Читать книгу Wettkampfkulturen - Bent Gebert - Страница 32
2.2 Transdisziplinäre Komplexitätsforschung: Anregungen und Risiken
ОглавлениеEin möglicher Weg wäre, Verhältnisse von Komplexität und Einfachheit auf Kernfragen zu literarischen Gattungen, Epochen und Medien zurückzubeziehen – und schillernde Wertzuschreibungen konsequent auszuklammern. Ein riskanterer, aber möglicherweise lohnenderer Schritt wäre es, über die literaturwissenschaftliche Diskussion hinaus Disziplinen und ihre Forschungsstände genauer zur Kenntnis zu nehmen, die seit längerem explizite Komplexitätstheorien pflegen und analytisch verwenden. Damit kommt eine Vielzahl von Leitdefinitionen aus Informatik, Sozial-, Natur- und Ingenieurswissenschaften ins Blickfeld, die sich keineswegs unbesehen importieren lassen. Denn je nach Gegenstandsbereich unterscheiden sich schon die Definienda erheblich: Ökonomie, Physik und Biologie etwa untersuchen die Dynamiken ›komplexer Systeme‹, »in which large networks of components with no central control and simple rules of operation give rise to complex collective behavior, sophisticated information processing, and adaptation via learning or evolution.«1 Selbstorganisation, Intelligenz und Effekte unvorhersagbarer Emergenz gehören zu den Kernmerkmalen, die auch Komplexitätstheoreme zur ›artificial intelligence‹ in den Mittelpunkt stellen.2 Die Informatik bezeichnet mit dem Komplexitätsbegriff »den Aufwand von Zeit, Beschreibung und Größe des Computerprogramms zur Berechnung einer Funktion bzw. eines Problems«,3 verwendet das Konzept also als Rechenmaß von Prozeduren. Netzwerkanalysen und Systemtheorie betrachten eine »Menge von Elementen« als »komplex«, »wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann«.4 Keine Basisdefinition ist jedoch bislang gefunden, die alle Felder der Komplexitätsforschung transdisziplinär umgreift.5 Allenfalls lassen sich verschiedene Typen von Komplexität greifen: Messen kann man etwa die Entropie komplexer Phänomene, ihren algorithmischen Informationsgehalt, ihre logische Struktur oder thermodynamische Tiefe, ihre Berechnungskapazität und statistische Eigenschaften, ihre fraktalen Dimensionen und Hierarchiegrade u.v.m.6 Folgt man diesen Ansätzen auf ihre jeweiligen Gebiete, wird rasch deutlich, dass der Komplexitätsbegriff nicht bloß auf unterschiedliche Größen angesetzt wird (z.B. auf Verhalten und Programme, auf strukturelle Kapazitäten und rechnerische Eigenschaften), sondern auch als Theorieinstrument höchst unterschiedlichen Aufgaben dient (z.B. der Rekonstruktion und Exploration, der Beschreibung und Bewertung). Trotz theoretischer Schärfung sind solche Begriffsverwendungen schwer in literaturwissenschaftliche Zusammenhänge zu übertragen, wenn man nicht zugleich die mathematischen, statistischen oder technischen Implikationen offenlegt, die solche Anregungen mit sich bringen. Ausgewiesene Komplexitätstheorien stellen dann vor die (neuen) Aufgaben, sich mit Rechnen und Statistik, empirischen Experimenten und künstlicher Intelligenz beschäftigen zu müssen, ohne dass ausgemacht wäre, dass ihre Epistemologien überhaupt auf literarische Objekte anwendbar sind. Keineswegs wird man jedenfalls Theoreme unbesehen übernehmen können, die an kollektiven intelligenten Systemen, biologischer Evolution oder Modellen des adaptiven Problemlösens entwickelt wurden.7
Statt Definitionen zu übernehmen, könnte man dazu einen weiteren Schritt zurückgehen und prüfen, wie fruchtbar die grundsätzlichen Fragen für literaturwissenschaftliche Zwecke sind, auf die Komplexitätstheorien antworten. Seth Lloyd zufolge sind drei Dimensionen besonders einschlägig, um Komplexität zu bemessen: »1. How hard is it to describe? 2. How hard is it to create? 3. What is its degree of organization?«8 Zweifellos vereinfachen solche Fragen die Auseinandersetzung erheblich, indem sie den Komplexitätsbegriff überterminologisch handhabbar machen – doch geben sie für die Analysearbeit wenig an die Hand. Vielleicht empfiehlt sich daher, nach Anhaltspunkten zu suchen, die sich auf mittlerer Ebene konkretisieren lassen.9 In diesem Sinne könnte es fruchtbar sein, zu beschreiben, in welchem Maße Wettkämpfe
reduzible oder irreduzible Differenzen erzeugen,10
diese mit Bestimmungen versehen oder aber unbestimmt lassen,11
ihre Ordnungen vertiefen oder aber neue Strukturen entwerfen12
und inwiefern dieses Ergebnis messbar ist, d.h. inwiefern die Frage nach dem »Maß« von Komplexität auf bestimmbare Größen oder Funktionen führt.13
Für die Untersuchung von Wettkampferzählungen liefert dies präzise Gesichtspunkte, an denen sich die nachfolgenden Analysen orientieren.