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1.3 Wettkampf als Form: Ein Arbeitsvorschlag

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Einen Ansatzpunkt für eine Arbeitsdefinition liefert die Beobachtung, dass selbst einfach strukturierte Wettkämpfe für Betrachter rasch komplex werden – darin liegt ihr allgemeines Faszinationspotential. Dennoch werden sie von Akteuren selbst oft als einfach beschrieben: Wettkämpfe fokussieren beispielsweise Aufmerksamkeit, intensivieren dadurch Erlebnisse, verdichten Raum und Zeit in intensiven Vollzügen und blenden vielerlei aus, was über das Wettkampfgeschehen hinaus sozial relevant sein könnte.1 Wettkämpfe drängen zu Fortsetzung und Wiederholung, indem sie in ihre Entfaltung hineinziehen: Wer bloß die Aufforderung zum Kampf zur Kenntnis nimmt, demonstriert etwa die Erzählung vom Rosengarten zu Worms, ist unversehens in den Wettkampf verstrickt.2 Dennoch werden sie durch einfache Logiken des Siegens und Verlierens vorangetrieben, die asymmetrische Endzustände anstreben: Krieg und Zweikampf, die größte wie die kleinste Gestalt von Wettkämpfen, führt z.B. Isidor von Sevilla schlicht auf »zwei Seiten von Kämpfenden« zurück, von denen »der eine Sieger wird, der andere besiegt«.3 Ein Modell, das solchen Zügen von Wettkämpfen Rechnung tragen will, ohne sich von vornherein auf spezifische Typen, Rahmen oder Akteure zu verlegen, muss somit komplexe Varianten zulassen. Potenziale zur Fortsetzung müssen ebenso berücksichtigt werden wie Faktoren, die Wettkämpfe stillstellen oder stabilisieren.

Dazu greife ich erstens ein grundlegendes Muster auf, das der Philosoph und Ethnologe Marcel Hénaff als »Prinzip der Alternanz« beschreibt. Es ist der Rechtsgeschichte4 oder der Literaturwissenschaft als »agonale Struktur von Schlag und Gegenschlag«5 vertraut:

Es besteht eine doppelte Dynamik der Reaktion. Einerseits handelt man, nachdem man einen Schlag erhalten hat, oder einfach als Antwort auf die Handlung des anderen. Beim Spiel führt dies zur Regel des Jeder der Reihe nach (so heißt beim Schachspiel zweimal hintereinander ziehen soviel wie betrügen). Andererseits enthält die Logik der Aufeinanderfolge Aktion / Reaktion die Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung von Bewegung: Die Vendetta könnte nie aufhören, das Ballspiel bis zur Erschöpfung weitergehen, der Krieg sich unablässig von Neuem entzünden.6

Dass dies nicht nur Interaktions-, sondern auch Kommunikationsmuster vieler Wettkämpfe prägt, liegt auf der Hand.7 Einerseits ordnen viele mittelalterliche Streitdialoge ihre Redeabfolge nach dem Alternanzprinzip:8 »Also seczt der clager je ein cappittel vnd der Tot das ander bis an das ende«, wie Johannes von Tepl seinem Rede-krieg zwischen Bauer und Tod vorausschickt.9 Das Alternanzprinzip formiert die Dilemmastruktur von Gattungen wie dem altfranzösischen ›jeu-parti‹,10 die zwei Streitpartner im Wechsel gegeneinander verbindet. Andererseits beschränkt sich Alternanz als Grundprinzip keineswegs auf den regelmäßigen Wechsel bloß zweier Seiten: Viele Wettkämpfe vollziehen sich natürlich weniger geordnet, weniger abgestimmt und weniger einfach rhythmisiert, als es Hénaffs Paradigma des regelgebundenen Schachspiels nahelegt.

Um diese Beobachtungen in einem Modell zu verbinden, das konkrete Textanalysen und kulturtheoretische Abstraktion vermittelt, greife ich zweitens auf die formale Theorie des Unterscheidens zurück, die George Spencer-Brown 1969 unter dem Titel »Laws of Form« skizzierte. Außerhalb ihrer mathematisch-logischen Theoriezusammenhänge ist sie durch Niklas Luhmann bekannt geworden, der sie als maßgeblichen Baustein seiner Theorie sozialer Systeme einfügte, doch scheint mir ihr Anregungspotential vor allem diesseits systemtheoretischer Anverwandlung wertvoll und neu bedenkenswert. Für die vorliegende Untersuchung genügt es, ihre wichtigsten Grundzüge zu vergegenwärtigen.11 Allgemein gilt: Wer beobachtet, trifft eine Unterscheidung (›distinction‹), wobei aktual je eine Seite dieser Unterscheidung im Unterschied zur anderen Seite hervorgehoben wird (›indication‹). Jeder Akt des Bezeichnens erzeugt somit eine Form in einem zugehörigen Kontext, einem Raum, in dem Verschiedenes beobachtet werden kann, während von allem anderen abgesehen wird. Für diese dreistellige Operation, die Unterscheidung, Bezeichnung und Raum verbindet, führt Spencer-Brown das berühmt-berüchtigte Hakensymbol () ein. Es fasst in symbolischer Abstraktion die Aufforderung zusammen, zum Zweck des Bezeichnens eine Unterscheidung in einen (andernfalls unmarkierten, unverletzten) Raum einzutragen und auf dessen Innenseite (also in den Kontext der etablierten Unterscheidung) hinein zu überschreiten, zu ›kreuzen‹; Spencer-Brown nennt daher das Operationssymbol von Unterscheidung und Bezeichnung insgesamt ›cross‹.12 Damit entsteht eine zweiseitige Form, deren Außenseite im Akt der Unterscheidung selbst unmarkiert bleiben muss – auch wenn sie natürlich zum Anlass neuer Anschlussoperationen werden kann, die gerade diese Außenseiten hervorheben und damit bezeichnen.

Sowohl im Hinblick auf Wettkämpfe als auch im Hinblick auf kulturelle Vergleichsformen ist dies ein wichtiger Gedanke, verdeutlicht Spencer-Brown damit doch die kontextbildende Kraft von Differenz. Bezeichnungen etikettieren nicht einfach vorgängige Verhältnisse, sondern rufen Relationen zuallererst hervor und kartieren ihr Terrain. Wann immer in den nachfolgenden Textanalysen also von ›Seiten‹ oder ›Kontexten‹ einer Unterscheidung die Rede ist, die Wettkämpfe konstituieren oder überschreiten, macht dieser Grundgedanke darauf aufmerksam, dass Erzählakte nicht einfach bestehende semantische Kontexte abrufen, sondern aktiv skizzieren, heranziehen und ordnen. Spencer-Browns Unterscheidungstheorie versucht somit, eine pragmatische Konstruktionsaufforderung schrittweise zu entfalten: »Draw a distinction.«13 Unterscheiden vollzieht eine Handlung, die zuallererst anlaufen muss, aber ebenso verweigert werden kann. »There can be no distinction without motive«.14 Pragmatisch leistungsfähige, sozial attraktive Formen wie Wettkampf richten sich speziell darauf ein, ihre Beobachter über solche Aktivitätsschwellen hinüberzuziehen, aus Reserve und Abstand in agonale Formbildungsprozesse zu verwickeln. Wer Wettkämpfe beobachtet, wird rasch zum Teilnehmer. Die Schleifen mittelalterlicher Zweikampfdarstellungen sind die Extremgestalt solcher Handlungsaktivierung.

Allgemein lassen sich Wettkämpfe als Formen der Beobachtung begreifen, die durch Bezeichnungen etwas hervorheben und im Kontext konkurrierender, d.h. durch Unterscheidung abgesetzter Bezeichnungen fortlaufend wiedereinführen. Sofern sich Wettkämpfe also nicht im einmaligen Schlagabtausch erschöpfen, lassen sie ihre Variablen rekursiv alternieren. Will man dies mit den Mitteln von Spencer-Browns Formkalkül darstellen, sind Wettkämpfe daher als sog. ›re-entry‹-Funktionen zu begreifen,15 welche die Form ihrer Unterscheidung fortlaufend in sich wiedereinführen: [[Wettkampf.ABB]]

Eine solche Grundform mit zwei Variablen (a, b) erfasst paradigmatisch die Differenzdynamik geordneter Zweikämpfe. Vollständig betrachtet fasst sie folgende Aspekte zusammen:16

 »Wettkampf« als zu bestimmende Größe, die sich durch den Ausdruck rechts des Gleichheitszeichens bestimmt;

 das Gleichheitszeichen, das die Ausdrücke beider Seiten als äquivalent bezeichnet und ihren Zusammenhang als Setzung einer Theorie ausweist. Beide Seiten sind dadurch nicht als identisch aufzufassen, sondern lediglich zu verbinden;17

 Variablen (»a« und »b«) für Bezeichnungen, die im Falle von Zweikämpfen auf zwei Positionen beschränkt sind, aber im Falle komplexerer Relationen nicht auf zwei beschränkt bleiben müssen;18 welche Figuren, Ereignisse oder sonstige narrativen Hervorhebungen damit im Einzelfall bezeichnet sind, ist in der Analyse von Wettkämpfen zu konkretisieren;

 das Hakensymbol (), Spencer-Browns »mark of distinction«, d.h. die Anweisung, eine Unterscheidung zu treffen, indem eine Grenze mit zwei Seiten in einem Raum gezogen wird, welche auf eine Seite hin überschritten wird, um eine Position hervorzuheben;19

 das schleifenförmige Hakensymbol (), das den Wiedereintritt der Unterscheidung von Bezeichnungen in den Raum dieser Unterscheidung selbst markiert (›re-entry‹) und damit dynamische Potenzierung einleitet – eine »Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung von Bewegung«.20 Die Formel wird dadurch zur Funktion, die ihre Variablen alternierend in sich einführt: Wettkämpfe arbeiten sich formal gesehen in sich hinein, indem eine Position in den Kontext der anderen einspringt usf.;21

 zuletzt der ›unmarked state‹ rechts des ›re-entry‹-Symbols, der darauf aufmerksam macht, dass die Wahl einer Bezeichnung zwecks Kontextuierung einer weiteren Bezeichnung ihrerseits die Außenseite einer Form mitlaufen lässt. Wettkämpfe machen zwar ihre Umgebung vergessen und schaffen ›insuläre Konzentration‹ – Gegner von Heldenepen treten in den kreiz,22 die isländische Sagaliteratur des Mittelalters bezeichnet ritualisierte Zweikämpfe als hólmganga, die wörtl. ›auf die Insel gehen‹, und betont damit das Prinzip der Eingrenzung,23 das jegliches Außen abblendet.24 Trotzdem vollziehen sich Zweikämpfe nie im luftleeren Raum, sondern sind stets beobachtete Ordnung.25

Gleichwohl: Eine solche Notationsweise führt literaturwissenschaftliche Analysen wenig weiter, wenn sie die phänomenale Dichte literarischer Texte, ihre Deutungs- und Wirkungsmöglichkeiten ignoriert.26 Die nachfolgenden Lektüren verzichten daher darauf, mit formalen Symbolen zu rechnen. Doch hilft eine formale Vorklärung zur Entwicklung von Fragen, die das Untersuchungsmaterial zielgerichtet erschließen. Quer zu Gattungen und Diskursen, Stoffen und Motiven ließe sich so zum Beispiel fragen: Was heben Wettkampferzählungen hervor und wie etablieren, verfestigen oder überschreiten sie Unterscheidungen? In welche Kontexte schreiben sie ihre Differenzen ein, welche Kontexte bringen sie neu hervor? Welche Dynamik charakterisiert Wettkampferzählungen – welche narrativen Prozesse sorgen für rekursive Vertiefungen, welche für Abbrüche oder Begrenzungen von Wettkämpfen? Inwiefern tragen Wettkämpfe dazu bei, Kämpfer, umkämpfte Objekte oder Kampfkontexte zu bestimmen – oder inwiefern sorgen sie für unbestimmte Größen? Jede dieser Fragen eröffnet aufschlussreiche Zugänge zum kulturellen Potential von Wettkampfformen; und jede dieser Fragen setzt bei unterschiedlichen Teilaspekten des Arbeitsmodells an.

Formal könnte man damit auch das Verhältnis von Kampf, Wettkampf und Zweikampf als Reihe zunehmender Spezifizierung fassen: Versteht man Kampf im weitesten Sinne als Einführung und Durchsetzung von Differenz (ganz gleich in welchem Kontext), so kennzeichnet Wettkampf zusätzlich die fortlaufende Umbesetzung solcher Differenz innerhalb eines gemeinsamen Kontextes, wobei die Seiten der Unterscheidung dynamisch überschritten und dadurch unablässig neu relationiert werden; Zweikämpfe spezifizieren diese Dynamik weiter, indem sie eine bestimmte Zahl von Aktanten festlegen.

Darüber hinaus fängt ein formales Arbeitsmodell viele Gesichtspunkte ein, welche die Erforschung von Wettkampfbeziehungen disziplinenübergreifend beschäftigen. So bringen sich etwa Wettkampfformen in Schwingung, indem sie Bezeichnungen und Markierungen fortgesetzt alternieren lassen. Wettkämpfe lagern staffelförmig ineinander ein, was sie im Wechsel fortwährend unterscheiden. Sie ordnen Zug um Zug, doch werden solche Züge nur im Kontext des je vorhergehenden Zuges getroffen und beschrieben. Sollen dabei nicht bloß lose Ereignispunkte aufblitzen, müssen Bezeichnungen dabei aufeinander Bezug nehmen. Fehde-Erzählungen bilden auf diese Weise charakteristische Rhythmen aus,27 Sangsprüche fügen sich zu umfangreichen Strophenkomplexen, die im selben Maße einander voraussetzen, wie sie sich voneinander abzusetzen suchen.28 Wettkämpfe werden umso komplexer, je tiefere Räume dadurch erschlossen und durch Unterscheidung und Kontextuierung aufrechterhalten werden.

Die Funktion des ›re-entry‹ legt solche Aspekte dynamischer Rekursion offen. Ihre paradoxen Unterscheidungen machen Wettkämpfe anziehend und irritierend zugleich, schwer abzulehnen und leicht fortsetzbar. Zwar lässt sich in jedem Schritt temporär bestimmen, welche Werte einzelnen Figuren, Handlungen und Zuständen (etwa: im Rahmen der Axiologie eines Textes) zugeschrieben werden, doch wird die gesamte Form des Wettkampfs unbestimmbar – sie entfaltet einen ›imaginären‹ Charakter (›imaginary state‹), der zwischen verschiedenen Zuständen oszilliert.29 Wettkämpfe rufen daher pulsierende Frequenzmuster hervor, die für Serien- und Reihenkämpfe eine ebenso wichtige Rolle spielen wie für das serielle Erzählen insgesamt.30 Weichen Wettkämpfe dafür nicht nur in die Zeitdimension aus, sondern halten nachdrücklich an der Raumdimension ihrer Unterscheidungen fest, so weicht deren eindeutige Bestimmung auf – es enstehen Arrangements mehrschichtiger Unterscheidungen. Grenzen treten in den Blick, die fortgesetzt verletzt, unterlaufen und nachgezogen werden. Dies schärft den Blick auch für räumliche Dynamiken von Komplexität. So erzählen zum Beispiel höfische Romane fasziniert von unterlaufenen Unterscheidungen – mit einer extravaganten Raummetapher spricht etwa Hartmanns Iwein von einer ›Trennwand im Herzen‹, die befreundete Feinde vor Gefühlsverwirrung schützen solle.31 Wenn Wettkämpfe Spielräume der Vervielfältigung eröffnen, so wäre der Raumcharakter solcher Metaphern also durchaus beim Wort zu nehmen.

Methodisch heißt dies, dass solche Spielräume nur in der Spannung zwischen konkreten Textbeschreibungen und abstrakter Formanalyse zu rekonstruieren sind. Daher sollte das Plädoyer für formale Perspektiven nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Potentiale von Wettkampfmustern nur dann ermessen lassen, wenn man zugleich ihre je unterschiedlichen generischen, diskursiven, semantischen und narrativen Bedingungen berücksichtigt – in einlässlichen, textnahen Lektüren. Diese Spannung teilt die vorliegende Arbeit mit älteren Ansätzen, allen voran dem Vorschlag Rainer Warnings, die Frage nach basalen Textstrukturen mit hermeneutischen Beschreibungen zu vermitteln.32 Auch die Untersuchung von Wettkampfformen nähert sich vielfach der Analyse von ›Strukturen‹ an; auch die Beschreibung ihrer Komplexität mag an strukturalistische Begriffe erinnern. Trotz solcher Anklänge gilt es jedoch – ebenfalls im Sinne Warnings – möglichst genau die spezifischen Textgestalten in den Blick zu nehmen. Auch wenn die Arbeit also von Grundoperationen des Wettkampfs ausgeht, zielt ihr Interesse nicht auf strukturale Universalien, sondern auf historische Ausprägungen, Dynamiken und Veränderungen eines höchst flexiblen Arrangements; nicht Tiefenstrukturen von binären Oppositionen oder die invariante Erzählgrammatik von Konfliktsujets, sondern paradoxe Erzähloberflächen gilt es zu erschließen.

Wenn die nachfolgenden Lektüren dazu durchweg bei auffälligen, problematischen Gestalten ansetzen, zu denen die entscheidungsorientierte Interaktionsform des Wettkampfs getrieben wird, so bleiben sie gleichwohl zurückhaltend, sie als sozial- oder funktionsgeschichtliche ›Problemlösungen‹ zu deuten.33 Denn zum einen lässt sich nur teilweise rekonstruieren, auf welche außerliterarischen Interessen- und Problemlagen mittelalterliche Wettkampferzählungen reagierten.34 Statt also die formale Bearbeitung von Agonalität mit einzelnen Kontexten kurzzuschließen, konzentrieren sich die nachfolgenden Studien darauf, vor allem die Textgestalten des Wettkampfs zu beschreiben, bevor vorsichtig nach Kontexten solcher Komplexitätsangebote zu fragen ist. In jedem Fall bleibt dabei zu fragen, inwiefern Wettkampferzählungen als Antworten zu verstehen sind – und inwiefern sie explorative Spielräume ›auf Vorschuss‹ eröffnen. Wie die Fassungs- und Überlieferungsgeschichte der untersuchten Texte dokumentiert, ließen sich auch diese formalen Spielräume ihrerseits beantworten oder verwerfen.

Was ist damit vorläufig für den Begriff der Form festzuhalten? Beziehungen von ›Komplexität‹ und ›Einfachheit‹ lassen sich von verschiedenen Formkonzepten her anpeilen, die den Literaturwissenschaften ein breites Begriffsrepertoire zur Verfügung stellen: von konkreten Texttypentheorien ›einfacher Formen‹ (André Jolles) und narratologischen Aspekten von ›Erzählformen‹ über strukturalistische Analysekategorien poetischer ›Selektion‹ und ›Kombination‹ (Roman Jakobson, Roland Barthes) bis zu Formbegriffen maximaler Ausweitung, die jegliche Art geordneter Muster von Elementen umfassen (Caroline Levine).35 Wenn die nachfolgenden Analysen die differenztheoretischen Überlegungen Spencer-Browns aufgreifen, streben sie eine theoretische Mittelposition an. Sie ist einerseits weit ausgerichtet: Demnach verweist der Begriff der ›Form‹ auf Prozesse des Unterscheidens, die Differenzen hervorbringen und Hervorhebungen ermöglichen – ganz gleich in welcher Gestalt, mit welchen Effekten und Dynamiken. Im Hinblick auf Erzähltexte lässt ein derart weites Verständnis zunächst offen, auf welchen Ebenen (und mit welchen narratologischen oder rhetorischen Begriffen) sich Formen greifen lassen – von Figuren und Handlungen über Redemuster und Erzählmodi bis zu Diskursmustern. Ebenso wenig beschränkt der Vorschlag die Zahl seiner Variablen: Während zwei Aktanten typischerweise die Form von Zweikämpfen, Duellen oder ›Streitgedichten‹ ausfüllen, lässt sich die Form je nach Kontext mit weiteren Variablen anreichern, substituieren oder wieder reduzieren. Wenn Spencer-Brown darauf zielt, die allgemeinen Grundlagen von Formbildungsprozessen zu erfassen,36 gibt ein formales Wettkampfmodell allenfalls allgemeine Gesichtspunkte an die Hand, mit denen die konkrete Beschreibungs- und Interpretationsarbeit erst beginnt.

Andererseits ist ein differenztheoretisches Formverständnis nicht zu weit gefasst – es ist in besonderer Weise geeignet, Zusammenhänge von Wettkampf und Kultur hervorzuheben, die auf paradoxen Unterscheidungslogiken basieren. So potenziert die Einlagerungsstruktur von Wettkämpfen die wechselseitige Bezugnahme von Beobachtern,37 die aufeinander reagieren, indem sie füreinander Spielräume bilden, diese verändern und fortlaufend mit Bestimmungen anreichern. Wettkämpfe machen dadurch auf Dynamiken der Re-Positionierung von Beobachtern aufmerksam, die sich fortlaufend aufeinander beziehen.38 Auch diese Beobachterreflexion begleitet die Diskursgeschichte des Wettkampfs von der Spätantike bis zum Spätmittelalter. Für frühchristliche Apologeten wie Tertullian sind Wettkampfpraktiken vor allem unter den Augen Gottes zu beurteilen.39 Mittelalterliche Turnier- und Rangstreiterzählungen motivieren Wettkämpfe ausgehend von markanten Beobachterfiguren,40 entwickeln sie vor Richtern, die von ihren Formen ergriffen und nicht selten überfordert sind.41 Gerade solche Beurteilungskrisen enthüllen mehrfache Ordnungen und unsichere Zurechnungen, wie sie moderne Kulturkonzepte programmatisch in Anspruch nehmen.

Zweitens macht das Arbeitsmodell mit seinem räumlichen Verständnis von Unterscheidungen darauf aufmerksam, in welcher Richtung solche Komplexität entsteht.42 Welche Seiten werden vertieft, auf welche Alternativen ausgegriffen? Wie näher zu untersuchen ist, neigen viele Wettkampferzählungen eher dazu, umstrittene Kontexte zu vertiefen und Beobachter zu involvieren, als sich zu metaisierender Reflexion aufzuschwingen. Das schließt einerseits an Befunde an, nach denen Kampfdarstellungen als körpergebundene Reflexionsformen der Vormoderne lesbar sind,43 verweist andererseits aber auch auf die speziellen Tendenzen von Wettkämpfen, ihre Akteure zu verwickeln und Beobachter zu involvieren.44 Wettkampfszenen des höfischen Romans arbeiten sich so gesehen in ihre Medien und Kontexte förmlich hinein. Folgt man solchen Vorüberlegungen in Richtung formaler Kulturtheorie, klingen solche Reflexionswirkungen gelegentlich tautologisch: »Der Widerstreit macht Beobachter beobachtbar, wenn auch, nach wie vor, nur anhand ihrer Beobachtungen […]«.45 Mittelalterliche Streiterzählungen hingegen entdecken dies weder auf dem Wege begrifflicher Abstraktion noch durch Selbstreflexion von Beobachtern – sondern indem sie ihre Beobachter in jene Spielräume der Unterschiede hineinziehen, die sie eröffnen.

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