Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 10

Sommersaat; dritter Umlauf im fünfhundertachtundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

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Ein tiefes Dröhnen überzog das große Rund der Kündung. Es entsprang dem dunklen Gebrumm der Bordun­saiten von Drehleiern, die von Klangfrauen gekurbelt wurden, die aus allen vier Himmelsrich­tungen aus dem Gewirr der Hütten heraus auf das Rund traten. Das sonore Brummen brachte die Eingeweide der Mannlinge zum Beben, erfüllte ihre Gehörgänge, sickerte durch die Poren ihrer Haut, breitete sich über ihre Blutbahnen in ihrem Gewebe aus, drang in das Mark ihres Gebeins ein und setzte sich schließlich unter ihren Schädelplatten fest. Nach und nach wur­den alle von der Macht des monotonen Klanges erfasst und begannen, die Oberkörper hin und her zu wiegen und es entstand eine Bewegung in der Menge, als führe der Wind durch die Ähren eines Feldes. Brachvogel, der dies beileibe nicht zum ersten Mal erlebte und aus dem Augenwinkel heraus sah, wie auch der neben ihm stehende Agror wieder einmal dem Klang erlag, stellten sich die Härchen an den Unterarmen auf. Er begann, seinen Geist mittels der Methode, die er im Laufe der Zeit entwickelt hatte, aus dem auch in ihm aufbrandenden Zustand der Lähmung zu befreien, indem er sich mit aller Macht von der dunklen Schwingung der Bordunsaiten losriss und sich stattdessen auf die nun einsetzende Melodie konzentrierte, die den Bass des durchdringenden Haltetons überlagerte. Dazu ließ er seinen Blick weit umherschweifen und fixierte mit den Augen in schneller Abfolge möglichst viele unterschiedliche Punkte, um seinen Sinnen genug Abwechslung und selbst gesteuertes Erleben zu bieten, damit sein wacher Geist nicht in dem Ruf des Sanges der Drehleiern unterging.

Mit einem lauten Knarren schwangen nun die Flügeltüren des Horts der Beratung auf und entließen die aus vierzehn Wächterinnen bestehende Leibwache der Archontin. Sie trugen Koller und enge Beinlinge aus geschmeidigem Leder, die ihnen größtmögliche Bewegungsfreiheit gewährten. In ihrem Gürtel stak das Wurfholz und um die Hüften hatten sie die Seile der Bola geschlungen, deren Kugeln beim Gehen an ihren Ober­schenkeln hin und her pendelten. Es folgten die Weisen Frauen und zuletzt Ayiah, die Archontin, selbst. Die Weisen Frauen waren in die übliche Gewandung aus brauner, bodenlanger Kutte gehüllt, die je nach Bedarf mit einem Gürtel gerafft und geschürzt werden konnte. Die Schultern bedeckte ein breiter, weit ausgelegter Kragen, von dem auch die Kapuze hing, deren lang auslaufende Spitze in herabgeschlagenen Zustand bis weit über die Taille reichte. Außer dass ihr Demutskranz im Gegensatz zu den braunen Kränzen der Weisen Frauen aus frischen grünen Reisern gewunden war, unterscheid sich die Archontin in keiner Weise von ihnen.

Die Wächterinnen fächerten sich auf und bezogen auf der Linie der Fackeln Stellung. Indem die Tonfrauen die Kurbeln ihrer Leiern nun nicht länger gleichmäßig, sondern mit kleinen Rucklern betätigten, er­zeug­ten sie zu Grundton und Melodie noch ein rhythmisches Schnarren, in dessen Takt die Archontin zwischen den Fackeln vorwärtsschritt, bis sie die Mitte des Platzes erreicht hatte. Bis auf das sonore Tönen der Basssaiten ebbte die Musik nun ab, die Archontin schlug ihre Kapuze zurück, musterte die Menge der um sie versammelten Mannlinge mit strengen und wachsamen Blicken und hub dann zu sprechen an:

„Versammelte Mitgeschöpfe, geliebte Schwestern, arbeitsame Mannlinge: Schonet die Schöpfung. In zwei Nächten wird Luna in diesem Umlaufzwölft zum dritten Male ihre volle Gestalt erreicht haben und wir finden uns hier auf diesem Rund ein, um in tiefer Demut die Gnade des sanften Gestirns auf uns herab­zuflehen. Wenn wir nun ausschwärmen, um heute Nacht und in den nächsten Nächten die Erde für die Aufnahme des Samens zu bereiten, möge Luna uns beistehen, auf dass wir reiche Frucht einbringen.

Wir ackern des Nachts, denn Lunas sanftes Strahlen bewahrt die Natur und öffnet uns die Dinge nur soweit, wie es der Schöpfung frommt. Sols grelles Brennen aber zerrt alles ans Licht und scheint der Natur so ihre Geheimnisse zu entreißen, gaukelt uns ihre Beherrsch­barkeit aber nur vor.

Wir ackern im Rund, denn der Kreis gebiert Sicherheit und Gelingen. Wer sich dem Rund des Kreises im Geist der Mütter in Demut und Besonnenheit anheimgibt, des Werk wird glücken und seine Seele wird gesunden. Der geraden Linie aber folgen Unsicherheit und Misslingen. Wer die Gerade in mannlingscher Hoffart vorwärtsdrängend beschreitet, des Werk wird scheitern und seine Seele wird zuschanden werden.

Solches zu tun ist uns überliefert seit den Zeiten der Großen Verderbnis, als sich die Menschen unrettbar verstrickt in mannlingscher Denkungsart und getrieben von grenzenloser Gier an den Rand des Abgrunds gebracht haben.“

Der Archontin Stimme war immer lauter und eindringlicher geworden und mit dieser Anklage riss sie sich den Kranz der Demut und Besonnenheit von ihrer linken Schulter, reckte ihn mit beiden Händen und ausgestreckten Armen hoch über ihren Kopf und rief:

„So wie die Enden der ineinander verflochtenen Stränge dieses Kranzes immer wieder zueinander finden und kein Strang aus dem Kreis ausbricht, wollen auch wir nicht in mannlingschem Ungestüm und mannlingscher Hoffart aus der Natur ausbrechen, sondern uns in mütterlicher Demut und Besonnenheit ihren Kreisläufen fügen und unterwerfen. Denn nicht wir beherrschen die Natur, sondern die Natur beherrscht uns. Die Natur duldet uns nur. Deshalb fordern wir nichts von ihr. Deshalb drängen wir uns ihr nicht auf. Deshalb nehmen wir nur, was sie uns freiwillig zu geben bereit ist.

Wir Frauen tragen den Kranz der Demut und Besonnenheit, um euch Mannlinge ständig augenfällig zu machen, dass wir unauflöslich in die Kreisläufe der Natur eingebunden sind. Wir tragen diesen Kranz über der linken Schulter, aus der der Herzarm erwächst, um euch Mannlinge ständig zu gemahmen, nicht den Einflüsterungen eures Geistes zu erliegen, der mit der Stimme der Hoffart zu euch spricht, sondern auf euer Herz zu lauschen, in dem euch das ewige Lied der Natur erklingt.

Solches tun wir, damit wir nicht in einer neuerlichen Verderbnis zuschanden werden, sondern in Einklang mit der Schöpfung leben immerdar.“

Mit diesem Appell ließ die Archontin ihre Arme wieder sinken, hängte sich den Kranz über die Schulter, warf noch einen letzten Blick über die versammelte Menge und schritt zu dem Takt des Schnarrens und den Klängen der Melodie, die nun wieder einsetzten, zurück zum Hort der Beratung. Als sich dessen Türen langsam hinter ihr geschlossen hatten, wurde der Sang der Drehleiern immer leiser, nur das Brummen der Basssaiten flutete noch eine geraume Weile über den Platz. Als dann schließlich auch die letzten Schwingungen abgeebbt waren, schwangen die pendelnden Oberkörper der Mannlinge allmählich aus und es kam wieder individuelle Bewegung in die Menge.

Neben Brachvogel, dessen Geist dieses Mal mehr Energie hatte aufwenden müssen als sonst, um den dunklen Lockungen zu widerstehen, erwachte nun auch Agror langsam aus seiner Benommenheit.

„Nun, wohl geruht?“, griente Brachvogel ihn an. Er hatte die eigenartige Wirkung des tiefen Tönens oft genug beobachten können: Stets waren die, die ihm anheim­fielen, von dem beseelt, was die Archontin in solchen Ansprachen beschwor, konnten sich aber mit wachem Geist an nichts erinnern, was vorgefallen war.

„Was heißt hier geruht“, erwiderte Agror, „ich habe die Botschaft der Archontin aufgenommen.“

„So, welche Bot­schaft genau hat sie uns denn heute zu Gehör gebracht?“, hakte Brachvogel nach.

Wie immer, aus einem Dämmerzustand auftauchend, zog Agror, offensichtlich angestrengt überlegend, die Stirn in Falten, konnte aber nichts Fassbares zutage fördern. Er empfand in diesen Situationen die bohrenden Fragen seines Freundes als besserwisserische Kleinkrämerei.

„Ehm, wie dem auch immer sein mag“, erwiderte er etwas unwirsch, „jedenfalls sollten wir keine Zeit vertun, die Gunst der Großen Mondin zu nutzen und damit beginnen, die Äcker zu bestellen. Und zwar so, wie es uns die Große Luna vorgegeben hat!“

Dies brachte er mit der Emphase vor, die stets unter den Mannlingen ausbrach, wenn sie dem dunklen Sang der Leiern ausgeliefert gewesen waren.

Brachvogel wusste aus Erfahrung, dass sich in ein paar Stunden schon die leuchtenden Augen der Mannlinge wieder trüben und die tatkräftige Begeisterung dem gewöhnlichen müden All­tagstrott weichen würde. Einerseits war er froh, der Musik wieder einmal getrotzt und sich seinen eigenständigen Geist bewahrt zu haben. Seit er in der Stätte der Aufzucht erstmals dem tiefen Tönen ausgesetzt gewesen war, hatte er sich dem Sog dessen Lockung immer widersetzt, denn es war etwas in ihm, das sich nicht beugen konnte, sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Oft genug hatte er sich aber auch gewünscht, sich wie Agror anheimgeben und fallen lassen zu können, um für eine Weile sein ich aufzugeben und in der Gemeinschaft der Mannlinge unterzugehen. Es zermürbte ihn, stets mit seinen Gedanken und Gefühlen isoliert zu sein, nicht dazuzugehören, immer am Rande zu stehen.

Die Klave betrieb eine Dreifelderwirtschaft. Während in jährlichem Wechsel ein Drittel der verfügbaren Ackerfläche brach lag, damit die Erde, nachdem sie Frucht erbracht hatte, wieder neue Kräfte sammeln konnte, wurden auf einem weiteren Drittel im Herbst Roggen, Weizen, Dinkel und Emmer angebaut und das letzte Drittel im Frühjahr mit Hafer, Gerste, Hirse, Ölfrüchten und Gemüse bestellt. Die brachliegenden Felder galt es nun in dieser und den folgenden Nächten nach den Regeln von Demut und Besonnenheit behutsam aufzubrechen und für die Aufnahme neuen Samens vorzubereiten.

Überall entwickelte sich jetzt emsige Geschäftigkeit. Die Weisungsfrauen teilten die Mannlinge in Gruppen ein, die sich, um in der für die vielfältigen Tätigkeiten immer zu knapp bemessenen Nacht der vollen Mondin keine Zeit zu verlieren, eiligst zu den Brachen aufmachten. Die Menge wimmelte zunächst wild durcheinander und floss dann in Richtung Lunagleiß hinunter, um sich auf dem Fahrweg in entgegengesetzte Richtungen aufzuteilen. Ein Teil der Mannlinge preschte auf schon bereit­stehenden Reitebseln zu den flussaufwärts gelegenen Äckern, während diejenigen, die die flussabwarts liegenden Brachen zu bearbeiten hatten, in am Ufer festgemachte Boote sprangen.

Da viele Äcker etliche Wegstunden von der Klave entfernt lagen, waren schon Tage zuvor Agror und andere für die Wartung der Ackergerätschaften zuständige Gehilflinge der Eisen­frau jeweils von einer Wächterin beaufsichtigt mit Gespannen der schwerfälligen Zugebsel aufgebrochen, um Saat, Pflüge, Eggen und Proviant zu den Brachen zu schaffen. Sie hatten in die Mitte der Äcker den Pflugpfahl gesetzt und waren dann zu Fuß zur Klave zurückgekehrt, um an der Zere­monie teilnehmen zu können. Jeweils eine Wächterin war zur Bewachung der Tiere, der Ackergerätschaften und der Säcke kostbaren Saatguts auf den zu bearbeitenden Brachen zurückgeblieben.

Jetzt saßen Brachvogel und Agror in einem der übervollen Boote, die auf der breiten Bahn schimmernden Lichts, die die Mondin aufs Wasser warf, die Gleiß hinuntertrieben. Am Ufer zogen die Gewerke und Hütten der Klave vorbei und bald schon hatten sie den südlichen Wall hinter sich gelassen. Die Flanke der Fernwarte senkte sich allmählich und das Land öffnete sich Wiesen, niedrigem Gehölz und kleinen Baumgruppen. Gelegentlich schallte der klagende Ruf eines Ufervogels, der sich gestört fühlte, über die weite Wasserfläche, sonst herrschte bis auf das Knarren der Ruder in den Dollen eine mondene Stille.

An einer bestimmten Landmarke hieß die im Heck sitzende Weisungsfrau die Mannlinge ans Ufer steuern und die erste Gruppe verließ das Boot und machte sich zu den ihr zugeteilten Äckern auf. Dies wiederholte sich einige Male, bis schließlich auch die beiden Freunde an der Reihe waren. Obwohl das Pflügen zu den Obliegenheiten der Springlinge gehörte, hatte es die Eisenfrau auf Brachvogels Bitte hin so einzurichten gewusst, dass diesmal auch ihr Gehilfling Agror mit zum Pflügen ausfuhr. Denn lange schon bewegte Brachvogel eine Idee in seinem Kopf und hatte deren praktische Umsetzung, die er in dieser Nacht erproben wollte, auch schon mit seinem Freunde ausgeheckt.

Vom Fluss war es noch eine Strecke Weges bis zu den Äckern und die beiden Mannlinge schritten, nachdem sie Morast und Röhricht des Ufers hinter sich gelassen hatten, kräftig aus. Der schmale, wenig ausgetretene Pfad wand sich um einige Hügel, bis sie schließlich auf eine weit gestreckte Ebene kamen, von der die Weisen Frauen einst aus Gründen, die sich Brach­vogels Nachvollzug entzogen, orakelt hatten, dass sie geeignet sei, Frucht zu tragen. Am Rande einer kleinen Baumgruppe hoben sich drei kreisrunde und nach dem Sicheln und Jäten schon wieder von handbreit hoch stehenden Unkräutern überwucherte Flächen von den grasbestandenen und mit kleinen und größeren Steinen übersäten Bodenwellen ab. Der jeweils in ihrer Mitte ragende Pflugpfahl warf schon einen deutlich längeren Schatten als Brachvogel zum Zeitpunkt seines Aufbruchs.

Da kam ihnen auch schon sichtlich ungeduldig eine Gestalt entgegen. Gewiss die Wächterin, die hier Wacht hielt und ihrer schon geharrt hatte. Als sie näherkam, erkannte Brachvogel, um wen es sich handelte. „Natürlich, ausgerechnet Bruna“, stöhnte er innerlich, denn mit dieser Frau lag er in Dauerfehde und sie drangsalierte und kujonierte ihn, wo und wie sie nur konnte.

„Um Lunas Willen, wo bleibt ihr denn? Bequemt ihr tumbes Mannlingsvolk euch auch endlich mal her?, herrschte sie die beiden Freunde an. „Brachvogel, du magst zwar Zeugungsträger sein“, sie richtete einen despektierlichen Blick auf seinen Schritt, „aber auch solche wie du haben mit anzupacken. Wir haben jetzt viel­leicht noch fünf Stunden, bis die Sonne aufgeht und unsere Mühen hinfällig werden lässt. Los ihr Tränentiere, kommt in die Hufe und sputet euch gefälligst.“

Wie bittere, den Schlund hochsteigende Galle schluckte Brachvogel eine scharfzüngige Ent­gegnung hinunter. Im Laufe der Zeit hatte er ge­lernt, dass es sinnlos war, zu versuchen, den Frauen auf ihrem angestammten Feld etwas ent­gegenzusetzen. Sie hatten nun einmal das Heft in der Hand und die meisten Mannlinge waren zudem so gestrickt, dass sie ihren Antreibe­rinnen willig folgten wie eine Herde Schafe. Da half es nicht weiter, wenn ein Mannling in alltäg­lichen Belangen den Widerborst spielte und viel­leicht sogar einmal in einem Wortgefecht den Sieg davontrug. Wenn Brachvogel etwas ändern wollte, musste er auf grundlegenderer Ebene ansetzen. Er musste den Kreis der Weisen Frauen und insbesondere die Archontin davon überzeugen, dass es Möglichkeiten gab, die Dinge zu verbessern. Dass das, was seit Genera­tionen althergebracht war und mit den natürli­chen Kreisläufen in Übereinstimmung lag, nicht notwendig auch immer das Beste für die Klave sein musste. Gelang es ihm, seine Ideen umzusetzen, war das der Beweis, dass Mannlinge mehr waren als nur willfährige Gehilflinge und kräftige Arbeitstiere, die von Ebseln im Grunde nur unterschied, dass sie sich Befehle und Anweisungen merken und der Reihe nach abarbeiten konnten. Und das vorzubereiten, bot sich vielleicht heute Nacht die Gelegenheit. Also machte sich Brachvogel ans Werk, ohne Bruna ihren Ausbruch mit gleicher Münze heimzuzahlen. Aus dem Augenwinkel heraus vermeinte er in ihrer Miene Enttäuschung darüber zu lesen, dass er auf ihren Ausfall nicht eingegangen war, den sie auf ihn losgelassen hatte, wie man einem Hund einen Knochen hinwarf.

Es galt als Ackerfrevel, Mutter Erde ihre Früchte frech in einer schnurgeraden Furche abzu­trot­zen. Nach Art der Frauen schmeichelte man ihr die Bitte um Gaben vielmehr in Form einer kreisrunden Furche in den Acker ein. Zu diesem Behufe wurde in die Mitte des Feldes der Pflugpfahl eingeschlagen, um den herum, durch ein Seil geführt, der Pflug seine Kreise zog. Jede der drei Brachen, die Brachvogel zu bearbeiten hatte, erstreckte sich etwa über einhundertvierzig Schritt, also betrug der Halbmesser siebzig Schritt. Das eine Ende eines Seils etwa dieser Länge hieß Brachvogel Agror nun unten um den Pflugpfahl schlingen, während er das andere Ende an dem Joch befestigte, in das er den Zugebsel spannte, der am Rande der Brachen angepflockt war. Dann hakten sie den Pflug in das Geschirr, machten sich geschäftig hier und da zu schaffen und warteten auf den Moment, in dem Bruna, die sie unablässig im Auge hielt, in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen würde. Da diese sie aber nach wie vor mit scharfen Blicken überzog, ergriff Brachvogel den Pflug, schnalzte mit der Zunge und der Ebsel zog an. Wider Willen sammelte sich Brachvogel, denn es erforderte einiges Geschick, das Tier so zu führen, dass es den Pflugpfahl nicht aus der Erde zog, (was es mühelos gekonnt hätte), das Seil aber stets so gespannt zu halten, dass der Pflug einen makellosen Kreis zog und die Furche nicht zum Kreismittelpunkt hin einbrach. Da sich die Länge des Seils nach jeder vollen Runde um den Durchmesser des Pflugpfahles verringerte, um den es sich wickelte, wurden die Kreise allmählich immer näher an ihren Mittelpunkt herangeführt. Lagen dann nach etlichen Runden schließlich mehrere Schichten Seils übereinander, wurde der Abstand zwischen den Furchen immer größer. Deshalb setzte Agror dann dort, wo das Seil die Wicklung verließ, eine Markie­rung, streifte die ganze Wicklung von unten nach oben über den zu diesem Zweck gut ein­geölten Pflugpfahl und schlang das Seil an der markierten Stelle erneut um das Holz. So erreichten sie, dass der Abstand zwischen den Furchen in etwa gleichblieb.

Als sie sah, dass alles reibungslos lief, wandte Bruna sich endlich ab und schickte sich an, sich die Beine zu vertreten. Nun war endlich der Moment gekommen, dass Brachvogel seine Kopf­geburt zur Welt bringen konnte.

Getreu der Losung, sich nur das zu nehmen, was die Natur freiwillig zu geben bereit war, nutzte die Klave seit Frauengedenken Pflüge, die nicht ungestüm und tief in die Erde einbra­chen, sondern deren Sporn den Boden zur Aufnahme des Samens allenfalls anderthalb Handbreit tief ritzten. Die Unkräuter, die die Brachen nach dem Jäten wieder oder noch bedeckten, wurden so zwar entwurzelt, blieben aber auf dem Acker liegen und mussten entfernt werden, bevor gesät und das Saatgut in die vom Pflug gezogenen Rillen eingearbeitet wurde. Nachdem Brachvogel unzählige Male zu solcher Fron eingeteilt worden war, schoss ihm die Idee für einen Pflug durch den Kopf, der die Erde nicht nur ritzen, sondern auch gleich in großen Schollen umwerfen würde. Die Unkräuter würden so nicht nur entwurzelt, sondern untergepflügt werden. Er hatte einmal beobachtet, wie aus einem in die Erde gesunkenen Wurzelballen, der zuoberst der Pflanzen lag, die aus ihm hervorgegangen waren, abermals besonders dichtes Grün spross. Offensichtlich spendeten Pflanzen in der Erde dieser im Vergehen Nährstoffe für neues Wachstum. Vor allem aber würde der Samen so auf eine viel größere Fläche aufnahmebereiter, schwarzer Erde fallen, als nur in die schmalen Furchen eingestreut, die der Ritzpflug hinterließ. Um das zu erreichen hatte er eine Vorrichtung ersonnen, die statt der schmalen Spitze des Ritzpfluges wie eine hohle Hand durch die Erde fahren, diese erst aufwölben und dann umwerfen und zerkrümeln würde.

Um zu erproben, ob sich dies auch in der Praxis so verhielt, führte Brachvogel in seinem Pro­viant­beutel einen handspannenbreiten Holzkeil mit, der sich zu zwei Seiten hin ver­jüngte. Diesen brachte er jetzt zusammen mit Agror mittels eines Seiles dergestalt an dem Pflug an, dass die breite Seite des Keiles an dessen Sporn anlag. Das würde nicht lange halten, dürfte aber genügen, um zu erweisen, ob seine Idee wirklich umsetzbar war. Brachvogel packte die Griffe des Pflugs und der Ebsel zog an. Und in der Tat: Das Unterste kehrte sich zuoberst. Über dem Keil wölbte sich die Erde auf und in schneller Folge sanken fruchtba­re, schwarze Erdklumpen auf die Seite. Zwar riss nach nur wenigen Spannen der Keil ab, die Vorteile der Konstruktion aber waren nur zu offenbar geworden. Brachvogel war aufgefallen, dass der veränderte Pflug dem Ebsel deutlich mehr Widerstand entgegengesetzt hatte. Vielleicht konnte man das mit einem Dop­pelgespann von Ebseln ausglei­chen. Er ging in die Knie, um sich die Lage der Erdschol­len genauer anzusehen, vielleicht sollte er auch den Winkel seines Erdumwerfers noch steiler machen. Aber das waren nur Kleinigkeiten, denen er sich später widmen konnte. Im Prinzip hatte sich seine Idee als tragfähig erwiesen und nur darauf kam es an. Als er sich wieder aufrichtete, wurde er gewahr, dass Bruna sie aus der Ferne beobachtete. Für sie musste die Erprobung des Erdumwerfers so ausgesehen haben, als hätten sie einen Stein aus dem Weg geräumt. Brachvo­gel nahm seine Runden wieder auf und Agror bezog seine Stellung am Pflugpfahl, um die Seilwicklungen zu überwachen.

Bruna war inzwischen nahe herangekommen. Stur und mit zusammengebissenen Zähnen zog Brachvogel seine Runden. Er empfand die ausgeklügelte Prozedur des nächtens im Kreise Pflügens als völlig überflüssige Schnörkelei, die niemandem etwas nutzte. Nicht sollte die Klave der Natur, sondern die Natur der Klave dienen. Was war falsch daran, sich das Leben zu erleichtern? Was war falsch daran, durch Einsatz der richtigen Mittel, die zugegebe­nermaßen tiefer in die Erde eingriffen, einem Acker mehr Frucht abzuringen, als mit einem Ritzpflug möglich war? Was war falsch daran, die altüberkommenen und ausgetretenen Pfade zu verlassen und Neues auszuprobieren? Die Dinge konnten doch nur besser werden! Je län­ger er das Treiben in der Klave von seiner Warte aus betrachtete, desto stärker drängte sich ihm der Verdacht auf, dass es dem Kreis der Weisen Frauen um die Archontin mit all ihrer Demut und Besonnenheit und dem stoischen Beharren auf dem, was schon immer so gewesen war, weniger darum ging, Übel von der Klave abzu­wen­den, als vielmehr darum, die eigene Macht zu festigen und die Mannlinge in Abhängigkeit zu halten.

Aus der Ferne ließ sich jetzt ein kehliges Trompeten vernehmen. Brachvogel hielt inne, blickte voll gespannter Erwartung nach oben und suchte den Himmel ab. Richtig: Von Süden her zog eine Kette von Kranichen ihre pfeilgerade Schnur in die Luft. Es begann wieder! Von nun an würden täglich tausende dieser großen Vögel über den Himmel ziehen. Sie schienen immer ganz genau zu wissen, wohin sie wollten und in den offenen Horizont hinein geradewegs auf ihr Ziel zuzufliegen. Es war dies eine Zeit des Aufbruchs. Alles in der Natur keimte, spross, wuchs, üppigte und geilte, drängte vorwärts, verdrängte dabei anderes und strebte möglichst schnell in die Breite und Höhe, um sich Licht, Luft und Raum zu erobern. Auch Brachvogels Blut wallte vor unbestimmtem Verlangen, grenzenloser Sehnsucht und unbändigem Tatendrang.

Für die Klave aber war das Symbol des Kranzes, das die Archontin eben während der Zeremonie mithilfe des dunklen Tönens in den Köpfen der Mannlinge heraufbeschworen hatte, leider nur allzu treffend: Ihrer aller Leben verlief im Kreis, war erstarrt im ewig immer Gleichen. Doch Brachvogel war es satt, wie ein Ebsel an der Leine im Kreis herumzulaufen. Die Eintönigkeit seiner Tage und das eherne Gehäuse der Riten und Kreisläufe schnürten ihm schier den Odem ab. Er sehnte sich nach dem offenen Horizont. Er wollte wider den Stachel löcken, wollte das Reis sein, das aus dem Rund des Kranzes ausbrach. Er würde sehen, ob er der Archontin nicht die Vorteile seines Pfluges schmackhaft machen konnte. Mochten Demut und Besonnenheit Luna, dem Mondtag und den Müttern gehören, Tatkraft und Stärke der Männer aber gehörten Sol und dem Sonnentag.

Dismatched: View und Brachvogel

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