Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 7

System / ClockedCounter / Update_566 / Takt_15.563.200

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Sicherheit ermöglicht Freiheit. – Mittelung schafft Sicherheit.

Ohne Mittelung keine Freiheit. – Abweichung erfordert Intervention .“

Agency of SocialTechnology

Der erste bewusste Eindruck, an den View sich erinnern konnte, war das sanfte Pulsieren der Statusanzeige ihres MatchingEyes über ihrer GrowUpUnit. Das kaum wahrnehmbare Surren des fliegenden Auges wiegte sie in den Schlaf. Die Linsen der Kameras folgten jeder ihrer Bewegungen. Und im Gegensatz zu den Gesichtern, die sich über sie beugten und wieder verschwanden, den be­wegten Bildern, die von Zeit zu Zeit über ihrem Kopf erschienen und den mechanischen Gebilden, die sich ab und an über ihren Händen drehten, war das MatchingEye ihr nimmer­müder und allgegenwärtiger Begleiter, der von Anbeginn unablässig über ihr schwebte. Seit Views Konzeption in den Genbanken der UterusLabs war über ihr MatchingEye ihr gesamtes Leben in einem kontinuierlichen LifeStream aufgezeichnet und als LifeScript abgespeichert worden.

An diesem Abend wurden anlässlich ihrer Initiation als gemittelte Avera­gedCitizen der Community die KeyVisuals vorgestellt, die das System als maßgebend für Views Werdegang ermittelt hatte. Neben ihrem MatchingAdvisor, ihren CustomBuddys und etlichen Vertretern der Agency of SocialTechnology und der MatchingAdministration hatten sich auch alle ihre Mates 1st-step, etliche 2nd- und 3rd-step und sogar jemand 4th-step im MatchingCube ihres Habitats versammelt.

In dem weiten, dämmerigen Raum flackerten auf holografischen Säulen Schlüsselszenen aus Views bisherigem Leben: View als Embryo im NucleusTank zusammengekauert, zum ersten Mal den Daumen in den Mund führend. View zwischen den Labien des BirthSimulators heraus ins Leben gepresst. View mit gespitzten Lippen in seliger Selbstvergessenheit an der LactoCare saugend. View erstmals ihr MatchingEye fixierend und mit den Augen verfolgend. View ihre ersten Labiallaute bildend. View, der sich ein erstes Lächeln ins Gesicht stiehlt. View die ersten taumelnden Schritte wagend. View bei ihrer ersten selbstständigen Defäkation auf dem AquaCleanAbsorber. View mit vor Konzen­tration zusammengepressten Lippen ihren ersten Kopffüßler malend. View mit leuchtenden Augen während ihres ersten SozioEmpathischen Trainings im CorporateGrowthCenter mit ihren Peers. View bei ihren ersten Schritten in den digitalen Weiten des OmniNets. View in verschiedenen Unterrichtssituatio­nen während ihrer Zeit auf der UniqueSchool of Averaging. View mit glänzenden Augen und vor Erregung geröteten Brüsten während ihres ersten SexDatings im LoveGym mit Hatrico7C7. View in ihrer allabend­lichen MatchingSession beim Screenen ihres DayStreams die Erlebnisse ihres Tages kategorisierend.

View fand es aufregend, so buchstäblich im Blickpunkt zu stehen. Sie schlenderte von Grüppchen zu Grüppchen, begrüßte hier jemand, den sie lange nicht outNet gesehen hatte, wechselte dort ein paar Worte und versuchte im Allge­mei­nen, einen guten Eindruck zu machen, denn während solcher Initiationsfeiern waren in der Regel Recruiter von Firmen und Organisationen anwesend, die einem spannende Joban­gebote machten. Sie rechnete mit hoher Wahrscheinlichkeit damit, von einem Recruiter der Agency of SocialTechnology angesprochen zu werden.

Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von den Szenen ihres LifeScripts abwenden. Bislang war ihr immer nur der Stream ihrer jeweils aktuellen Entwicklungsperiode zugänglich gewesen und nun rauschte ihr Leben erstmals im Gesamtzusammenhang an ihr vorbei. Man­ches war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte oder es völlig aus ihrem Bewusstsein verschwunden war. Neben vielen verschwommenen Eindrücken und Empfindungen, die die Szenen aus ihrer frühen Kindheit in ihr auslösten, stieg plötzlich ganz unmittelbar und eindringlich das Gefühl von Sicherheit und Angekommensein in ihr hoch, das sie nach ihrem ersten SozioEmpathischen Training erfüllt hatte.

Sie musste etwa 5 gewesen sein, als ihr Betreuer einen beim ProductMemory ausgebroche­nen Streit zum Anlass nahm, alle 8 Kinder des Samples der GenKohorte327XK4, mit denen View im CorporateGrowthCenter täglich zusammen war, zur Unterweisung zu schicken:

„Ihr seid jetzt alt genug, um zu begreifen, warum es immer wieder zu solchen Zankereien kommt und morgen werden wir lernen, was wir machen können, damit dies in Zukunft nicht mehr so ist.“

Am nächsten Tag war dann ihr MatchingAdvisor gekommen und die Kinder hatten sich mit ihm in einen Kreis gesetzt und er hatte sie gefragt:

„Wenn ihr euch aussuchen könntet, eine Frucht zu sein, welche würdet ihr dann sein wollen? Wenn ihr ge­wählt habt, bekommt ihr jeweils einen Sticker mit dieser Frucht auf euer Shirt.“

Die bekann­testen Lieblingsfrüchte waren schnell gefunden und in denjenigen Fällen, wo mehrere Kinder etwa einen Apfel oder eine Birne wollten, wurden die Sticker einfach nummeriert, um eine eindeutige Identifikation mit ihrem Träger zu ermöglichen. View meinte sich zu erinnern, nach langem Zögern eine Kiwi gewählt zu haben, weil sie mit dieser Frucht bestimmt keinem anderen Kind in die Quere kommen würde. Sie war stets auf Sicherheit bedacht, wollte sich keine Blöße geben, da sie die Reaktionen ihrer Peers nie abschätzen konnte. Sie war in der Gruppe die Außenseiterin, schwamm immer nur ganz am Rande mit, ängstlich darauf be­dacht, weder völlig abzudriften noch in den Strudel der Aktivitäten gezogen zu werden, in dem sie fürchtete unterzugehen. Sie fühlte sich immer fremd und war in der Gruppe niemals völlig entspannt.

„Was mögt ihr denn an euren Früchten besonders und was eher nicht? Wie sollten sie sein und wie eher nicht?“, verfolgte der Advisor seine Strategie weiter und ent­wickelte mit den Kindern die Gegenpole von süß und sauer, weich und hart, knackig und laff, fruchtig und herb, reif und unreif etc. Für jeweils eine dieser Dichotomien mussten die Kinder sich dann entscheiden, um die tendenziell positive oder negative Befindlichkeit ihrer Frucht zu charakterisieren. Und auch hier gab es dann die entsprechenden Sticker: Zuckerwürfel und Zitrone für süß und sauer, Kissen und Stein für weich und hart, ein prall-grünes und ein runzlig-gelbes Salatblatt für knackig und laff etc. Auch diese Sticker brachten die Kinder an ihrem Shirt an, das jeweils eher negativ besetzte Attribut aus Sicht des Betrachters links und das eher positiv Besetzte rechts neben ihrer Frucht.

„Ich möchte, dass ihr diese Sticker in Zukunft immer tragt und euch morgens immer fragt, wie ihr euch als eure Frucht fühlt, wie ihr riecht, wie ihr schmeckt, wie ihr ausseht“, entließ sie ihr Advisor. „Gut oder schlecht, knackig oder laff, süß oder sauer? Und wenn ihr eure Wahl getroffen habt, macht ihr die Smileys und Grumpies, die ich euch jetzt austeile, rechts oder links an eure Frucht. Einen Smiley rechts, wenn ihr euch eher gut fühlt und mit den anderen etwas machen wollt und einen Grumpie links, wenn ihr euch eher schlecht fühlt und wollt, dass die anderen euch vorsichtig behandeln. Wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, ist das nicht schlimm, dann lasst sie einfach weg. Aber dann können die anderen nicht wissen, wie ihr euch fühlt, und behandeln euch vielleicht falsch.“

View gehörte zu denen, die morgens immer ihren Smiley oder Grumpie setzten und sie hasste es, wenn andere sich nicht entscheiden konnten. Endlich war sie mit ihren Gefühlen nicht mehr völlig auf sich zurückgeworfen, war aus dem Sumpf ihrer Innerlichkeit gezogen, der sie von den anderen isoliert hatte. Sie musste nicht länger befürchten, nicht verstanden zu werden oder unangemessen zu reagieren. Sie legte ihre Befindlichkeit und ihre Gefühle offen und im Gegenzug offenbarten sich die anderen ihr. So konnte es weniger zu Missverständnissen und Animositäten kommen. Und das Setzen der Smileys oder Grumpies geschah nicht etwa nur nach Lust und Laune der Kinder, sondern war vom MatchingAdvisor und den anderen großen Citizens ausdrücklich erwünscht und verbindlich gemacht worden, so dass die Kinder über­zeugt davon waren, das Richtige zu tun. Falls Views Befindlichkeit sich tagsüber einmal nicht so entwickelte, wie sie es morgens angezeigt hatte ‒ und das war eigentlich oft der Fall ‒ be­mühte sie sich trotzdem, sich so zu fühlen oder zumindest so zu geben, um den Erwartungs­haltungen ihrer Peers zu entsprechen und sie nicht ins Leere laufen zu lassen. Damit lagen die sonst so komplizierten zwischenmenschlichen Dinge nun zum Greifen offen. View hatte end­lich Verhaltenssicherheit erlangt und binnen weniger Wochen dümpelte sie nicht mehr im Brackwasser am Rande ihrer Gruppe, sondern stand in deren Zentrum.

Vergaußt und gemittelt, waren diese Zeiten schon lange vorbei, lächelte View in sich hinein. Anstelle der Unsicherheit und des Gefühls des Verlorenseins, die ihre ersten Lebensjahre geprägt hatten, waren Sicherheit und Berechenbarkeit getreten und heute bereiteten ihr ihre SocialRelations keinerlei Probleme mehr. Das System hatte ihr auf der Basis von identischen oder kompatiblen MatchingPoints jede Menge Mates zugewiesen, mit denen sie eine Grundgesamtheit bildete, deren Mitglieder mit ihren übereinstimmende Features und Merkmalsausprägungen aufwiesen oder solche, die sich sinnvoll ergänzten. Ihr gesamtes gesellschaftliches Leben spielte sich innerhalb dieser SocialUnit ab und sie genoss es, rund um den Takt eine Gruppe von Peers zu haben, mit denen sie ihre Interessen, Ideen, Wünsche und Vorlieben passgenau teilen und auch weiterentwickeln konnte. Jede Minute ihrer Zeit war getaktet und verplant. Sie war es gewohnt, ständig aktiv zu sein, Dinge zu machen und Spaß zu haben. Wie alle anderen Citizens auch genoss sie jederzeit schnelle und konkrete Verwirklichung im Hier und Jetzt. Alles war berechenbar und umgeben von Services und Produkten, die ganz unmittelbar Nutzen und Vergnügen stifteten, waren die Menschen in ein absehbares und verlässliches Gefüge von Abläufen und Aktivitäten eingebettet.

Wie View im Geschichtsunterricht an der UniqueSchool of Averaging gelernt hatte, war das Leben nicht immer so erfüllt und so sicher gewesen. In den Zeiten vor dem Finalen Kataklysmus, als die Community sich dem Takt des Systems noch nicht überantwortet hatte, konnte man nie wissen, was auf einen zukam und wälzte folglich ständig Probleme, hegte weitreichende Vorstellungen und wartete geduldig auf irgendetwas Erhabenes oder Beglückendes, das ebenso groß wie unbestimmt war und ohnedies niemals eintrat.

Jetzt hatte View die School mit einem Score von fast 100 Prozent abgeschlossen und ihr vom System erstelltes Profil im OmniNet würde das Interesse vieler spannender Organisationen wecken, so dass sie aus etlichen Jobalternativen frei würde wählen können. Sie war sich noch nicht restlich darüber im Klaren, welche Richtung sie exakt einschlagen sollte. Aber die Ergebnisse der noch ausstehenden Tests und Auswertungen würden auch ihre letzten Zweifel und Unsicherheiten ausschließen, so dass sie sich hundertprozentig sicher sein konnte, zur richtigen Entscheidung geführt worden zu sein. Die Konturen ihres zukünftigen Lebens waren abgesteckt und vermessen und erstreckten sich klar vor ihr wie das feste Band der AntiGrav, über die die Verkehrs- und Warenströme der Urb verliefen.

„Na, alles im Mittel?“, zog Siema27#X, eine von Views FirstMates, sie auf die Seite. „Wie findest du mich?“ fragte sie mit einem triumphierenden Grinsen, reckte den rechten Arm in die Höhe, winkelte die Hand ab und deutete mit dem Zeigefinger von oben auf ihren Kopf, während sie sich um die eigene Achse drehte.

Siema surfte immer auf dem Kamm der höchsten Welle dessen, was gerade gauß war. Aktuell waren das die CoatingCo­lours. Siema schillerte in allen 7 Farben des Regenbogens, dessen Streifen sich ohne Unterbrechung gleichermaßen über ihre Kleidung, die textilfreien Hautpartien an Händen, Armen und Ausschnitt, ihr Gesicht und ihre Kopfhaut zogen.

„Wie hast du das denn hinbekommen?“ erwiderte View anerkennend.

„Neue Produktlinie von EpidermaSoft und SecondSkin. Du ziehst ein spe­zialbeschichtetes weißes Suit an, gewissermaßen als Grundierung ‒ und da gibt es einiges an Auswahl ‒, gehst dann zu einem ColourPoint, schlüpfst in die Kabine, wählst ein Motiv, machst die Augen zu und bekommst es dann nahtlos auf die Klamotten und dein Astralkörperchen appliziert. Funktioniert ungefähr so wie eine Rundumdusche, in der du das Ganze dann übrigens abends auch wieder abspülen kannst.“

„Das ist auch gut so, sonst würdest du morgens wahrscheinlich aussehen wie ein zerlaufenes Ganzkörpermakeup“, lachte View.

„Hab dir und den Mates den Lead zu den Produktsites schon geschickt“, infor­mierte Siema und verschwand wieder zwischen den Leuten, um sich bewundern zu lassen.

View ließ ihren Blick über die bunte Vielfalt im Saal schweifen. Siema war eindeutig der Paradies­vogel und würde wahrschein­lich wie schon so oft wieder einmal Trendsetterin sein.

Da waren etwas abgehoben wirkende Gestalten in grauen Overalls mit dem Emblem der MaAd auf der Brust; zwei senkrecht aufgestellte Handflächen, die zu einem HighFive ansetzten und durch eine Spiegelung in einer langen Kette von HighFives ins Unendliche zu laufen schienen. View hatte dieses Emblem der Mat­chingAdministration immer als etwas unpassend empfunden. Die „Matchies“, wie sie genannt wurden, waren als kühle Techniker und akribische Verwalter eher nicht für ihre Temperamentsausbrüche bekannt. Wahrschein­lich versuchte man durch das Symbol der HighFive die Akzeptanz und Attraktivität der Adminis­tration in der Öffentlichkeit zu erhöhen.

In der MatchingAdministra­tion liefen sämtliche Datenströme der Urb zusammen. Diese LegionBytes an Daten wurden auf der Basis von auf molekularer Ebene codierter und dann synthetisierter DNA in gigantischen Datenbanken gespeichert und für den Zugriff der verschiedensten Stellen und Dienste aggregiert. Wer hier arbeitete, nahm zum Frühstück wahrscheinlich codierte DNA-Sequenzen zu sich, um die darin gespeicherten Informationen im Falle eines Systemausfalls jederzeit abrufbereit zu haben. Das war nicht Views Ding, denn das System hatte ihr stark ausgeprägte Empathiefähigkeiten und einen hohen Wert in emotionaler Intelligenz ausgewiesen und daher wollte sie nicht mit Daten, sondern mit realen Menschen arbeiten. Das Betätigungsfeld der Matchies betraf dagegen immer nur den digitalen Abdruck der Realität, auch wenn View natürlich klar war, dass der in der Administra­tion geschärfte Abdruck dann wiederum der Realität seinen Stempel aufdrückte.

Völlig anders dagegen lagen die Dinge bei der Agency of SocialTechnology, die stets von der Aura des Geheimnisvollen umgeben war. View war zwar bekannt, dass hier die LifeScripts aller Citizens, ihre sämtlichen Ratings und Rankings sowie die der Mates ihrer jeweiligen SocialUnits ausgewertet und daraus dann Psychogramme und die entsprechenden MatchingPoints abgeleitet wurden, aber wie das im Detail ablief und was hier noch so alles abging, konnte sie nur vermuten. Ganz offensichtlich an der Arbeit der Agency war nur, dass von Zeit zu Zeit deren Scouts auf­tauchten, viele Fragen stellten oder als stille Beobachter aus einer Ecke heraus das Geschehen mit Argusaugen verfolgten, um dann wieder zu verschwinden. So konnte View auch jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen, wer von den Citizens im Raum ein Scout der Agency war. Nicht an der Kleidung, denn die Agents passten ihr Outfit in der Regel dem des Umfelds an, in dem sie gerade tätig waren, wohl aber an ihrem Verhalten: Diejeni­gen, die sich intensiv mit anderen unterhielten, dabei aber oft die Gesprächsgruppen wechselten, um möglichst viele Eindrücke zu gewinnen, mochten Scouts der Agency sein.

View tauchte in der Menge ihrer Mates und Buddies unter und steuerte auf das Buffet zu, um sich mit einem SurpriseDrink auszustatten. Dieses von der EventFactory neu entwickelte Getränkekonzept beruhte darauf, dass der unbedarfte Flüssigkeitsliebhaber aus den unter­schiedlichsten Zutaten, die nicht im Detail, sondern nur in Form allgemeiner Geschmacksrich­tungen oder ihrer erwartbaren Wirkung ausgewiesen waren, sein ganz individuelles Getränk zusammenstellte. Das Areal der SurpriseDrinks nahm auf dem Buffettisch eine erstaunlich große Fläche ein.

In Fächern mit Beschriftungen wie süß, sauer, salzig, fruchtig, bitter, aromatisch, pfeffrig, klebrig, perlend oder belebend, beruhigend, aufwühlend, nachdenklich stim­mend, euphorisierend und vielen mehr lagen unscheinbare Aluwürfel, die lediglich die entsprechende Kategorie, eine Mengenangabe und – wenn vorhanden – den Alkoholgehalt oder den einer anderen Droge aufwiesen. Außerdem gab es da Korrelationen, die View bislang noch nie mit einem Getränk in Verbindung gebracht hatte: Pelzig-samtig, trocken-sandig, langsam-sackend, feurig-stürzend, quälend-ziehend, kurzlebig-wuchtig, nachhaltig-erstaun­lich etc. Angesichts der Jobanbahnungsgespräche, die sie hier noch führen würde, beschloss sie, um die Zutaten mit Prozentangaben einen weiten Bogen zu machen. Auch das Fach mit dem Hinweis „?!“ mied sie geflissentlich. Nachdem sie spontan etwa 10 Aluwür­fel mit der Beschriftung nach oben auf ein Tablett gelegt hatte, ordnete sie diese in 3 Gruppen an, legte einige Würfel zurück und ersetzte sie durch solche, die ihr passender erschienen. Mit ihrer Komposition zufrieden, schob sie die Aluwürfel nacheinander in die Aufnahmeöff­nung des Mixers und betätigte den Startknopf. Das Gerät heulte kurz auf und entließ dann eine schäumende Flüssigkeit undefinierbarer Farbe in das unter dem Ausguss stehende Glas. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.

Uh, auf diese Geschmacksexplosion war sie nicht vorbereitet, fruchtig und dabei süß und pfeffrig zugleich. Gar nicht übel eigent­lich, nur sehr ungewohnt, aber vielleicht gerade deshalb interessant genug, um sich schwarz auf weiß ausdrucken zu lassen, welche Ingredienzien genau sie sich da in welchem Mischungsver­hältnis zusammengerührt hatte. So konnte sie die Mixtur bei einer späteren Gelegenheit exakt reproduzieren. Einen passenden Namen dafür hatte sie auch schon: SecureFuture. Ganz sicher mit dieser Benennung war sie sich allerdings nicht. Vielleicht erlebte sie ja bezüglich der Kategorie „nach­haltig-erstaunlich“ noch eine böse Überraschung, doch vorerst ging es ihr sehr gut.

Ihr Glas in der Hand stand View eine Weile unschlüssig herum und überlegte, in welches der Grüppchen sie sich einklinken sollte, als einer der Citizens, von denen sie vermutet hatte, dass er zur Agency gehörte, direkt auf sie zusteuerte.

„Kibele2k5?“

Aha, dachte View und nickte, tatsächlich die Agency.

„Sei gemittelt. Schöne Feier hier! Mein Name ist Sonol2ak von der Agency of SocialTechnology. Sicher hast du schon von uns gehört.“

„Natürlich ist mir die Agency ein Begriff.“

„Wir besuchen Initiationsfeiern wie diese hier aus gutem Grund, weil sich uns so eine Gelegenheit bietet, persönlich mit solch hoffnungsvollen Talenten wie dir, die frisch die UniqueSchool abgeschlossen haben, ins Gespräch zu kommen. Hast du Interesse?“

„Wie könnte ich kein Interesse haben? Die Agency ist einer der potenziellen Arbeitgeber, die mir das System mit hoher Wahrscheinlichkeit angetragen hat – aber das weißt du schon.“

„Sicher. Aufgrund deines Profils war das natürlich abzusehen. Aber Genaueres müssen wir hier auch gar nicht besprechen. Widme dich doch wieder deinen Gästen und komm morgen nach der BadPastLesson gegen Takt 54.000 bei uns vorbei. Dann besprechen wir alles Weitere. Den Lead zu meinem Profil und meinen LokalisationPoint habe ich dir bereits übermittelt. Ist das so Okay für dich?“

„Vielen Dank, ja, das werde ich tun“, bestätigte View. „Ich freue mich.“

„Dann also bis morgen“, nickte ihr der Agent noch einmal freundlich zu und verschwand wieder in der Menge.

Doppelgauß, das ließ sich ja ganz wie erwartet an, resümierte View. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sie also bei der Agency anfangen!

Erst jetzt merkte sie, wie angespannt sie den ganzen Takt über gewesen war. Zwar hatte sie ein Recruitinggespräch in etwa dieser Richtung erwartet, aber eine Realität, die ihre Erwartungen auch tatsächlich eingelöst hatte, war immer beruhigender, als eine lediglich erwartbare Realität, selbst wenn sie eine relativ hohe Eintrittswahrscheinlichkeit hatte.

Views Blick blieb an einem der HoloScreens hängen, die die Szenen aus ihrem LifeStream zeigten. Hier musste sie etwa 12 MajorTakte alt gewesen sein. Sie stand mit der Gruppe ihrer Peers vor einem Gehege im AnimalDrom und bot sichtlich begeistert einem Waschbären, der sie durch seine von dunklem Fell umrandeten Augen zutraulich ansah, auf der flachen Hand eine Portion synthetischer Kerne an. Sie konnte sich noch daran erinnern, selbst auf die Gefahr hin, dass etwas von dem Waschbärnasch herunterfiel, den Hinweis ihres AnimalAdvisors genau befolgt zu haben, dabei die Handfläche keinesfalls zu wölben, damit das AnimalPet nicht auf die Idee kam, an ihren emporgerichteten Fingerspitzen zu knabbern.

View aktivierte den Timer ihres AeroFlats: Takt 3.487. Es war schon spät und sie merkte, dass ihre Energie um den Nullpunkt herumdümpelte. Sie drehte noch eine kurze Runde, um sich bei Freunden und Besuchern ihres Initiation­Events zu bedanken und zu verabschieden und machte sich dann zu ihrem Hexagon auf. Bevor sie das Bewerbungsgespräch mit dem Recruiter der Agency führte, wollte sie ihren Entspannungszyklus voll ausschöpfen. Die Wohnräume innerhalb der einzelnen Habitate waren konzentrisch um den MatchingCube angeordnet und so dauerte es nicht lange, bis sie die Tür ihres Hexagons hinter sich geschlossen hatte, das nur ein kleines Stück den CircuitWalk hinunter lag.

Auf dem großen Screen, der den Raum beherrschte, trat ihr eine mittelgroße Frau gegenüber, unter deren fließendem Gewand sich schlanke Glieder abzeichneten. Unter kaum wahrnehmbaren, wie fragend hochgezogenen Augenbrauen blickten sie leicht oval geschnittene blaue Augen an. Dieser Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass sie sich niemals damit begnügte, die Dinge nur oberflächlich wahrzunehmen, sondern überall genau hinsah, um Durchblick zu bekommen, hatten View auch ihren Nickname eingetragen. Sie fand, dass die filigranen Win­dungen ihrer kleinen, enganliegenden Ohren zu der fast perfekt symmetrisch geformten Wölbung ihres kahlen Kopfes einen wirkungsvollen Kontrast bildeten. Die relativ hoch angesetzten Wangenknochen gaben ihrem Lächeln etwas strahlend Offenes. Mit ihrer Nase dagegen war sie nicht ganz so einverstanden, der vielleicht eine Spur zu breite Sattel erschien ihr ein wenig unvorteilhaft. Auch ihre Lippen waren vielleicht etwas zu schmal, das Kinn vielleicht eine Spur zu weich definiert. Aber all das würde sich gegebenenfalls ändern lassen. Nach einer Phase ziemlich radikaler schönheitschirurgischer Eingriffe sah es aktuell allerdings fast so aus, als würde wie so oft der Trend ins Gegenteil umschlagen und sogenannte natürliche Gesichtszüge gauß werden. Momentan war View mit ihrem Aussehen aber ganz zufrieden. Es diente ihrer Selbstvergewisserung, wenn sie sich zusätzlich zu ihrem Konterfei auf dem Screen noch in den Spiegeln sah, mit denen 3 der 6 Wände des wabenförmig angelegten Raumes versehen waren.

Sie klatschte in die Hände:

„Licht: 500 Lux, flächendeckend, cremeweiß; Geruch: Anis; Musik: Brain-

Smoother von den Averagers.“

Da sie Ordnung, Überschaubarkeit und Klarheit über alles schätze, verfügte Views Hexagon über eine Ausleuchtung, die keine Schattenareale entstehen ließ. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass der Duft von Anis sie in kürzester Zeit herunterbrachte und die Klänge von Brain­Smoother taten ihr Übriges. View bevorzugte klare Linien und matte, helle Farben und so hatte sie ihren Raum in den LivingStyles „elementar“, „funktional“, „sachlich“ und „puristisch“ ausgestattet; Kategorien, in denen sie jeweils die höchste von 5 möglichen Merkmalsausprägungen gewählt hatte. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie sich Sonoki3ab, eine ihrer FirstMates, in Styles wie „verschwurbelt“, „versponnen“ und „verschattet“ wohlfühlen konnte. Deren Hexagon war eine von schwach rötlichem Licht erfüllte Höhle, in der nichts an dem Platz zu sein schein, an den es gehörte und allein die Anzeigen auf dem Screen verlässliche Orientierung ermöglichten. Da View und Sonoki aber 95 Prozent ihrer Mat­chingPoints teilten und so in fast allen anderen Kategorien übereinstimmten, verstanden sie sich trotz dieser unterschied­lichen Auffassung von Wohnen blendend. Das zeigte wieder einmal, welch differenzierte Analyse das System leistete, wenn es Citizens antrug, sich zu matchen.

View teilte ihr Hexagon mit einer MonsteraDeliciosa, deren große Photosyntheseflächen nachgewiesenermaßen halfen, das Wohnklima zu verbessern. Da sie gern die Kontrolle über die Dinge behielt, bereitete ihr ungehemmtes und chaotisches Wachstum Unbehagen und sie versuchte, die Triebe ihres floralen Elementes in eine möglichst zylindrische Form zu binden. Überstehende Photosyntheseflächen stutzte sie regelmäßig zurück, wobei sie darauf achtete, die Luftwurzeln nicht zu beschädigen, da diese der Versorgung dienten.

Für eine MatchingSession war sie jetzt zu müde und wollte gleich auf ihr RestBoard. Sie war sich ziemlich sicher, dass heute nichts vorgefallen war, das gematched werden musste und auch das Screening und Classifying der Rankings, die ihre Peers den Tag über vorgenommen hatten, konnte bis morgen Abend warten. Aber eine möglichst pralle Zirkulationsdusche musste einfach sein. Sie zog sich aus, schlüpfte in die Nasszelle und stellte die 8 Brauseköpfe auf höchste Intensität. Nachdem sie sich von den konzentrierten Wasserstrahlen 2 Intervalle hatte durchprickeln lassen, schaltete sie auf Trocknen und ließ sich von der warmen Luft umschmeicheln. Wie immer nach einem Tag, der ihre Erwartungen mehr oder weniger zuverlässig eingelöst hatte, beschloss die Dusche Views Aktivitätsphase und sie fühlte sich physiologisch optimal auf ihre Regenerationsphase von 7 MacroTakten vorbereitet. Sie fuhr das RestBoard aus der Wand und wählte als Einschlafmodus „sanfte Dünung“. Die Ruhepneumatik versetzte das Board in die entsprechende Bewegung und innerhalb des Medians ihrer Einschlafzeit von 5 MinorTakten sank View in ihren traumlosen Schlaf. Sobald die Sensoren ihres MatchingEyes registrierten, dass ihr Körper in den Ruhezustand übergegangen war, aktivierte sich das in das dritte Auge integrierte Morpheus­tron, dessen Strahlung dafür sorgte, dass die Citizens ihre Ruhephase optimal nutzten und nicht durch Traumerinnerungen aufgewühlt erwachten.

Dismatched: View und Brachvogel

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