Читать книгу Wettkampfkulturen - Bent Gebert - Страница 40
1.2 Vermutungswissen und Unterstellung: Hadubrands Latenzen
ОглавлениеLiest man die Begegnung als Kampf von Verwandten, die sich trotz größter Nähe höchstens asymmetrisch erkennen und infolgedessen nicht anerkennen können, so mochte dies die ältere germanistische Forschung zwar tragisch stimmen,1 vereinfacht aber alle Fragen, die den kurzen Text so befremdlich machen. In der Begegnung zwischen Vater und Sohn scheinen nämlich sichere Antworten zunächst zu fehlen. Hadubrand misstraut dem Fremden, der vorgibt, sein engster Verwandter zu sein. Wissen über seinen Vater, dessen Flucht vor Odoaker an der Seite des Ostgotenkönigs Theoderich und dessen Tod besitzt der Sohn nur aus dem Mund des kommunikativen Gedächtnisses: dat sagetun mi usere liuti, / alte anti frote, dea erhina warun (V. 15f.). Diese »Autoritätsinstanz des Stammes« aber schwankt,2 denn Hadubrand ergänzt sein persönliches Nichtwissen über den abwesenden Vater auch mit Nachrichten von Seefahrern aus der Ferne. Dass solche »Anreihung fremden Wissens […] zweifelhaft [bleibt]«,3 gibt Hadubrand selbst mit schwankenden Modi der Gewissheit zu erkennen. Hält er dem Fremden zunächst mit indikativischer Überzeugung entgegen, dass Dietrich ja an seinem Vater einen treuen Gefolgsmann verlor (V. 23f.), so nimmt er solche Gewissheit sogleich zur bloßen Vermutung zurück: ni waniu ih, iu lib habbe (V. 29) – »Nicht glaube ich, daß er noch lebt.« Autoptische Überzeugung oder die Evidenz verlässlicher Zeugen aber bleiben dem Sohn, unter allen Schichten von Heldenberichten, verborgen.4 Statt kollektiv verbindlichem Wissen akzentuiert der Text das Vermutungswissen des Sohnes.
Auch bei seinem Gegner vermutet Hadubrand verborgene Schichten. Den goldenen Armreif, den ihm der Fremde möglicherweise zur Bekräftigung verwandtschaftlicher Nähe darbietet, verspottet er als täuschenden Köder:
du bist dir alter Hun, ummet spaher,
spenis mih mit dinem wortun, wili mih dinu speru werpan.
pist also gialtet man, so du ewin inwit fortos.
(V. 39–41)
Du bist, alter Hunne, voller Tücke,
willst mich mit Worten ködern, deinen Speer nach mir werfen.
Du bist so alt geworden, weil du stets Arglist gebraucht. (Übers. Haug)
Mit seiner Skepsis liegt der junge Mann richtig – und irrt zugleich. Als Goldschmiedearbeit vom Hunnenhof (V. 34f.) bezeugt die Gabe tatsächlich indexikalisch den fremden Exilraum der Dietrichsage; und insofern diese Sage vom Verrat trügerischer Verwandter erzählt, der Dietrich und Hildebrand ins Hunnenreich treibt, ist es nur folgerichtig, fortan Gaben im Namen von Verwandtschaft zu misstrauen. Doch Hadubrand überdehnt gleichzeitig die metonymische Aussagekraft der Gabe, wenn er sein Gegenüber kurzerhand zum Hunnen deklariert. Sein Verdacht klärt nichts: Dass Dietrichs Flucht nach Osten (V. 22) auch den Vater ins Exil zum Hunnenhof führte, bleibt zwischen den beiden unausgesprochen. Derartige Leerstellen blockiert Hadubrand vielmehr, indem er sie dem Gegner selbst als Hinterlist zuschreibt. Außerdem hätten Seefahrer von Hildebrands Tod erzählt (V. 42–44) – ein Rekurs auf unverlässliches Sagenwissen,5 dem sich die Erzählinstanz zu Beginn als grundlegender Informationsquelle unterstellt hatte (V. 1).
Die Herausforderung des Fremd-Vertrauten beantwortet Hadubrand somit mit einem Reaktionsmuster, das man als Latenzstrategie bezeichnen kann, insofern es unbestimmte Differenz zu kompakten Unterstellungen transformiert. Diest verspricht Vereinfachung: Es entlastet von epistemischer Komplexität, wenn man sich Vorzeitgedächtnis und Hörensagen durch Dritte unterstellt, ohne deren Glaubwürdigkeit oder Konsistenz zu problematisieren.6 Es entlastet aber auch von komplexerem Interaktionsbedarf, wenn Hadubrand alle Unbestimmtheit seinem Gegenüber pauschal als List zuschiebt, die ihre Hintergründe im Dunkeln zu halten versucht. Formal betrachtet zielt beides auf Unterordnungsverhältnisse, indem Hadubrand sich vorausgehenden Zeitzeugen oder Informanten aus der Ferne unterstellt, wie er dem Gegner ein Täuschungskalkül unterstellt.
Diese Strategie hebt sich umso auffälliger ab, als das Hildebrandslied auf Ebene seiner Textpoetik die Unbestimmtheiten fortwährend gegenbesetzt und hervorhebt. Geradezu aufdringlich hämmert etwa die Erzählinstanz über Patronyme ein (V. 7, 14), dass hier ein sunufatarungo (V. 4), eine Sohn-Vater-Verbindung zur Debatte steht,7 während eine solche Verbindung auf Figurenebene gerade nicht zu geteiltem Wissen und Ausgleich führt, die Freundschaftsgabe gerade nicht zu verbindenden Dingen wird. Zugleich unterstellt das Heldenlied mit seiner rudimentären Informationsvergabe wie selbstverständlich, »dass der Hörer von all den Personen, von denen die Rede ist […], schon einmal gehört hat«.8 Die Ordnung des Sagenwissens, die in heldenepischer Dichtung oft allseits verfügbar scheint, bildet damit Erzählschichten, die sowohl transparent als auch opak erscheinen.