetzt ein altmodischer Gepäckwagen vor der Rezeption stand, der in Shane nostalgische Gefühle aufkommen ließ. Er liebte diesen Charme der Vorkriegsjahre des vergangenen Jahrhunderts.

Als er sich dem Tresen näherte, schoss plötzlich eine junge Frau mit blonden Haaren und sanften, ebenen Gesichtszügen dahinter hervor. Shane war versucht, sich wie ein Gentlemen zu benehmen und sich ihr vorzustellen, doch wie so oft übernahm stattdessen die kindliche Seite in ihm die Kontrolle über sein Handeln. Er räusperte sich affektiert.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes? Ich lasse den Sicherheitsdienst rufen, wenn Sie sich nicht erklären.«

Welcher Teufel ihn nur immer wieder ritt, wenn er solche albernen Bemerkungen machte!

Wie nicht anders zu erwarten, fuhr sie zu ihm herum und taxierte ihn mit einem bohrenden Blick. »Und Sie sind?« Ihre Stimme klang misstrauisch, aber nicht feindselig.

»Der Hotelmanager! Wenn Sie mir angekündigt worden wären, hätte ich selbstverständlich jemanden vom Service beauftragt, sich um Ihr Gepäck zu kümmern.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.« Sie prustete los vor Lachen, was in Shane augenblicklich ein Gefühl von Sympathie weckte. Es war ein unbedachtes, nicht auf Gesellschaftsfähigkeit getrimmtes Lachen und deswegen mochte er es. Auch wie sie sich ansonsten präsentierte, gefiel ihm: Sie war dezent geschminkt, hatte einen unaufdringlichen Lippenstift aufgelegt und trug helle sommerliche Kleidung.

»Der Hotelmanager, soso. Ich hatte mir Miss Ling immer attraktiver vorgestellt.«

Es war ersichtlich, dass sie sein Spiel durchschaut hatte, und Shane war froh, dass sie nicht zu der Sorte Frau gehörte, die zum Lachen in den Keller ging.

»Estella Meinhard.« Sie reichte ihm über den Tresen die Hand.

»Shane O’Brien. Wenn Sie jetzt nicht wissen, wer ich bin, fühle ich mich ernsthaft gekränkt.«

»Oh, natürlich! Willkommen, Mr. O’Brien. So früh hätte ich Sie nicht erwartet, nachdem, was ich über Sie gehört habe.«

»Was haben Sie denn über mich gehört?«, fragte er.

»Man sagt, dass Sie ein Talent dafür hätten, auf den letzten Drücker zu erscheinen.« Sie nahm kein Blatt vor den Mund, noch eine Eigenschaft, die Shane bei Frauen zu schätzen wusste.

Er fand, dass ein Lob angebracht wäre. »Eine überwältigende Anlage! Waren Sie am Bau beteiligt?«

»Nein, ich bin die Forschungsleiterin unseres deutschen Mutterkonzerns. Womit scheinbar das Privileg verbunden ist, mir die Schlüssel selber holen zu dürfen.«

Wenn sie jetzt noch dem einen oder anderen Schlückchen nicht abgeneigt wäre, ja dann wäre sie perfekt, dachte Shane, auf den ein gesundes Maß an Sarkasmus so belebend wirkte wie die erste Tasse Kaffee am Morgen. »Kann ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?«

»Nein, danke. Dafür werde ich lieber das Personal bemühen.«

»Wie wäre es dann mit einem Drink?«, schlug er vor. »Ein Swimming Pool wäre jetzt genau das Richtige, passend zum Farbton Ihrer Augen und der unsäglichen Hitze da draußen.«

»Halten Sie mich etwa für eine reiche Millionärsgattin, die sich von so was bezirzen lässt? Mal im Ernst: Augen wie ein Swimming Pool!« Sie verdrehte selbige, also die Augen.

»Bitte verzeihen Sie mir meine Ausdrucksweise, mir scheint wohl die Hitze zu Kopf gestiegen sein«, zog er sich geschickt aus der Affäre.

»Hey, wie wäre es mit morgen?«, fragte sie, als er sich schon zum Gehen wenden wollte.

Die Schlacht war also noch nicht verloren.

»Ich nehme Sie beim Wort«, sagte Shane, kehrte ihr den Rücken zu und ging davon. Er wusste, wann ein starker Abgang gefordert war und konnte förmlich spüren, wie sie ihm entgeistert hinterherschaute.

Als er außer Sichtweite war, blieb er kurz stehen, um zu überlegen, was er als Nächstes machen könnte. Allein an die Bar zu gehen war keine Option, und so entschloss er sich, auf eigene Faust ein wenig das Gelände zu erkunden. Dass sich niemand auf den Gängen aufhielt, kam ihm dabei sehr gelegen. Je weniger Leute ihn behelligten, desto ungestörter konnte er herumschnüffeln.

Er ging am Kinosaal vorbei und kam zu einer Abzweigung, die gefühlsmäßig von der Hotelanlage wegführte – also genau in die Richtung, in die er wollte. Durch die Fenster sah er einen langen, schwach beleuchteten Verbindungstunnel, der hinüber zum Firmenkomplex führte, wo er die Laboratorien und das Kontrollzentrum der Solarstromanlage vermutete. Niemand hatte ihm explizit verboten, das Hotel zu verlassen, und so schlüpfte er durch die halb angelehnte Flügeltür und machte sich auf den Weg zur anderen Seite. Draußen brach soeben die Dämmerung herein.

Shane hatte kaum die Hälfte der Strecke hinter sich gelegt, als vor ihm plötzlich ein Mann in mitternachtsblauem Anzug auf den Korridor trat und ihm den Weg versperrte. »Kann ich Ihnen helfen, Sir? Dieser Bereich ist für Gäste gesperrt.«

Der Mann überragte Shane um einen Kopf und seine Stimme war von einer solchen Tiefe, dass man sie leicht mit dem Brummen eines Generators hätte verwechseln können. Er musste um die Vierzig sein, hatte ein breites kantiges Gesicht und dunkelblondes bis hellbraunes Haar, das sich an den Ecken bereits zu lichten begann. Mit seinem schmalen, säuberlich gestutzten Schnurrbart erinnerte er auf beunruhigende Weise an einen Tartar, und seine in Falten gelegte Stirn zeugte von unverhohlenem Misstrauen.

»Entschuldigen Sie bitte, das war mir nicht bewusst. Das entsprechende Hinweisschild muss ich wohl übersehen haben. Ich wollte mich eigentlich nur ein wenig mit der Anlage vertraut machen. Shane O’Brien, Future Economy.«

»Bill Fritzsch, ich bin der Sicherheitschef.« Mit seinem Händedruck brach er Shane fast die Knochen, und dieser konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich dabei mehr um eine Machtdemonstration denn um Unachtsamkeit handelte. »Die Kameras sehen Sie überall«, fügte der Hüne mit schiefem Grinsen hinzu und deutete auf ein fast unsichtbares Loch in der Decke.

Shane musterte die etwa haselnussgroße Linse und freute sich über die interne Information, die ihm der Sicherheitschef höchstpersönlich so bereitwillig zugespielt hatte. Möglicherweise konnte er ihm noch weitere Interna entlocken und so mehr über die ungewöhnlichen Vorkommnisse in Erfahrung bringen, die Ling vorhin während ihres emotionalen Ausbruchs unbedachterweise erwähnt hatte. Ihr Gesichtsausdruck ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte ernsthaft mitgenommen gewirkt. An dem Ganzen war womöglich mehr dran, als es zu diesem Augenblick den Anschein hatte.

Er musste sich auf jeden Fall Gewissheit verschaffen, ob die Anschuldigungen gegen die Nomaden gerechtfertigt waren – seine Aufgabe bestand schließlich darin, das Konzept und die Umsetzung dieser Anlage auf Herz und Nieren zu prüfen. War die Technik des PECS-Kraftwerks unausgereift und Hawkes Enterprises versuchte nun, die Schuld abzuwälzen, würde er das in seinem Artikel erwähnen. Er fühlte sich nämlich in erster Linie seinen Lesern verpflichtet, die aus seinen Artikeln Rückschlüsse auf das Investitionspotential bestimmter Unternehmen zogen.

Als Wirtschaftsjournalist besaß er gewisse Ähnlichkeit mit einem privaten Ermittler. Statt ein Thema nur oberflächlich anzukratzen und wohlwollend darüber zu berichten, drang er oft tief in die Materie ein und förderte dabei nicht selten pikante Details zu Tage, die ein vollkommen anderes Licht auf bestimmte Sachverhalte warfen. Dabei kam man unweigerlich mit Wirtschaftskriminalität in Berührung – die Recherche ging dann nahtlos in das Sammeln von Beweisen über.

Shane hatte gehofft, dass es in diesem Fall nicht so weit kommen würde – das Projekt war wirklich vielversprechend –, doch hatte er einmal Witterung aufgenommen, gab es kein Zurück mehr. Er beschloss, den Sicherheitschef ein wenig auszuquetschen.

»Es ist wirklich ein glücklicher Zufall, dass ich Sie noch vor Beginn der Präsentation treffe. Ich würde nämlich gern mehr über Ihren Arbeitsbereich erfahren. Sie müssen wissen, ich bin Journalist und es gehört zu meinen Aufgaben, eine gründlich ausrecherchierte Reportage über die Anlage zu verfassen. Dabei möchte ich selbstverständlich auf alle Aspekte eingehen. Ein Blick hinter die Kulissen der Sicherheit wäre bestimmt überaus aufschlussreich, schon deshalb, weil geplant ist, künftig Angebote für Touristen einzurichten.«

»Dagegen gibt es im Prinzip nichts einzuwenden«, entgegnete Fritzsch nachdenklich, »aber ich muss zuerst mit Miss Meinhard Rücksprache halten.« Er wirkte nervös, obwohl es dafür keinen erkennbaren Grund gab.

»Wie praktisch, dass ich mich gerade ausführlich mit ihr unterhalten habe«, behauptete Shane dreist. »Sie hatte keine Einwände und auch Miss Ling verwies mich an Sie.« Mit dieser Halbwahrheit bewegte er sich auf sehr, sehr dünnem Eis, und er konnte nur inständig hoffen, dass es nicht auf der Stelle unter ihm nachgab.

Fritzschs Gesichtszüge entspannten sich. »Naja, man wird Sie schon nicht ohne Grund eingeladen haben«, meinte er und deutete mit einer knappen Geste auf eine graue Stahltür. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Sicherheitszentrale. Die neue Schicht hat gerade begonnen, es sollte also nicht viel los sein.«

Er öffnete die Tür und führte Shane in ein geschmackvoll eingerichtetes Büro, das durch eine Glaswand vom Rest der Zentrale abgetrennt wurde. Shane stellte sich vor, wie der Sicherheitschef hier saß, die Arme verschränkt, die Beine auf den Schreibtisch gelegt, und seine Mitarbeiter überwachte.

Shane ging ganz nah an die Glasscheibe heran und ließ seinen Blick schweifen. Was er sah, hätte einem Science Fiction-Film entsprungen sein können: Vor einer überdimensionierten Monitorwand, in der bestimmt mehr als vierzig Bildschirme verankert waren und von der ein einschläferndes, dunkelgrünes Leuchten ausging, saßen junge Männer und Frauen in einheitlichen schwarzgrauen T-Shirts und prüften die Anzeigen. Es sah aus wie auf der Brücke eines Raumschiffs.

»Sie haben hier keine Kosten gescheut, was?«

Der Sicherheitschef lächelte. »Sehen Sie den großen Tisch in der Mitte des Raums?«

»Sie meinen dieses futuristische Gebilde?«

»Ja. Das ist eine taktische Konsole, das Neueste, was die Sicherheitstechnik zu bieten hat.«

Shane ließ sich seine Überraschung nicht zu sehr anmerken, aber damit hatte er in der Tat nicht gerechnet. »Darf ich?«, fragte er und deutete auf die Tür zur Zentrale.

»Bitte, nur zu«, erwiderte Fritzsch. »Dafür sind wir ja jetzt hier.«

Als Shane die Zentrale betrat, wurde er von einem unangenehmen monotonen Summen empfangen, das von den elektronischen Geräten herrührte und einem durch Mark und Bein ging. Wie konnten sich die Mitarbeiter bei dieser Geräuschkulisse nur konzentrieren? Er hätte es keine zehn Minuten hier drinnen ausgehalten.

Fritzsch übernahm die Führung. Stolz schritt er an der Konsole entlang und fuhr mit den Fingern über den Rand. Der Bildschirm, ein Touchscreen mit selbstreinigender Oberfläche, maß ein Meter mal anderthalb Meter, hatte eine gestochen scharfe Auflösung und war horizontal auf einem Betonsockel montiert. Im Moment zeigte er eine topografische Darstellung des Geländes.

»Das Besondere an dieser Station ist, dass wir über einen Uplink auf einen Satelliten des Bundesnachrichtendienstes zugreifen können«, erklärte Fritzsch. »Das erleichtert uns zum einen die Lokalisierung defekter Kollektoren, zum anderen das Aufspüren potentieller Gefahrenquellen. In Kombination mit den Infrarot- und Bewegungsmeldern im Außenbereich ist somit eine lückenlose Überwachung der Anlage möglich.«

Shane war da skeptisch. »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber wenn der Satellit vom Bundesnachrichtendienst genutzt wird, ist er doch nicht die ganze Zeit auf die Anlage ausgerichtet.«

Fritzschs Miene verfinsterte sich. Er hatte offenbar nicht erwartet, dass Shane diesen misslichen Umstand erwähnen würde.

»Nein, Sie irren sich nicht. Es ist in der Tat so, dass wir die Nutzung des Satelliten anmelden müssen. Jeder neue Verbindungsaufbau dauert dreißig Minuten.«

Shane beließ es dabei und nickte freundlich. Er wollte es sich mit Fritzsch nicht verscherzen. Zumindest nicht, solange er Informationen aus ihm herausholen konnte.

»Nehmen wir einmal an, es käme zu Handgreiflichkeiten: ein Ehepaar im Streit, eine eifersüchtige Freundin …«, deutete Shane schmunzelnd an. »Wie lange würde es dauern, bis Ihre Sicherheitskräfte eingreifen könnten?«

»Das hängt davon ab, wo sie gebraucht werden. Spätestens aber nach 120 Sekunden. So lange brauchen meine Männer, um den entferntesten Sektor zu erreichen.«

»Wie viele Sektoren gibt es insgesamt?«

»Zwölf«, sagte Fritzsch. »Wollen Sie einen Blick auf die Überwachungskameras werfen?«

Shane überging den diskreten Hinweis, er möge aufhören, sein Gegenüber mit Fragen zu löchern, und fuhr ungeniert fort.

»Wie sieht es mit dem Wissenschaftskomplex aus? Dort herrschen doch sicherlich strengere Sicherheitsvorkehrungen.«

»Tut mir leid«, wiegelte Fritzsch ab, »aber ich darf Ihnen diesbezüglich keine weiteren Auskünfte geben.«

Shane, der bereits mehr erfahren hatte, als er sich jemals zu erträumen gewagt hätte, lenkte besänftigend ein. »Das verstehe ich natürlich. Fühlen Sie sich bitte nicht unter Druck gesetzt. Aus mir spricht nur meine journalistische Neugier.«

Insgeheim überlegte er, wie er am besten auf sein eigentliches Interesse zu sprechen kommen könnte. Es war eine Gratwanderung, denn wenn er zu offenkundig vorging, würde Fritzsch misstrauisch werden und die Chance wäre vertan.

In diesem Moment knackte ein Lautsprecher und die aufgeregte Stimme einer jungen Frau war zu hören. »Johnson an Fritzsch. Bitte melden Sie sich.«

Der Sicherheitschef zückte sein Funkgerät und öffnete den Kanal. »Hier Fritzsch, sprechen Sie, Johnson.«

»Wir … haben hier etwas gefunden, Sir. Es wäre besser, wenn Sie sich das ansehen.«

Beunruhigung zeichnete sich auf Fritzschs Gesicht ab, und seinem Verhalten nach zu urteilen, erlebte er diese Situation nicht zum ersten Mal. »Verstanden, Johnson, ich bin auf dem Weg!« Der Hüne war bereits an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. »Entschuldigen Sie, Mr. O’Brien, aber die Pflicht ruft. Soll ich Sie hinausbegleiten?«

»Keine Sorge, ich finde schon selbst raus.«

Fritzsch nickte Shane kurz zu und stürmte aus dem Raum.

Shanes Nackenhärchen stellten sich in freudiger Erwartung auf. Vorausgesetzt, er ging geschickt vor, bot sich ihm jetzt die einmalige Gelegenheit, nach Hinweisen zu suchen.

In unmittelbarer Nähe hielten sich im Moment lediglich zwei Sicherheitskräfte auf. Einer von ihnen schaute kurz hoch, um Shane zu mustern. Dieser zweifelte nicht daran, dass sie ein Auge auf ihn haben würden, denn Fritzsch hatte ihn nur deshalb alleine zurückgelassen, weil er sich vollkommen auf seine Männer verließ. Doch Shane hatte vor, gerissener als sie zu sein.

Beiläufig schlenderte er auf einen Kaffeeautomaten zu, der gegenüber von Fritzschs Schreibtisch stand. »Ich nehme mir nur einen Becher und dann bin ich weg«, rief er dem Mann zu, der ihn aufmerksam, aber nicht sonderlich interessiert beobachtete. Die Begründung schien ihm zu genügen und er wandte sich wieder dem Geschehen auf dem Monitor zu.

Shane atmete erleichtert auf. Die erste Hürde war genommen, und während er die Liste der Heißgetränke überflog, legte er sich im Kopf die Orte zurecht, an denen er als Erstes suchen würde. Fritzschs Computer oder die akribisch sortierten Aktenordner im großen verglasten Wandschrank schieden von vornherein aus, das wäre zu auffällig, doch es gab noch andere Möglichkeiten. Aus Erfahrung wusste Shane, dass Telefonnotizen, Terminplaner und bekritzelte Schreibtischunterlagen wahre Fundgruben für Anhaltspunkte aller Art sein konnten.

Er bestellte einen Latte Macchiato, damit das Gerät für eine Weile beschäftigt war, und ging unauffällig zum Schreibtisch, der noch penibler aufgeräumt war als der Aktenschrank. Bis auf einige Berichte und Materiallisten konnte Shane auf Anhieb keine weiteren Unterlagen entdecken, weshalb er sich gleich der Schreibtischunterlage zuwendete. Wie er gehofft hatte, war Fritzsch nicht nur ein ordnungsliebender Mensch, er ging auch auf Nummer sicher, indem er selbst unwesentliche Gedankengänge schriftlich festhielt.

Shane verfügte über eine hohe Merkfähigkeit. Sein Gedächtnis galt als eidetisch, was sich auch mit zunehmendem Alter kaum geändert hatte und ihm hier und jetzt sehr von Nutzen war.

Konzentriert blieb er für einen kurzen Moment an einer auf die Schnelle dahingekritzelten, aber nahezu perfekten Zeichnung hängen, die Fritzsch am Rand der Unterlage hinterlassen hatte. Sie zeigte ein kleines Mädchen in der Umgebung der Oase. Fritzschs Tochter? Jedenfalls hatte der äußerlich grobschlächtige Sicherheitschef Talent. Wie leicht man sich doch in den Menschen täuschen konnte!

Neben der Zeichnung standen ein paar kurze Sätze:

Trojaner wurde aus dem System entfernt. Nach Serverupdate wieder fehlerfrei. Stephen trotzdem besorgt: Server nicht am Internet. Woher Trojaner?

Shane blickte nachdenklich auf die handgeschriebenen Zeilen. Ein Trojaner im Netzwerk der Anlage? Das war in der Tat besorgniserregend – wenn man bedachte, dass die Server höchstwahrscheinlich durch komplexe Firewalls und entsprechende Schutzprogramme gesichert wurden. Wie konnte also Malware in das System gelangen?

Trojaner waren Schadprogramme, die sich im Gegensatz zu Viren nicht reproduzierten und größtenteils absichtlich ins System eingeschleust wurden. Der Virus legte durch seine Vervielfältigung den Computer lahm, der Trojaner operierte dagegen im Hintergrund, indem er Backdoor- oder Spionageprogramme schuf.

Während Shane den Hinweis gedanklich verarbeitete, wanderte sein Blick zu einer herkömmlichen Pinnwand aus Kork, die an der Wand rechts neben Fritzschs Workstation hing. Die bunten Zettel, teils übereinander gepinnt, erinnerten ihn an einen Baum, was der äußerst kreative Fritzsch mit dieser Anordnung wahrscheinlich auch bezweckt hatte. Es musste schwer für ihn sein, einer verhältnismäßig eintönigen Arbeit nachzugehen, die ihm keine Möglichkeit bot, seine ausgeprägte künstlerische Ader auszuleben.

Ein roter Zettel in der Mitte des Baums stach aus der Masse hervor. Neben einer Telefonnummer, die Landesvorwahl gehörte zu Kanada, standen wieder einige Notizen:

Materialversagen unwahrscheinlich. Kabelbrände werden hauptsächlich durch defekte Sicherungen verursacht. Speed Cable Inc. liegen keine Vergleichswerte vor. Sollen Verteilerkästen überprüfen!

Allmählich dämmerte Shane, wofür man die Nomaden verantwortlich machen wollte und warum Ling von ihrer Unschuld überzeugt war. Erst ein Trojaner-Befall im Computernetzwerk, dann defekte Teile in den PECS-Modulen – das war ganz sicher nicht die Handschrift technikverachtender Wüstenbewohner.

»Ihr Kaffee wird kalt!« Ertappt zuckte Shane zusammen, fing sich aber sofort wieder und drehte sich mit dem unschuldigsten Lächeln, das er zustande bringen konnte, zu seinem Gegenüber herum. »Oh, ich war ganz in Gedanken. Der Jetlag, wissen Sie?«

Der junge Sicherheitsmann fixierte ihn aus schmalen, dunkelbraunen Augen. Noch wirkte er lediglich misstrauisch, aber das konnte schnell in Feindseligkeit umschlagen, sobald ihm klar wurde, dass Shane sich unerlaubt Einsicht in vertrauliche Unterlagen verschafft hatte. Höchste Zeit, zu verschwinden!

Mit einem dankbaren Nicken nahm Shane dem Sicherheitsmann den Kaffeebecher aus der Hand und wandte sich zum Gehen. »Ich werde mich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Kaffee ist das beste Einschlafmittel.«

Während er den Rückzug antrat, spürte er den wachsamen Blick des jungen Mannes in seinem Rücken. Ob der Verdacht geschöpft hatte? Shane konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber von nun an musste er sehr vorsichtig sein. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.

Kalte Zukunft

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