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Kapitel 5

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»Meine sehr geehrten Damen und Herren, dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!«, verschaffte sich Estella Meinhard breit lächelnd Gehör.

Die in Smalltalk vertieften Gäste wandten sich ihr zu und verstummten in ihren Unterhaltungen.

»Setzen Sie sich doch bitte!«

Estella deutete auf die gepolsterten Ledersessel mit rotem Brokat. Shane kippte den letzten Rest Champagner noch halbwegs würdevoll herunter und folgte ihrer Anweisung.

»Als Erstes möchte ich Sie noch einmal ganz herzlich im Namen von Hawkes Energy und Hawkes Enterprises begrüßen. Mein Name ist Estella Meinhard, aber Sie haben mich ja bereits beim Empfang kennengelernt. Warum Sie alle hier sind, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern, da ich davon ausgehe, dass Sie unser Einladungsschreiben gelesen haben – oder zumindest Ihre Sekretärinnen!«

Zögerliches Lachen breitete sich in der Bibliothek aus.

»Bevor ich nun weiter auf unser Vorhaben und das Programm der nächsten zwei Tage eingehe, möchte ich Sie noch mit den Projektleitern der Anlage bekannt machen.«

Zwei Männer in Anzug und eine wenig attraktive Frau gehobenen Alters traten vor. Den einen Mann erkannte Shane als Bill Fritzsch, den Sicherheitschef.

»Mister Heckler ist der leitende Wissenschaftler des PECS-Kraftwerks und für alle dortigen Aufgaben verantwortlich«, stellte sie den graubärtigen Mann ganz links vor. Die Gäste schenkten ihm einen kurzen Beifall.

»Danke!«, sagte Heckler verlegen. »Neben dem reibungslosen Ablauf der Anlage beaufsichtige ich unter anderem auch unser technisches Labor, in welchem wir unsere Forschungen zu einer effizienteren Energiegewinnung aus alternativen Quellen betreiben. Der Großteil der Forschung von Hawkes Enterprises findet jedoch in unserem Hauptsitz in Deutschland statt. In den nächsten Tagen werde ich gerne all Ihre technischen Fragen beantworten.«

Wieder Beifall. Nervös trat der Wissenschaftler zurück.

»Nun darf ich Ihnen Mrs. Blinow, die Geschäftsführerin von Sun City vorstellen.«

Shane musterte die pummelige Russin und ertappte sich dabei, wie er sie unwillkürlich mit einem Walrossweibchen verglich und ihr Gesicht in Gedanken um spitze Stoßzähne ergänzte.

»Wie Miss Meinhard bereits erwähnt hat, bin ich die Geschäftsführerin unserer kleinen Stadt in der Wüste und somit hauptsächlich für Ihr Wohlbefinden und das der zukünftigen Besucher verantwortlich. Sollten Sie irgendeinen Wunsch haben, zögern Sie nicht, ihn mir oder Miss Ling mitzuteilen. Im Laufe des heutigen Dinners werde ich Sie mit der Planung unserer zukünftigen Urlaubsanlage vertraut machen.«

»Da werden Sie sich vor Fragen kaum retten können«, kam es aus der Menge. David Meier hatte ein breites, unhöfliches Grinsen aufgesetzt und sah sich Bestätigung suchend um.

Shane war ihm erst zwei- oder dreimal begegnet, aber das Verhalten des Vorstandsvorsitzenden war stets dasselbe: rüpelhaft und abwertend, was auch die eher verhaltenen Reaktionen der anderen Anwesenden erklärte.

»Ich verstehe nicht, wie man auf die Idee kommen kann, eine Urlaubsanlage mitten in der Wüste zu errichten und diese auch noch an ein Kraftwerk zu koppeln. Hier gibt es doch für Touristen rein gar nichts von Interesse. Einen trostloseren Ort habe ich noch nie gesehen.«

»Ich glaube, Sie brauchen eine neue Brille, David«, ergriff Lennard Frank zum ersten Mal das Wort. »Haben Sie denn noch nicht einmal die Zeit gefunden, aus dem Fenster zu schauen?«

Frank spielte natürlich auf die Oasenlandschaft an, doch Meier schien offensichtlich nicht zu wissen, wovon der Privatinvestor sprach – zumindest ließ sein gleichgültiger Ausdruck darauf schließen.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Lennard«, erwiderte er leicht gereizt. Kichern breitete sich aus, was die schlechte Laune des ungemütlichen Geschäftsmannes nur noch verstärkte.

»Beim Dinner können wir uns gerne darüber unterhalten«, sagte Blinow und sorgte damit wieder für Ruhe.

Shane ließ seinen Blick durch die auf antik getrimmte Bibliothek schweifen. Das Höflichkeitsgeplänkel interessierte ihn herzlich wenig. Ob die Bücher echt sind?, fragte er sich mit einem gewissen Amüsement. Aber es wäre wohl ziemlich unangebracht gewesen, Buchattrappen in die Regale zu stellen.

Der Raum wurde durch altmodische Kerzenleuchter mit Glühbirnen erhellt und besaß weder Fenster noch andere Türen als die, durch die sie gekommen waren.

Shane lehnte sich zurück. Die Zeit, die Estella brauchte, um Fritzsch vorzustellen, konnte er dazu benutzen, sich einen Überblick über die anderen Gäste zu verschaffen. Es bereitete ihm immer wieder ein heimliches Vergnügen, andere zu beobachten, wenn diese nicht damit rechneten.

Beispielsweise Thalia Morgan, die bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl und gab sich interessiert, doch wenn man genau hinschaute, konnte man ihre nervös zuckenden Augenlieder erkennen, was ein Zeichen für unruhige Langweile war.

Meier trommelte, ohne einen Hehl aus seiner Nervosität zu machen, auf der Armlehne herum. Ein Wunder, dass er überhaupt erschienen war.

»Dann bedanke ich mich an dieser Stelle für Ihre Aufmerksamkeit und überlasse Sie wieder der Gesellschaft der anderen.« Mit diesen Worten wollte sich Estella Meinhard verabschieden, doch bevor sie den Raum verlassen konnte, erhob sich Shane von seinem Platz.

»Ich hätte vorher noch eine Frage, Miss Meinhard!«

»Ja?«, sagte sie höflich.

»Wir wissen jetzt, wer hier wo das Sagen hat, aber über Sie haben wir noch nichts erfahren. Weshalb übernehmen Sie diese Präsentation, wo Sie doch offensichtlich nicht die Leiterin dieses Projekts sind?«

An ihrer Reaktion konnte Shane erkennen, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Die Frage war natürlich überflüssig, er wusste, wer sie war und was sie hier tat, aber ihn reizte der Versuch, sie dazu zu bringen, noch mehr Details über sich selbst preiszugeben. Im Grunde genommen hatte sie es sich auch selber zuzuschreiben, dass er sie bloßstellte, denn schließlich gebot es die Höflichkeit, ein paar persönliche Eckdaten mit einfließen zu lassen, wenn man sich vorstellte.

»Entschuldigen Sie, das muss mir wohl entgangen sein. Wir Wissenschaftler denken oft außerhalb normaler Maßstäbe«, versuchte sie ihre Nervosität zu überspielen. Gelingen wollte es nicht so recht, aber niemand schien sich daran zu stören. »Ich bin die Forschungsleiterin unseres Mutterkonzerns Hawkes Enterprises. Normalerweise arbeite ich in Deutschland, aber da unser Tochterunternehmen hier in der Sahara das weltweit erste und größte PECS-Kraftwerk eröffnet, habe ich es mir nicht nehmen lassen, die Präsentation persönlich zu übernehmen. Wenn Sie noch mehr über mich erfahren möchten, Mr. O’Brien, schlage ich vor, dass Sie das Dossier lesen, das Sie in den Händen halten!«

Das versetzte Shane einen fühlbaren kleinen Stich in die Magengegend. »Autsch!«, flüsterte er in sich hinein. Aber ihr konsternierter Gesichtsausdruck war es wert gewesen! Derartige Sticheleien waren es, die ihm zu seinem geteilten Ruf verholfen hatten.

Die Gäste erhoben sich und fanden sich zu Grüppchen zusammen, um die vorangegangenen Gespräche wieder aufzunehmen. Estella warf Shane von der anderen Seite des Raums einen beleidigten Blick zu. War das eine Aufforderung? Gemächlich schlenderte er in ihre Richtung, schüttelte Meier, Morgan und Lennard die Hand und begrüßte deren Frauen mit einer leichten Umarmung.

Ein junger Mann, schätzungsweise um die Fünfundzwanzig, musterte ihn verstohlen von der Seite. Shane wusste nicht, wer er war, verspürte jedoch von Anfang an eine natürliche Abneigung gegen ihn. Trotzdem wagte er den Sprung in die Offensive und ging auf ihn zu.

»Sind wir uns schon einmal begegnet? Ich habe ein furchtbar schlechtes Gedächtnis. Shane O’Brien …« Er streckte ihm die Hand entgegen. Der Mann zögerte, griff dann jedoch zu.

»Dirk Wagner. Ich bin der persönliche Assistent von Herrn Meier«, sagte er in gebrochenem Englisch. »Und nein, wir sind uns noch nicht begegnet.«

Shane verabschiedete sich höflich und zog, sobald er außer Reichweite war, eine hässliche Grimasse.

»Ja, er ist wirklich etwas unangenehm«, sagte Meinhard, die sich unbemerkt an ihn herangepirscht hatte. »Er ist ein bisschen wie Sie, finden Sie nicht?«

»Oh, ich bitte Sie! Ich habe wenigstens Stil, was man von diesem … Individuum da nicht behaupten kann.«

Sein Kommentar brachte sie zum Lachen. »Da wir uns noch nicht lange kennen, würde ich nicht so weit gehen, Sie als überheblichen Kotzbrocken zu bezeichnen …«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Shane mit schiefem Grinsen.

»Was ich eigentlich nur sagen wollte, ist, dass Sie eine ganz spezielle Art haben«, beendete Estella den unterbrochenen Satz.

»Ich nehme das mal als Kompliment. Sagen Sie, kommt es oft vor, dass Sie vor Publikum sprechen, oder war das Ihr erstes Mal?«

»Sind Sie von Geburt an so taktvoll oder üben Sie noch?«, entgegnete sie schlagfertig. Sie lernte offenbar schnell, denn das war die einzige Möglichkeit, mit Männern wie Shane umzugehen. Sie bewies Selbstbewusstsein und das gefiel ihm, zwang ihn aber, seine Taktik zu ändern.

»Die Frage war durchaus ernst gemeint«, behauptete er. »Als ich das erste Mal vor mehr als 50 Personen sprechen musste, habe ich mich jedenfalls nicht besonders wohl gefühlt. Ich glaube, seit der Grundschule hatte ich nicht mehr so gestottert.«

»Und warum sind Sie jetzt so ein viel gebuchter Redner? Ich dachte, Sie seien Wirtschaftsjournalist.«

»Bin ich auch, aber im Laufe der Zeit hat sich mein Aufgabenbereich, sagen wir mal, erweitert. Manche Unternehmen bilden sich regelrecht etwas darauf ein, wenn ich für ihre jeweiligen Projekte referiere. Ich nehme an, aus dem gleichen Grund wurde ich auch hierher bestellt. Ich soll einen Artikel verfassen, der Ihr Projekt als einzigartig und aussichtsreich verkauft, richtig? Aber eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Ich verfasse nichts, was ich nicht vertreten kann. Jeder glaubt, mich manipulieren zu können, aber sobald ich dahinterkomme, schreibe ich gar nichts mehr.«

Er legte größten Wert darauf, seinen Standpunkt von Anfang an klarzustellen.

»Die Aussicht auf einen werbeträchtigen Artikel war sicherlich einer der Gründe, weshalb man Sie eingeladen hat«, sagte Estella, »aber das alleine war nicht ausschlaggebend. Sie wurden uns … empfohlen; Mr. Barthel hält große Stücke auf sie. Er spricht nur in den höchsten Tönen von Ihnen. Er sagt, Sie hätten ein gutes Gespür für interessante Stoffe und nahm an, dass das Projekt auf Ihr Interesse stoßen würde – genau wie der Rest unseres Unternehmens.«

»Der Patrick Barthel?« Shane war überrumpelt.

»Ich weiß nicht, welchen Patrick Sie meinen, aber er ist es vermutlich«, erwiderte Estella Meinhard.

»Mir war nicht bewusst, dass Mr. Barthel für Hawkes Enterprises tätig ist. Wir haben schon länger nicht mehr miteinander gesprochen. Kennen Sie ihn?«, fragte Shane nun brennend interessiert.

»Kennen? Er ist mein Onkel.«

So ein Zufall!, ging es Shane durch den Kopf.

Patrick Barthel war einer der besten Freunde seines Vaters gewesen und das, was einem Mentor am nächsten kam. Im selben Moment, in dem Shane an seinen Vater denken musste, übermannte ihn wieder die alte Trauer. Auch noch nach so vielen Jahren wurde ihm bei dem Gedanken an das, was seinem Vater zugestoßen war, ganz anders – was sich vermutlich niemals ändern würde. So hätte sein Vater nicht sterben dürfen. Nicht auf diese Weise!

Shane zwang sich, wieder an Patrick zu denken, um nicht in grauenhaften Erinnerungen zu versinken. Patrick hatte sich damals seiner angenommen, ihn in seiner Karriere gefördert und sein Interesse für Politik und zukünftige Energien bestärkt. Eine Nichte hatte er jedoch nie erwähnt. Außerdem hatten sie sich mit der Zeit auseinandergelebt, nachdem Patrick sich entschlossen hatte, ein ›geheimes Projekt‹ zu betreuen.

»Ihr Onkel … er hat mich Ihnen nie vorgestellt«, sagte Shane indigniert.

»Naja, sagen wir … unser Verhältnis war in den letzten Jahren recht angespannt«, erklärte ihm Estella. »Ich war lange Zeit indisponiert, während ich am Prototyp gearbeitet habe. Er verübelt mir immer noch, dass ich …« Sie verstummte.

Shane hatte den Eindruck, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Ihre Worte wirkten gekünstelt, geradezu einstudiert. Außerdem: Was hatte sie mit dem Prototyp gemeint?

Shane kam sich übergangen vor. Er hatte ja nicht einmal gewusst, dass Patrick für Hawkes Enterprises arbeitete, dass sein Freund offenbar seit Jahren für eines der aussichtsreichsten Energieunternehmen schaltete und waltete. Und warum erfuhr er es ausgerechnet jetzt und auf diese beiläufige Weise?

»Entschuldigen Sie, aber was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend weiter unterhalten? Ich muss mich noch um die anderen Gäste kümmern«, sagte Estella, und es war unüberhörbar, dass ihr die Bahn, in die das Gespräch gelenkt worden war, nicht behagte. Sie sah Shane noch einmal kurz an und mischte sich dann unter die Gäste.

Überrumpelt starrte Shane ihr hinterher. Er fühlte sich auf einmal sehr verletzbar, ihm war, als würde die Welt im Schnelldurchlauf an ihm vorbeiziehen. Sein Kopf tat sich schwer damit, das zu verarbeiten, was er gerade erfahren hatte. Nichts wollte einen rechten Sinn ergeben. Die PECS-Anlage in der Wüste konnte er ja noch verstehen, bei der zukünftigen Freizeitanlage wurde es dann schon schwieriger; und wie Patrick an Hawkes Enterprises geraten war, blieb ihm vollends verschlossen.

Er griff nach einem weiteren Glas Champagner und leerte es in einem Zug. Der Schwindel, der ihn daraufhin erfasste, kam ihm nur allzu gelegen. Alkohol war immer ein tröstliches Pflaster.

***

Hätte ich doch bloß nichts getrunken!, kam ihm etwa zwei Stunden später die Erkenntnis, als sie in geschlossener Gruppe einen Rundgang durch die Freizeitanlagen innerhalb der Oase unternahmen. Es war heiß, sogar sehr heiß, aber unter normalen Umständen noch einigermaßen erträglich. Shane befand sich jedoch nicht in einem normalen Zustand, zumindest nicht normal in dem Sinne, wie andere es definieren würden. Für ihn war ein gewisser Alkoholpegel normal, und ›flüssiges Glück‹ konnte einem bei einer solchen Hitze leicht zum Verhängnis werden.

Blinzelnd folgte er der staunenden Gruppe über die natursteingepflasterten Wege.

»Zu ihrer Rechten präsentiere ich Ihnen unseren Schwimmteich. Bei über 150 Metern Länge können Sie hier so einige Bahnen ziehen.«

Die korpulente Geschäftsführerin führte sie bereits seit einer halben Stunde touristenmäßig herum und zeigte ihnen jeden Schlupfwinkel der Anlage. Sogar David Meier, der bisher starrköpfig auf seiner schlechten Laune beharrt hatte, taute nun allmählich auf und ließ sich sogar zu einigen lobenden Worten herab. Wie Mrs. Blinow allen ausführlich erklärte, war die künstliche Oase auf der Grundlage einer natürlichen kultiviert worden. Man hatte das Pflanzenwachstum angeregt und die Wasserstelle vergrößert, ansonsten aber nicht in die Natur eingegriffen.

Im Eingangsbereich lud Minigolf die Familien zum Spielen ein, während sich am anderen Ende eine komplette Driving Range befand. Daneben gab es drei Tennisplätze, eine Freilichtbühne für diverse Programmpunkte, eine gekachelte Poollandschaft, eine Bogenschießanlage und einen Grill- und Lagerplatz mit Berberzelten. Und das alles in der bezaubernden Landschaft exotischer Gewächse und schattenspendender Palmen.

Shane war begeistert. Hätte er Familie, würde er eventuell selbst zum Urlaub herfliegen. Wen die Oase nicht überzeugte, dem standen genügend Ausflugsziele zur Verfügung, darunter alte Grabstätten, Tempel und Pyramiden, die unter fachkundiger Führung besucht werden konnten.

Die PECS-Anlage geriet dabei fast schon in den Hintergrund, obwohl sie der eigentliche Grund für den Bau der Freizeitanlage war. Es war schon erstaunlich, wie geschickt die Entwickler ein überzeugendes Gesamtkonzept ausgearbeitet hatten, fand Shane. Die Besichtigung der modifizierten Solarstromanlage stand ihnen erst morgen bevor, aber Shane zweifelte nicht daran, dass sie ebenso beeindruckend und überzeugend sein würde wie die Freizeitlandschaft.

Einheimische Vögel nisteten in den Baumkronen und erfüllten die Luft mit unbekannten Klängen. Wie schön würde es erst bei Sonnenuntergang werden? Möglicherweise ließ sich Estella zu einem Drink in der lauschigen Atmosphäre der Strandbar überreden. Ihre distanzierte Haltung ihm gegenüber hatte sie jedenfalls weitestgehend fallengelassen und Shane schwor sich, ihr keinen Anlass zu geben, diese wieder einzunehmen.

Lennard Frank, der mit Abstand bekannteste und wohlhabendste der Privatinvestoren, ließ sich einige Schritte zurückfallen, um mit Shane auf gleicher Höhe zu gehen.

»Beindruckend, finden Sie nicht auch, Mr. O’Brien?«

»Selbst wenn ich Meier heißen würde, müsste ich diese Frage mit einem Ja beantworten.«

Frank schmunzelte. »Ich bin im Grunde genommen ein sehr weltoffener und liberaler Mensch, aber in Sachen Meier muss ich Ihnen zustimmen – da kommt wohl jede ambulante Hilfe zu spät.«

»Ich verstehe einfach nicht, wie ein Mann mit seinem Background und seinen Erfahrungen so negativ denken kann«, stimmte ihm Shane zu.

»Geld verdirbt den Charakter«, meinte Frank und öffnete den zweiten Knopf seines dunkelroten Seidenhemds.

»Wenn dem so wäre, müssten Sie ja der Teufel persönlich sein«, entgegnete Shane und brachte Frank erneut zum Lachen.

Shane mochte ihn. Sie waren sich zwar nur ein-, zweimal begegnet, teilten aber eine gemeinsame Überzeugung, nämlich, dass nur alternative Energien die Welt aus der Krise führen konnten. Man mochte sie Heuchler nennen, weil sie von den Vorzügen von Atom- und Kohlestrom ebenso profitierten wie alle anderen, aber der Unterschied war, dass sie nachdachten und sich nachdrücklich für eine energiepolitische Kehrtwende einsetzten. 2012 war eine solche eingeläutet, dann aber leider wieder fallen gelassen worden.

»Ich muss sagen, ich bin von der Idee begeistert«, setzte Frank an.

»Ja, Sie wären wohl nicht hier, wenn Sie nicht daran glauben würden. Haben Sie bereits investiert?«

»Nur geringe Beträge, aber ich plane größere Investitionen zu tätigen, sobald ich endgültig von dem Konzept und der Effizienz dieser neuen Solarzellen überzeugt bin. Wie Sie bestimmt wissen, habe ich den ursprünglichen Silizium-Zellen immer skeptisch gegenüber gestanden – nicht ohne guten Grund, wie die Erfahrungswerte zeigen, sie sind einfach zu ineffektiv. Aber durch das PEC-System soll ja gerade dieser störende Faktor beseitigt werden.

Meine größte Sorge gilt allerdings nicht den Zielen des Konzerns oder der Rentabilität, sondern der grundlegenden Einstellung der Menschen. Es muss noch eine Menge Aufklärungsarbeit geleistet werden, um dem Ottonormalverbraucher zu verdeutlichen, wohin uns unsere jetzige Energiepolitik führen wird. Erinnern Sie sich, 2011, das Reaktorunglück in Fukushima, Japan? Alle hatten angenommen, es würde danach zu einem Umdenken kommen … doch was ist tatsächlich geschehen? Im Deutschen Bundestag wurde ein Moratorium zwecks Aufschiebung der Entscheidung betreffend der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke ausgerufen. Anstatt den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft zu veranlassen, hat man jedwede klare Beschlussfassung erst einmal vertagt. Und auch danach wurden die AKWs nicht abgeschaltet! Demonstrationen des Volkes gegen Atom- und Kohlestrom gab es schon seit Anbeginn dieser Technik, und im Laufe der Zeit haben sie an Intensität zugenommen – ebenso das strikte Vorgehen mit Polizeigewalt. Friedlichen Protesten begegnen die Staaten immer öfter mit offener Gewalt.«

Shane erinnerte sich, wie die Menschen gegen die Castor-Transporte demonstriert hatten und wie brutal die Polizei damals vorgegangen war. Auch in seinem Heimatort Canterbury hatte es Demonstrationen gegen Atomstrom gegeben, wie überall, doch stets waren die Regierungen eingeschritten.

»Solange das geschieht, solange die Regierungen den Wandel nicht ernsthaft unterstützen – reden können sie so viel sie wollen –, wird es verdammt schwer sein, etwas zu erreichen. Die Führungsebene von Hawkes Energy ist sich darüber im Klaren und arbeitet daher intensiv an entsprechenden Lösungen. Das bewundere ich und es veranlasst mich, meinen Beitrag zu leisten.«

Die Unterhaltung hatte sich wie von selbst entwickelt und sie sprachen nun fast wie vertraute Freunde. Gute Verbindungen können nie schaden, dachte Shane, für den zuallererst das Geschäft und erst dann das Soziale kam.

»Sie entschuldigen, sonst fühlt sich meine geliebte Frau vernachlässigt.« Frank beschleunigte seinen Schritt und schloss wieder zu seiner Ehefrau auf.

Shane überlegte kurz, auch die anderen Investoren in ein Gespräch zu verwickeln, entschied sich dann aber dagegen. Er wollte ihre politischen und wirtschaftlichen Einstellungen erst einmal unauffällig sondieren, bevor er sich auf Diskussionen einließ.

»Dürfte ich noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, rief Mrs. Blinow in die Runde. Shane wunderte sich, wie weit sie bereits gegangen waren und wie wenig er von den Ausführungen mitbekommen hatte.

»Sie haben nun die äußere Erholungsanlage kennengelernt. Ich schlage vor, Sie nutzen die Annehmlichkeiten, die sich Ihnen bieten und entspannen sich bis zum Dinner. Sie werden rechtzeitig benachrichtigt. Miss Ling steht Ihnen weiterhin jederzeit zur Verfügung. Ich bedanke mich …«

Shane hörte nicht mehr zu. Er hatte ohnehin kaum hingehört. Für ihn erklärte sich das Freizeitangebot von selbst, im Urlaub ließ er sich schließlich auch nicht jedes Detail im Einzelnen definieren. Nur durch eigenes Erkunden konnte man das Potenzial solcher Möglichkeiten ausmachen.

»Spielen Sie Golf, Mr. O’Brien?« Es war Meier, der plötzlich neben ihm stand, den Blick geradeaus gerichtet, so als sollten die anderen nicht mitbekommen, dass sie sich unterhielten. Innerhalb der wenigen Sekunden, die Shane für eine Antwort blieben, ging er blitzschnell alle Möglichkeiten durch: Er konnte das Angebot ohne Begründung dankend ablehnen, einen triftigen Grund erfinden, warum er verhindert war oder die unausgesprochene Herausforderung annehmen.

Shane rief sich ein altes Sprichwort des chinesischen Philosophen und Militärstrategen Sun Tsu ins Gedächtnis, das in etwa lautete: ›Kenne deinen Feind und kenne dich selbst, und in hundert Schlachten wirst du nie in Gefahr geraten.‹

Mit diesem Sinnspruch ergab er sich seinem Schicksal.

»Ja, ein wenig. Es wird Zeit, dass ich wieder an meinem Handicap arbeite.«

Kalte Zukunft

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