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Kapitel 16

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Die Welt verschwamm vor Shanes Augen. Wie ein großer, milchiger Haufen lag sie vor ihm – besser gesagt: über ihm. Er nahm undeutlich wahr, wie sich der Fremde zu ihm herabbeugte; zwischen der trüben Masse, die sein Körper sein musste, blitzte etwas auf. Etwas Goldenes, klein, aber doch von Bedeutung. Ja, es war eine Goldkrone, da war sich Shane sicher.

Wie in einem Déjà-vu zog ein bereits durchlebtes Ereignis an ihm vorbei. Es war noch gar nicht so lange her …

Die Goldkrone in seiner verwaschenen Erinnerung gehörte dem jungen arroganten Assistenten von David Meier. Viele Menschen trugen solche Goldkronen, doch sein sechster Sinn beharrte auf dem jungen Mann. Wie war doch gleich sein Name? Dirk Wagner? Jedenfalls beugte sich Wagner, so er es denn war, in diesem Augenblick über ihn und streckte die Hand nach ihm aus, und das ganz bestimmt nicht, um ihm aufzuhelfen.

Shane mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und rollte sich schwungvoll zur Seite, wobei er aus Versehen, aber doch wirkungsvoll Wagners Knie erwischte. Allmählich ließ auch der Schwindel nach; der Schlag hatte nicht ausgereicht, um ihn für längere Zeit bewusstlos zu halten. Zu seiner Überraschung ergriff Wagner die Flucht – völlig unerwartet, denn Shane kannte ja nun die Identität seines Angreifers. Der Mann war entlarvt und konnte nirgendwo hin.

Shanes Gehirnzellen begannen zu arbeiten. Hinter dem Ganzen steckte mehr als nur ein einfacher Brand, mehr noch als ein Sabotageakt. Was war Wagners Rolle in diesem abgekarteten Spiel?

Fritzsch zufolge hatte es bereits lange Zeit vor der Ankunft des Assistenten Probleme in der Anlage gegeben. Wagner schied für die Sabotage also aus. Doch aus welchem Grund war er sonst hier? War Meier ebenfalls involviert oder handelte Wagner auf eigene Faust? Shane würde es herausfinden, koste es, was es wolle!

Er kam sich vor wie in einem Spionageroman, nur dass er mittendrin war, statt gut behütet hinter den Seiten. Trotz des überwältigenden Schwindelgefühls und des Pochens hinter seiner Schläfe rappelte er sich auf. Er steckte zu tief in dem Ganzen mit drin, als dass er es sich jetzt noch hätte erlauben können, aufzugeben. Nicht nachdem ihm dieses Arschloch von Wagner fast das Licht ausgeknipst hätte. Die Situation hatte jetzt etwas Persönliches, und Shane lachte grimmig, als er auf den Ausgang des Kontrollzentrums zu stolperte. Meier hatte seine Drohung von gestern wahrgemacht und ihm seinen Assistenten auf den Hals gehetzt. Zu Schade, dass er nicht hatte zu Ende bringen können, womit er begonnen hatte. Schade für Meier! Shane schwor sich, ihm die Eingeweide rauszureißen, wenn er die nächsten Minuten überlebte. Hustend trat er auf den Gang vor dem Kontrollzentrum hinaus.

In welche Richtung war Wagner gelaufen? Den Glastunnel zurück zum Hotel konnte er schwerlich genommen haben. Welche Möglichkeiten gab es noch? Nur die Büroräume! Alle anderen Wege führten unweigerlich nach draußen, wo noch immer Brände wüteten.

Wagner hatte etwas gesucht – oder jemanden? Shane blickte flüchtig zu dem verkohlten Leichnam. War Wagner für den Tod des Technikers verantwortlich? Die Stelle, an der das Starkstromkabel beim Opfer angesetzt worden war, wirkte sehr punktuell, was darauf hindeutete, dass es absichtlich am Nacken, dort wo der Hirnstamm saß, angesetzt worden war. Indes nur eine Vermutung, die womöglich niemals bewiesen werden würde.

Mit noch immer pochenden Schläfen nahm Shane die Verfolgung auf: raus aus dem Kontrollzentrum, die Treppe hoch und nach rechts. In der Eile und durch den unerwarteten Zweikampf hatte er Fritzsch völlig vergessen, jetzt kam ihm der Sicherheitschef wieder in den Sinn. Ob Fritzsch etwas zugestoßen war? Wagner war schließlich alles zuzutrauen.

Shane fand sich in einem steril anmutenden und verlassenen Flur wieder, der durch einfallendes Sonnenlicht erhellt wurde. Mehrere eingefärbte Dachfenster befanden sich direkt über ihm. Die neue Umgebung bot einen starken Kontrast zum undurchdringlichen Halbdunkel des Kontrollzentrums.

Augenblicklich fühlte sich Shane wohler, selbstsicherer.

Alle Türen waren verschlossen, bis auf eine. Shane hatte das dumpfe Gefühl, dass das, wonach Wagner so dringend zu suchen schien, dahinter verborgen lag.

Der Rauch war weitestgehend durch die Filteraggregate entfernt worden, doch die Luft roch noch immer bitter und brannte in der Nase. Allzu lange durfte man sich auch dieser geringen Schadstoffkonzentration nicht aussetzen.

An jeder der Türen war ein kleines in Plastikschild mit dem Namen und der Position des Mitarbeiters, der den jeweiligen Raum bewohnte, angebracht. Auf der rechten Seite lagen ausnahmslos Wohnquartiere, bestimmt auch das des toten Technikers. Shane verlangsamte seinen Schritt, um den Rest der Strecke lautlos zurückzulegen. An die Wand gepresst tastete er sich langsam vor.

Auf einem der Schilder stand: Yusuf Bagdshira, Techniker. Die Tür war nur angelehnt.

Shanes Puls stieg rasant in die Höhe. Falls sich Wagner in dem Quartier aufhielt, lief er unter Umständen direkt in eine Falle.

Aber er war nicht so weit gekommen, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

Ohne einen weiteren Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, stürmte Shane in das Quartier – doch statt Wagner beim Durchsuchen zu überraschen, blickte er nur in ein leeres, wenn auch chaotisches Zimmer. Bücher waren aus den Regalen gerissen worden, Speicherdiscs lagen hüllenlos auf dem Boden und auch das restliche Mobiliar war offensichtlich auf den Kopf gestellt worden. Wagner war zweifelsohne hier gewesen und höchstwahrscheinlich hatte er auch gefunden, wonach er gesucht hatte.

Wie hatte er nur geschafft, alles innerhalb weniger Minuten so gründlich zu durchforsten? Gedankenverloren hob Shane eine der zwei Zoll großen und grünlich schimmernden Discs auf, die in diesem Fall wohl, wie der Titel verriet, Lehrmaterial einer Universität enthielt. Dabei trat er versehentlich auf eine weitere Disc, die aber glücklicherweise weder zersprang noch sonstige Beschädigungen aufwies. Die Discs, die unter der Bezeichnung ›Laser Data‹ auf den Markt gekommen waren, hatten mittlerweile sämtliche Speichermedien, die es vorher gegeben hatte, abgelöst. Im Vergleich mit älteren USB-Sticks oder der guten alten DVD bestachen sie vor allem durch ihre fast absolute Robustheit. Weder Wasser, Hitze, Kälte, noch Stöße oder sogar schwere Belastungen wie Shanes Fußtritt konnten einer solchen Disc etwas anhaben. Vor allem deswegen hatte sie sich auf dem Markt durchgesetzt und nicht, wie einstmals vermutet, die schmalen Sticks.

Shane drehte sich um, bereit, den Raum wieder zu verlassen - doch neben der Tür, in einem toten Winkel, stand lässig angelehnt Dirk Wagner. In seiner rechten Hand hielt er einen futuristisch anmutenden Gegenstand, sehr wahrscheinlich eine Waffe. Sie war aus mehreren Stücken verschiedener Materialien zusammengesetzt und überaus eindrucksvoll. Ihr Lauf deutete direkt auf Shanes Brust.

»Ich hoffe, Ihre Neugier ist nun befriedigt. Ein Mann wie Sie stirbt doch sicherlich nicht gerne mit dem Gefühl, das Wichtigste verpasst zu haben«

Shane war zu geschockt, um auf Wagners Drohungen zu reagieren. Er hatte sich tatsächlich in Sicherheit gewägt, nicht damit gerechnet, dass ihn Wagner die ganze Zeit aus einem Schlupfwinkel beobachtete. Der Deutsche war in seine Muttersprache verfallen.

»Im Kontrollzentrum habe ich Sie verschont, Sie waren keine wirkliche Bedrohung für meinen Auftrag. Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie mich mit Bagdshira in Verbindung bringen! Sie können mir glauben, das Ganze bereitet mir keine Freude. Ich werde Sie nicht unnötig leiden lassen. Jetzt drehen Sie sich um!«

Wagner fuchtelte mit der improvisierten Kanone Marke Eigenbau herum und bedeutete Shane, sich auf das Bett zu setzen, das mit einer hellen Tagesdecke bespannt war. Der Assistent trug eine dunkle Hose aus dünnem Leinenstoff sowie eine dazu passende Strickjacke, aus deren Bauchtasche etwas hervorblitzte – eine Laser Data Disc. Danach hatte Wagner also gesucht, nach einer Disc, die mit ziemlicher Sicherheit brisante Daten enthielt. Doch welche Rolle spielte Yusuf Bagdshira dabei?

»Da sitzen bleiben«, sagte Wagner, während er mit der freien Hand etwas in sein Smartphone tippte. Endlose Sekunden vergingen, in denen Shane seine Chancen, lebend aus der Situation herauszukommen, drastisch schwinden sah. Wagner steckte sein Smartphone in die Hemdtasche und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. »Kommen Sie, wir machen einen kleinen Spaziergang!«

Shane tat wie ihm geheißen. So wie die Dinge lagen, bestand für ihn nicht die geringste Chance, den vermeintlichen Auftragsmörder zu überwältigen. Wagner verstand offenbar sein Handwerk und hielt konstant einen Abstand von mindestens zwei Metern; eine Distanz, die bei Weitem nicht ausreichte, um sich schnell herumzudrehen und seinen Gegner zu entwaffnen. Diese Machtlosigkeit war das Schlimmste an der ganzen Situation: dem Gegner schutzlos ausgeliefert zu sein, den eigenen Tod vorausahnend.

Als sie die nach unten führende Treppe erreichten, spürte Shane unterbewusst die Anwesenheit einer weiteren Person. Ob sich Fritzsch wieder erholt hatte? Wagner schien davon nichts mitzubekommen, immer wieder warf er hektische Blicke auf sein Smartphone. Was ihm kurz darauf zum Verhängnis werden sollte! Als sie die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen hatten, geschah es. Wagner wurde nach vorne gestoßen, überschlug sich und stürzte an Shane vorbei die Treppe hinunter, wobei er gequält aufschrie.

Shane wirbelte herum. Oben, am Treppenabsatz, stand der junge Sicherheitsbeamte, der ihnen vorhin die Schutzausrüstung gebracht hatte. Lässig schwenkte er eine schwere Taschenlampe, die er Wagner von hinten über den Kopf gezogen hatte. Shane, der sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden hatte, atmete erleichtert auf.

Williams grinste ihm stolz zu, merkte jedoch nicht, dass sich Wagner noch regte. Shane sah es kommen, schrie warnend auf, doch Williams war zu langsam. Stöhnend hob Wagner seine Waffe und schoss! Dann sackte er wieder in sich zusammen.

Der Schuss klang kreischend, so wie ein Luftpfeifer in der Silvesternacht, nicht zu vergleichen mit einem Schuss aus einer herkömmlichen Pistole. Das Projektil traf Williams in die Brust und fegte ihn von den Beinen.

Shane eilte zu ihm, riss mit einer einzigen Bewegung seinen Overall entzwei und presste ihn auf die Wunde, doch das Blut quoll erbarmungslos darunter hervor. Die Brust des jungen Mannes und das provisorische Verbandszeug färbten sich dunkelrot. Aus den Mundwinkeln liefen ebenfalls kleine rote Rinnsale. Für Williams kam jede Hilfe zu spät. Sein Körper zuckte noch einige Male, dann wurde er ruhig, unnatürlich ruhig.

Shane konnte seine Tränen nicht zurückhalten, der Schock setzte augenblicklich ein. Hysterisch versuchte er, einen nicht existenten Puls zu fühlen, einen nicht existenten Atem zu spüren, doch da war nichts außer dem tiefen Brummen der Aggregate.

Erst als ein zweites Geschoss dicht neben ihm in den Boden fuhr und den Beton aufspritzen ließ, realisierte er, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Wagner lebte und hatte noch immer, wenn nicht sogar noch entschlossener das Ziel, Shane zu töten.

Auf einer der Treppenstufen blitzte etwas auf: die Disc. Sie musste Wagner aus der Tasche gefallen sein, als ihn Williams attackiert hatte. Shane griff danach, sprang auf und rannte los.

Der schnelle Sprint und die Unterversorgung mit Sauerstoff forderten ihren Tribut. Shane begann zu keuchen. Er wurde langsamer. Verzweifelt warf er im Laufen kurze Blicke über die Schulter, doch von seinem Verfolger fehlte jede Spur. Dann sah er unter sich eine Bewegung. Wagner rannte genau unter dem Glastunnel zwischen den Solarkollektoren hindurch.

Kalte Zukunft

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