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2.1 Mediävistische Perspektiven

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Wenn Studien der mediävistischen Literaturwissenschaft von Komplexität sprechen, stehen zumeist Abgrenzungen gegenüber einfacher strukturierten Phänomenen zur Diskussion. Romane wie Kurzerzählungen stützen sich auf ›einfache Formen‹, stereotype Elemente und narrative Schemata, kombinieren, variieren und hybridisieren diese jedoch zu Strukturen, die Handlungsverknüpfungen mehrdeutig und Figuren brüchig machen, Alternativen ausstellen oder gar für unentscheidbare Zurechnungsmöglichkeiten sorgen.1 ›Komplexität‹ liefert eine hermeneutische Vokabel, um »Überlagerung der Bedeutungen« zu bezeichnen, die etwa in höfischen Romanen den Eindruck von »Uneindeutigkeit des Sinns«2 verstärkt oder in zyklischen Reihen von Heldenepen zur »Sinnkomplexion«3 einfacher Basisplots führt. Kombination und Wiederholung werden als Verfahren komplexen Erzählens gehandelt.4 Dialoge gelten als komplex, wenn sie »ein gesteuertes und zugleich unkalkulierbares Wechselspiel« inszenieren und damit für Emergenzeffekte sorgen.5 Auch religiöse Textsorten wie Legenden pendeln zwischen einfacher Pragmatik und rhetorischen Überschüssen des Erzählens,6 geistliche Spiele changieren zwischen liturgischer Heilsvermittlung und wuchernden Abweichungen.7 In allen diesen Fällen sind Zuschreibungen von Komplexität prominent, wie eine ausführlichere Bestandsaufnahme nachweisen könnte.

Dass viele Texte komplex sind, gilt als ausgemacht. Selten ist dabei jedoch geklärt, was ›komplex‹ in analytischer Hinsicht genau heißt. Obwohl seit langem alteritäre Logiken mittelalterlichen Erzählens erforscht werden,8 hat die Mediävistik ausgewiesene Komplexitätstheorien kaum aufgenommen. Wo ausdrückliche Stichwortgeber in Anspruch genommen werden – von André Jolles’ »Einfachen Formen« bis zur Systemtheorie Niklas Luhmanns –, werden Komplexitätsbegriffe zwar zitiert, doch meist ohne deren Prämissen zu diskutieren, im Hinblick auf spezifische Gegenstandsbereiche mittelalterlicher Literatur zu modifizieren und im Kontext jüngerer Debatten zu aktualisieren.9 Dass ein Text ›komplex‹ sei, liefert also seltener ein analytisches Argument, häufiger dafür ein normatives Wertprädikat: Erzählungen gelten dann als besonders interessant, wenn sie zu einer »komplexeren Textordnung« führen als andere Fälle;10 diskussionswürdig wird eine Wiedererzählung im Vergleich zu anderen Adaptationen, wenn sie eine besonders »komplexe Verhandlung« ihres Themas anregt.11 Auch im Verhältnis von Objekt- und Beobachtungsebene bezeichnet der Komplexitätsbegriff vor allem schwierige Konstellationen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.12 Doch wodurch sich diese Komplexität genauer auszeichnet, darüber besteht – jenseits von Hinweisen auf Schemata und Muster – gründlicher Dissens und viele Einzelantworten.13

Oberflächlich betrachtet scheint die literaturwissenschaftliche Rede von Komplexität somit oft ähnlich unscharf wie der Begriff der Kultur. Doch während dieser häufiger überbestimmt wird, d.h. in verschiedenartigsten Varianten aufgerufen und mit verschiedenartigsten Aspekten besetzt wird, bleibt das Argument der Komplexität öfter unterbestimmt. Es stellt weder den Rahmen für Textanalysen noch ein geschärftes Analysewerkzeug bereit, sondern beschließt häufig Argumentationszüge, statt diese weiter zu erhellen. Nicht selten artikuliert das Stichwort der Komplexität gewissermaßen »Seufzer« über die Grenzen der Beschreibbarkeit – oder beschwört ein solches »Flair der Intransparenz und der Unbestimmbarkeit« geradezu als Auszeichnung.14

Mit starken Wertungen ausgestattet, aber mit schwachen Analyseaufgaben belastet, wirken Komplexitätszuschreibungen dadurch auf eigentümliche Weise programmatisch und vage zugleich. Selbstverständlich ist die Mediävistik damit im Kreis der Kulturwissenschaften nicht allein.15 Präferenzen für ›komplexe Texte‹ wurzeln allgemein in normativen Wertungen, die literarischen Texten ein erhöhtes Maß an »Vielschichtigkeit und Komplexität« zuschreiben.16 Und selbstverständlich benötigt jede Wissenschaft solche geltungsstarken, aber unsauberen Begriffe, um Forschungsfelder mit Relevanz auszuzeichnen und gleichzeitig ihre Zugriffsmöglichkeiten zu begrenzen. Problematisch wird es jedoch, wenn zentrale Phänomene zu unterbelichteten Stellen werden. Für die Frage nach narrativer Vervielfältigung bezeichnet der Komplexitätsbegriff keine periphere, sondern eine solche zentrale Leerstelle in der mediävistischen Diskussion. Welche Anregungen könnten helfen, diese Leerstelle zu füllen?

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