Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 9

System / ClockedCounter / Update_566 / Takt_15.592.006

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View sah sich um. Wie immer war die CinemaHall ihres Habitats bis auf den letzten Platz besetzt. Ein Member der Authority of PoliticalIndoctrination betrat die Bühne.

„Ich hoffe, bei euch ist alles im Mittel? Wie immer freue ich mich, euch zu unserer gigataktlichen BadPastLesson in diesem historischen Ambiente begrüßen zu können. Wieder einmal möchte ich euch zu unser aller Erstaunen und Erheiterung von den Absonderlichkeiten und Kruditäten aus der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus berichten.“

Gar nichts war im Mittel, grollte View innerlich. Wie jeder Citizen war sie es gewohnt, sich über die Immersionsfunktion ihres AeroFlats, wo und wann auch immer sie wollte, Bildinformationen direkt auf die Netzhaut projizieren zu lassen und so tief in das Geschehen eintauchen zu können. Hier dagegen saß man Ellenbogen an Ellenbogen, Reihe um Reihe auf mega niedergaußen Sitzgelegenheiten, die auf einer schiefen Ebene angeordnet, jedem dem Blick auf die sogenannte „Leinwand“ erlauben sollten, über die die von der Authority of PoliticalIndoctrination aus historischen Beständen zusammengestellten „Filme“ flimmerten.

Die CinemaHall war einem der sogenannten „Kinos“ nachempfunden, wie sie vor dem Kataklysmus üblich gewesen waren. Viel FakeWood und die Wände von einer roten, wallenden Textur bedeckt, die wohl „Samt“ oder „Plüsch“ geheißen hatte. Die Toninformationen schepperten aus „Lautsprecher“ genannten Kästen, die ebenfalls an der Wand hingen. Die Luft roch stumpf und abgestanden. Im Licht der „Scheinwerfer“ stiegen und sanken unzählige Staubpartikel. View schau­derte. Wenn die Atmosphäre in ihrem Hexagon so kontaminiert wäre, würde sie umgehend eine ServiceUnit ordern, damit die Filter durchgecheckt würden. Doch dauerten die Lessons nie so lange, dass ihr die Luft schädlich wer­den konnte und sie lernte so manches Wissenswerte über eine Vergangenheit, die die Urb zum Glück längst hinter sich gelassen hatte. Vieles von dem, was sie hier erfuhr, konnte sie kaum glauben und vieles ängstigte sie sogar.

„Heute werden wir sehen, wie sich die Menschen vor dem Kataklysmus eingezwängt in sogenannte Automobile fortbewegt haben. Diese, nennen wir sie besser Zerknalltreiblinge, bezogen ihre Energie aus einem Explosionsmotor, in dem die zu einer sirupartigen, schwarzen Flüssigkeit zusammengepressten Überreste von Tieren und Pflanzen verbrannt wurden. Diese Motoren verursachten einen Höllenlärm und stießen stinkende Abgase aus, die die gesamte Umwelt vergifteten. Aber seht und – vor allem – riecht selbst.“

Die Authority machte nie viele Worte, sondern ließ die Bilder sprechen, die auf archaischen Datenträgern in Archiven gefunden worden waren, die die Wirren des Kataklysmus weitgehend unbeschadet überstanden hatten.

Auf der Leinwand erschien ein körniges Bild, das sich flackernd in Bewegung setzte. Aus großer Höhe zoomte die Kamera auf eine endlose Schlange leidlich aerodynamisch geformter Vehikel, über der die Luft vor Hitze flimmerte. Nur alle paar MinorTakte schob sich die Kolonne ein paar Meter vorwärts, um dann wieder zum Stillstand zu kommen. Die Gesichter der Insassen hinter den geschlossenen Scheiben der Vehikel sahen nicht besonders glücklich aus. Aus den Lautsprechern hämmerte der Lärm der Motoren und jetzt emittierten verborgene SmellJets den beißenden Gestank der Verbrennungsmotoren, der den Teilnehmern der BadPastLesson binnen MicroTakten die Tränen in die Augen trieb.

„Und sollten die Blechkisten tatsächlich einmal freie Fahrt gehabt haben, ist es oft zu schrecklichen Unfällen gekommen“, verkündete der Moderator der Authority.

Unversehens wechselte der RetinaLaser von Views AeoroFlat aus dem StandBy in den Modus höchster Immersion und ihre Netzhaut wurde mit einer Flut beängstigender Bilder überzogen. Sie saß am Steuer einer solchen Blechkiste. Die Frontscheibe war voller Schlieren, doch konnte View sehen, dass sie mit rasender Geschwindigkeit unausweichlich auf ein Hindernis, offensichtlich ein anderes Automobil, zusteuerte. Der Aufprall raubte ihr sämtliche Sinne. Ihr Sitz bebte.

Die Immersion brach ab und View fand sich zitternd im Saal des antiken Kinos wieder.

„Für viele von euch mag die heutige Vorführung etwas drastisch gewesen sein“, beruhigte der Moderator seine Teilnehmer. „Aber ihr kennt die GuideLine der Authority: So schonend wie möglich, um eure, an den Komfort und die Sicherheit der Urb gewöhnten Gemüter nicht zu erschüttern, aber so authentisch wie nötig, um euch vor Augen zu führen, dass wir durch den Prozess der Mittelung im Begriff sind, die beste aller Welten zu erschaffen.“

Immer noch mit weichen Knien, drängelte sich View neben den anderen Citizens durch die engen Türen der CinemaHall in die gewohnte antiseptische Weite der Urb und war froh, für ihren anstehenden Besuch bei dem Recruiter der Agency die AntiGrav benutzen zu können.

Als sie die ihrem Habitat nächstgelegene TransmissionStation am Rand ihres LivingGround betrat, erstreckte sich vor ihr das Panorama der Urb über mehrere Plattformen, die in unterschiedlicher Höhe und Ausdehnung in die v-förmig gegrätschten Pfeiler der gewaltigen Pylone eingehangen waren, die auch die Kup­peln der Domes stützten, die die Urb überspannten. Jede der 32 auf 8 Höhenleveln versetzt zueinander angeordneten Ebenen trug eine Sektion, einen Ground der Urb, dessen Skyline jeweils von den Flagshipstores eines bestimmten Premiumanbieters beherrscht wurde. Während sich View auf ihrem Ground 22 auf Level 6 im unmittelbaren Umfeld ihres Habitats mit sämtlichen Produkten des täglichen Verbrauchs versorgen konnte, besuchte sie für viele Events oder eine möglichst repräsentative Shoppingtour auch die anderen Ebenen. Wie immer, wenn sie ihre Plattform länger nicht verlassen hatte, genoss sie die Weitsicht, die sich ihr von der Station aus bot.

Unmittelbar vor ihr dehnten sich die Bänder der AntiGrav in die Ferne, über deren ZeroGravitationStrings Gütertransport und Individualverkehr der gesamten Urb verliefen. Die 4 parallel angeordneten Strings waren um diese Zeit dicht mit geräuschlos dahingleitenden Cabs besetzt, die auf den äußeren Bändern mit hoher Geschwindigkeit passierten, während das Tempo auf den inneren Spuren kontinuierlich abnahm. Direkt über View trafen 2 Kuppeln aufeinander, deren Dome­Animation an den Rändern fließend ineinander überging. Heute Morgen projizierten die Laser einen strahlend blauen Sommerhimmel in die Wölbungen der Domes und ließen einen glutroten, scharf konturierten Sonnenball seine Bahn ziehen, ohne dass dabei Licht und Wärme der natürlichen Sonne abgeblockt wurden. Eine Schönwetterwolke, die von der über Ground 28 stehenden animierten Sonne rötlich angestrahlt wurde, schwamm von Ground 24 über Views LivingGround. Die Kongruenzfunktion der DomeAnimation sorgte dafür, dass der simulierte Himmel auch unter die tragenden Flächen aller Plattformen projiziert wurde und sich dort nahtlos fortsetzte, so dass für den Betrachter, dessen Position sich unterhalb einer Ebene befand, der Eindruck entstand, als würde sie schweben. Tief unter sich blickte View auf die mit üppiger Vegetation besetzten Dächer der vielstöckigen DomeScraper von Ground 18 und leicht versetzt noch darunter lagen die Tops der Habitate von Ground 12. Die Sockel vieler Gebäude standen in Feuchtbiotopen, deren Wasser durch den Wasserdruck und die an den Außenhüllen anliegenden Antischwerkraftfelder direkt an den Wänden in die Höhe geleitet wurde. Der so entstehende dünne Wasserfilm versorgte die Moose und Kletterpflanzen, mit denen die Wände bewachsen waren und schuf so ausgedehnte Verdunstungsflächen, die die Atmosphäre unter den Kuppeln verbesserten. Links von View war die Luft vom Tosen eines Wasserfalls erfüllt, der hoch über ihr von Ground 32 auf den weit unter ihr schwebenden Ground 16 hinunterstürzte. Feiner Nebel stieg auf, der in allen Farben des Regenbogens glitzerte, den die DomeAnimation in die Wassermassen projizierte. Die Kaskade war Teil der GaußKatarakte, deren Kreislauf die Grounds 32, 24, 16 und 8 miteinander verband.

View schnupperte: Die SmellJets emittierten einen Geruch von Jasmin. Aus den SoundSpheres erklang der neueste Hit der Mediatics, der allerdings im Don­nern des herabstürzenden Wassers fast unterging. Geschieht euch recht, dachte View. Zwar standen die Mediatics in den Rankings ihrer SocialUnit ganz oben, aber sie fand ihre Harmonien einfach nur einfältig und plump. Unterschwellig wunderte sie das, denn in allen anderen Rankings war sie zu 95 Prozent gemittelt, aber was Musik anging, war sie offensichtlich etwas eigen. Wenn, wie sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartete, das Gespräch mit dem Recruiter der Agency erfolgreich verlaufen war, würde sie sich in ihrem neuen CatharsisEgg erst einmal eine Session mit ihrer Lieblingsband, den Averagers, gönnen.

Das Egg war eine eiförmige Entspannungseinheit, deren Deckel View hinter sich zuziehen und sich so von der Außenwelt hermetisch abkapseln konnte. Die innere Wölbung des MusicCaves des Eggs ihrer Wonne war ganzflächig mit SoundSpheres bestückt, deren Klänge ihren Körper wie ein zähflüssiges Fluidum umhüllten und die Liege, auf der sie sich wohlig ausstreckte, in frequenzgenaue Schwingungen versetzte, die sich unmittelbar ihrem Rückgrat mitteilten. View genoss es, auf den Klängen ihrer Lieblingsband zu floaten. Das Egg war kostspielig und von ihrem Grundein­kommen hätte sie sich diesen Luxus nicht leisten können. Aber Pear.Inc, die MateCompany, die als Kundenpate Views Werdegang sponserte, hatte ihr zum Abschluss der UniqueSchool mit der Basisversion des KatharsisEgg einen langgehegten Wunsch erfüllt. Sollte sie einmal richtig Pay­Points verdienen, würde sie sich die AdvancedVersion des Egg zulegen, deren SensoHaptoren nicht nur den Anschein der Schwerelosigkeit erweckten, sondern den Floater tatsächlich schweben ließen.

Jeder Citizen ging im Alter von 12 Jahren mit einem Anbieter seiner Wahl eine auf Langfristigkeit angelegte Kundenbindung ein. Mit Zwölf hatte jeder hinreichende Produkt- und Angebotskenntnisse sowie genügend Markttransparenz erworben, um eine begründete Wahl für diese wichtige Partnerschaft treffen zu können, die exklusiv, aber nicht verbindlich war. Kunden und Unternehmen sahen in dieser Allianz eher Chance als Pflicht. Vonseiten der Anbieter, die ihre angehenden Kunden mit einer Patenschaft umwarben, hieß es daher:

„Wir haben die Verpflichtung, unseren Kunden zu dienen. Unsere Kunden aber nicht die Pflicht, bei uns zu kaufen.“

Mit dem Zustandekommen eines Clientingkontrakts wurden die jungen Citizens zu Markenbotschaftern ihrer MateCompany. Sie testeten Warenmuster, bevor die Produkte in den offenen Verkauf kamen und beantworteten im Zuge von Neuentwicklungen entsprechende Fragen zu Design und Funktionalität. Im Gegenzug gewährte ihnen der Konzern Sonderkonditionen, sponserte ihre Ausbildung und stellte einen Arbeitsplatz in Aussicht, den sie antreten konnten, falls ihnen das System keine anderen Möglichkeiten antrug. Die Unternehmen hatten mit ihren Patenkunden Scouts und Multiplikatoren in den Zielgruppen und konnten hoffen, lebenslang einen begeisterten Kunden zu haben und dessen Ertragswert in Form des CustomerLifetimeValue voll auszuschöpfen.

Die jungen Citizens ließen sich das Logo ihrer MateCompany auf die Innenseite ihres linken Unterarms einskinnen. Auf Views Arm prangte das Bildlogo von Pear: eine stilisierte auf der rechten Seite angebissene Birne, mit einem einzelnen, ebenfalls nach rechts gerichteten Blatt. Lange vor Views Zeit hatte Pear mit dem PearMonchalard den Prototyp eines portablen Kommunikators auf den Markt gebracht. Die Technik dieses AirSolidifiers beruhte darauf, durch Ionisation aus einer nur wenige Moleküle mächtigen Luftschicht ein nanostrukturiertes Gitter zu formen, das als Projektionsfläche für die durch einen Laser projizierten Inhalte diente und wie ein Touchscreen benutzt werden konnte. Inzwischen trug jeder ein solches, AeroFlat genanntes Gadget am Arm, über das die gesamte mobile Kommunikation lief. Die MatchingEyes, die alle Citizens, zwei Armlängen über ihren Köpfen schwebend, wie ihr persönlicher Duft überallhin begleiteten, stellten als HotSpot die Verbindung zum System her.

View war sich lange nicht sicher gewesen, welches Unternehmen sie zu ihrer MateCompany machen sollte, aber neben den gaußen Produkten, dem besonderen Flair und der Stimmigkeit der Markenwelt hatten letztlich ihre Einkaufsstatistik und ihre Rankings und Suchen im OmniNet den Ausschlag für Pear gegeben. View hatte sich bei ihren Peers sehr engagiert für ihre Company eingesetzt und war mit der Zeit für ihre Alterskohorte zu einer der maßgebenden OpinionLeader geworden. Und jetzt hatte sich das Unternehmen dafür erkenntlich gezeigt. Dass MateCompanies ihren Paten zum Abschluss der UniqueSchool Geschenke machten, war durchaus üblich, wenn auch nicht in dieser Großzügigkeit. Das nagelneue KatharsisEgg in ihrem Hexagon führte View auf sehr angenehme Weise vor Augen, damals zur richtigen Entscheidung geleitet worden zu sein. Pear war einfach eine doppelgauße Company. View hatte immer gedacht, einmal hier zu arbeiten, aber gerade aufgrund ihres Erfolgs als Multiplikatorin und des Gespürs für wirtschafts-soziale Zusammenhänge und die entsprechenden individuellen Befindlichkeiten, die sie damit unter Beweis gestellt hatte, hatte ihr das System in letzter Zeit vermehrt Auswertungen angetragen, die ihr ausgezeichnete Analysefähigkeiten sowie einen äußerst hohen Score in Networking und emotionaler Intelligenz bestätigten. Konsequenterweise konnte das nur auf einen Job in der Agency hinauslaufen. Und hier war sie nun auf ihrem Weg zum Einstellungsgespräch!

Um zur Agency zu gelangen, musste View die halbe Urb durchqueren. Der Sitz der Sozialtechniker lag auf Ground 32, 2 Höhenlevel über ihrem Habitat auf Ebene 22. Sie gab die Zielkoordinaten auf dem Reif ihres AeroFlats ein und nach kurzem Takt scherte eine Einheit der AntiGrav aus dem endlosen Strom der an ihr vorbeiziehenden Cabs aus und hielt direkt vor ihr. Sie stieg in die rundum transparente Kabine und sank in den Sitz, dessen Gurte sich sofort locker um ihr Becken und ihre Unterschenkel wanden, die Arme aber frei ließen. Mit dem Schließen der Einlassöffnung hob sich das Cab an, setzte sich langsam in Bewegung und driftete allmählich nach außen, wobei es zunehmend Geschwindigkeit aufnahm, bis schließlich auf dem äußersten String die wuchtigen Blöcke der Schwerkraftneutralisatoren aus massivem Cavorit in immer schnellerer Folge unter ihr vorbeiwischten und zu einem einzigen grauen Streifen verschwammen, als die Höchstgeschwindigkeit erreicht war. Da innerhalb der Kabine nun Schwerelosigkeit herrschte, teilte sich Views Körper die rapide Beschleunigung nicht mit. Während die Gurte sie sanft in ihrem Sitz hielten, genoss sie das Gefühl, ihre Arme ohne jede Muskelanstrengung in der Luft schweben lassen zu können. Eine ganze Weile glitt sie zwischen den Grounds auf dem Höhenlevel ihrer eigenen Ebene dahin, bis sich ihr Cab verlangsamte, um dann in einem senkrechten Uplift zum nächsten und übernächsten Höhen­level hinauf zu schwimmen. Hier querte View noch 2 weitere Plattformen und umrundete fast den halben Ground 32, bis endlich die Station in Sicht kam, die ihr der TrafficPilot als DockingStation für diese Ebene zugewiesen hatte. Das Cab manövrierte nach innen, verringerte die Geschwindigkeit, kam kurz zum Stillstand, um sich dann auf einem der 8 Strings einzuordnen, über die der Verkehr transGround auf den Plattformen onGround verteilt wurde.

Auf Ground 32 gab es keine Habitate und Wohnkuben, es war die kleinste und höchstgelegene aller Plattformen und wurde nicht umsonst CapitalGround genannt. Hier waren neben den Headquartern der maßgeblichen MarketPlayer und der Agency of SocialTechnology auch alle anderen administrativen Organisationen angesiedelt: die MatchingAdministration und ihre gigantischen Datenspeicher; die BigDataAlliance mit ihren mächtigen Kumulatoren und Aggregatoren; das Board of PredictiveProfiling, dessen Wahrscheinlichkeitsberechnungen sämtliche Aktionen der SecurePatrol steuerten und die sozial-urbanen Planungen fundierten; die Authority of PoliticalIndoctrination, die unter anderem für die BadPastLessons verantwortlich war; die BuyingGuidance, deren BuyingGuards darauf achteten, dass jeder Citizen sein Persönlichkeitsprofil über eine stringente Einkaufsbiographie stärkte; die für die Einführung von Produktinnovationen zuständige BetterLifeCorporation; die PeerNetworkingParty, die während ihres gesamten Konsumentenlebens die Vergleichswerte der Einkäufe der Peers einer Alterskohorte verwaltete und deren CustomerLifetimeValue erstellte, der SocialRankingCircle, der die Wahlen der Citizens anleitete, die ihre sozialen Aktivi­täten betrafen, und viele weitere Organisationen, die dafür sorgten, dass das Leben der 3 Millionen Citizens der Urb komfortabel und sicher war, weil es in gemittelten und erwartbaren Bahnen verlief, deren Eintretenswahrscheinlichkeit exakt quantifizierbar war. Es wurde gemunkelt, dass sogar die Zentraleinheit des Systems auf dem CapitalGround untergebracht war.

Heute Morgen schien die halbe Citizenship der Urb hier zu tun zu haben, doch der TrafficPilot verteilte den Andrang wie immer souverän und der Verkehr lief zwar langsam, aber flüssig. View ließ ihre Arme über ihrem Kopf schweben und die Werbung auf sich wirken, die auf die megaformatigen InfluenceBoards gestreamed wurde, die sich zwischen den Gebäuden spannten und an deren Wänden hochzogen. Im jeweiligen Einflussbereich eines Boards emittierte ihr Cab den jeweils passenden Sound. Wie 98,5 Prozent der Peers ihrer Bezugsgruppe genoss View intelligent gemachte Werbung und fand es erstaunlich, welchen Output an faszinierenden Produkten und sinnvollen Services die Corporations der Urb leisteten. Sie freute sich darauf, durch eine Tätigkeit in der Agency zukünftig dazu beitragen zu können, dass dieser nie versiegende Strom an Leistungen in den Bahnen verlief, die Komfort, Wellness und Sicherheit aller Citizens steigerten. View fand es wesentlich beeindruckender, die Commercials auf den Influen­ceBoards zu verfolgen als auf dem Screen ihres Hexagons. Die riesigen Bilder und bewegten Szenen vor der im Licht der DomeAnimation flirrenden Kulisse der Urb unter den weit gespannten Kuppeln zu erleben, überwältigte sie jedes Mal von neuem.

Aha, da waren ja die CoatingColours, die ihr Siema gestern Abend vorgeführt hatte. Und hier: Offenbar gab es eine noch neuere Version des KatharsisEgg, die mit einem Set von Düften arbeitete, das man entsprechend der Musikrichtung wählen konnte, mit der man den MusicCave des Eggs beschallte. Sie wies ihr Matching­Eye per VocalCommand an, einen entsprechenden CommercialMarker in ihren DayStream zu setzen: Dieses gaußaktuelle KatharsisEggOdour wollte sie sich gemütlich zuhause im OmniNet näher ansehen. Sie war gespannt, welche Duftalternativen ihr das System für die Musik der Averagers antragen würde.

Regelmäßig wurde die Werbung durch Indoctrinations des Systems oder irgendeiner Administration unterbrochen, deren Urheber immer kurz nach dem Slogan eingeblendet wurde.

„Korrelationen ermöglichen Berechenbarkeit. − Berechenbarkeit schafft Sicherheit.“ Das musste von der MatchingAdministration und BigDataAlliance kommen. Korrekt!

„Sicherheit ermöglicht Freiheit. − Freiheit erfordert Sicherheit.“ Das war mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftiger Arbeit­geber. Richtig, das Logo der Agency erschien: eine stilisierte gaußsche Glockenkurve.

„Wer die Zukunft er-mittelt, sichert die Gegenwart.“ Board of PredictiveProfiling.

„Nur ein professionell angeleiteter Kauf stärkt dein Persönlichkeitsprofil!“ BuyingGuidance.

„Messen, wählen, teilen. Was nicht messbar ist, existiert nicht.“ SocialRankingCircle.

Der Screen flimmerte und wurde völlig dunkel. Dann erschienen große weiße Schriftzeichen. Kein Clip, kein Ton, nur Text.

„Dein Schlaf gehört dir!“

Das konnte View nicht einordnen. Ein Anbieter von Luxusliegen? Kein Urheber. Da, auch auf dem nächsten InfluenceBoard.

„Dein Schlaf gehört dir!“

Jetzt überlagerte dieser seltsame Slogan immer wieder für einige MicroTakte die Werbung auf sämtlichen Boards, die View passierte, ohne dass jemals angezeigt wurde, von wem er stammte. Dann war es vorbei und die üblichen Reminder erschienen wieder.

Inzwischen war der Tower der Agency in Sichtweite gerückt. Er lag mitten in einem Geschäftsviertel, an dessen Peripherie die AntiGrav endete. View verließ ihr Cab, gewöhnte sich kurz an die Schwerkraft, die ihre Arme nun wieder nach unten zog, und bestieg einen der bereitstehenden Hover, mit denen Kurzstrecken zurückgelegt wurden. Als Member der Agency hätte sie einen speziellen Zubringer der AntiGrav nutzen können, aber noch hatte sie keinen Kontrakt mit ihrer DNA gesiegelt und so schlängelte sie sich durch die Menge der Citizens, die ganz offensichtlich ihre CasualFreeTime genossen und durch die ShoppingMalls flanierten, die eine der Prachtstraßen der Urb, die GaußAvenue, säumten. Selbst in diesem dichten Gedränge konnte sie sich erlauben, den SpeedoMat des Hovers hochzuziehen, denn dessen CrashDefender verhinderten Zusammenstöße, verur­sach­ten aber des Öfteren einen ziemlichen Schlingerkurs, um eben diese zu vermeiden.

Vor View tauchte eine Citizen auf, deren Brust und Rücken mit Tafeln behängt waren, auf denen Werbung für RetroFashion aufgebracht war. Richtig, die BadPastLessons hatten ja wieder einmal CuriosityWeeks ausgerufen, deren Thema diesmal „Die Entwicklung der Werbung vor dem Finalen Kataklysmus“ war. Diese Citizen war eine SandwichWoman, ein wandelnder Werbeträger und EyeCatcher, wie er damals wohl üblich gewesen war. View grinste vor sich hin. Kurios, in der Tat. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich mit solch statischen und analogen Informationen begnügen zu müssen, sondern liebte es, alle Pros und Cons von Angeboten umfassend und in allen Fassetten im OmniNet zu recherchieren und sämtliche Rankings der Peers ihrer SocialUnit dazu einholen zu können. Nur so ließ sich eine sichere und ihrem Psychogramm kongruente Kaufentscheidung treffen.

Die GaußAvenue endete unter einem monumentalen Bogen in Gestalt einer Glockenkurve, der auf den MesotesCircus führte, einen weitläufigen Platz, auf dem der Tower der Agency bis fast unter die Kuppel ragte. „Ohne Mittelung keine Freiheit. – Abweichung erfordert Intervention.“, stand über dem Portal. Diese Botschaft wurde nicht wie üblich auf ein InfluenceBoard gestreamed, sondern war als gewissermaßen in Stein gehauenes MissionStatement in weithin sichtbaren Lettern in das Material der Außenhaut des Gebäudes eingelassen. View stellte ihren Hover ab und sah sich um. Der Platz war dicht mit Citizens besetzt, die nach ihrer Shoppingtour an einer der zahlreichen Fontänen saßen oder in das Foyer des AgencyTowers strömten, um sich vor Ort die neuesten Statistiken anzusehen, was vor dem Hintergrund dieses Ambientes wesentlich eindrucksvoller war, als die Daten lediglich im OmniNet abzurufen.

View fiel ein Citizen auf, der sich gerade auf eine Mauer schwang, die eine der Fontänen einfasste. Seine Erscheinung wirkte irgendwie deran­giert, ohne dass sie hätte sagen können, woran das lag. Der Mann breitete die Arme aus und schrie etwas über die schwach blinkenden Statusanzeigen der MatchingEyes hinweg, die über den Köpfen der Menge schwebten. View konnte nur den Rest verstehen:

„Ich bin ein Rufer in der Wüste und wahrlich, ich sage euch:

Die Fülle des Daseins ist verdorrt,

das Salz des Lebens ist verweht,

das eherne Regime der Mittelung verurteilt euch zu ewigem Gleichmaß.

Was ihr nicht suchet, werdet ihr nicht finden.

Was ihr nicht erwartet, wird euch nicht geschenkt werden.

Was ihr euch nicht vorstellen könnt, wird euch nicht beglücken.“

Erst als die Gestalt von der Mauer sprang und zwischen den Citizens untertauch­te, wurde View klar, was ihr so seltsam vorgekommen war. Ein Solist? Konnte es sein, dass über dem Kopf dieses „Rufers“ kein MatchingEye schwebte? Doch ehe sie darüber Gewissheit erlangen konnte, war er schon in der Menge verschwunden.

Sie wies dem Vorfall keine besondere Bedeutung zu und betrat das Foyer der Agency, dessen Decke sich erst in der Höhe mehrerer Stockwerke über ihr wölbte. Auf den HoloSäulen, mit denen der weitläufige Raum bestückt war, tickerten die aktuellen Statistiken und Umfrageergebnisse und nahmen in um die eigene Achse rotierenden Kubusdiagrammen dreidimensionale Formen an.

View ließ sich auf ihrem AeroFlat den Weg zu Sonols WorkingCell 68/56 in einer der oberen Etagen zeigen. Da der Lift keine Zwischenhalte ansteuerte, erreichte sie Level 68 nach kurzem Takt. Dort passierte sie eine lange Flucht identisch aussehender Türen und hatte schließlich Cell 56 erreicht. Ihr Besuch wurde schon auf dem VisitorDisplay angezeigt: Kibele2k5, Takt 54.000. Die Anzeige blinkte. Sie wurde also erwartet und konnte eintreten. Sonol2ak saß über sein ManagingDesk gebeugt und arrangierte und manipulierte mit weit ausholenden ikonografischen Gesten die zahlreichen 3D-Diagramme, die aus dessen Screens wuchsen und mit ihrer Gestalt auch ständig ihren Aussagegehalt veränderten. Eine Seite der Cell war transparent und bot View einen spektakulären Ausblick. Vor ihr breitete sich nicht nur die Topografie des CapitalGround, sondern auch die der nächstgelegenen Plattformen aus.

Sonol blickte auf: „Willkommen in der Agency, Kibele2k5. Sei gemittelt.“

„Sei ebenfalls gemittelt, Sonol2ak“, erwiderte View, die Mühe hatte, ihren Blick von dem phänomenalen Panorama loszureißen. „Ich freue mich sehr, hier zu sein.“

„Ja, wir überblicken von hier aus die halbe Urb und was noch besser ist, wir haben das Verhalten der 3 Millionen Citizens und der 93.750 SocialUnits der gesamten Urb fest im Griff“, lachte Sonol und legte besondere Emphase auf „gesamte Urb“. „Aber nimm doch Platz.“

View sah sich um. Die einzige freie Sitzgelegenheit, ein drehbarer und in Höhe und Achsneigung stufenlos verstellbarer Sitzpilz, war nicht, wie sie eigentlich erwartet hätte, vor dem ManagingDesk, sondern dahinter, direkt neben Sonols Pilz platziert. Das ließ erfreulicherweise darauf schließen, dass in der Agen­cy LeanManagement nicht nur propagiert, sondern auch praktiziert wurde. View nahm Platz, richtete sich aus und arretierte mit einem leichten Schlag auf den Stil Sitzhöhe und Neigung.

Sonol wandte sich von seinen Diagrammen ab und schwang auf View zu. „Vorab bin ich gehalten ‒ nur für den Fall, dass wir nicht zusammenkommen, wovon ich zwar nicht ausgehe, aber immerhin ‒ dich darauf hinzuweisen, dass du alles, was du in diesem Gespräch erfährst, streng vertraulich behandelst. Wenn du Member der Agency bist, bekommst du ohnehin eine Sicherheitseinstufung, aber solange du die noch nicht hast, muss ich mich darauf verlassen können, dass nichts, worüber wir nun sprechen werden, aus den 6 Wänden dieser Cell dringt. Einverstanden?“

„Sicher.“

„Wir hier in der Agency versehen gewisse hoheitliche Aufgaben, die mehr als entscheidend für die Mittelung und damit für die Sicherheit und das Weiterkommen der Urb sind und wir sind der Meinung, dass uns das zu einem gewissen Sonderstatus berechtigt.“

Aufmerksam fixierte Sonol Views Blick und als er nichts darin fand, was ihn daran hindern konnte, offen zu sprechen, fuhr er fort: „Bislang bist du, wie alle anderen auch, sicher der Ansicht, dass alle Citizens in ihrem Wünschen, Streben und Verhalten nach Möglichkeit gemittelt und folglich gleich sind. Das ist im Prinzip auch angemessen und in Bezug auf Wellness und Sicherheit aller auch dringend notwendig. Und doch gibt es einen Unterschied. Du kennst den Grundsatz: ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen.‛ Diesem Grundsatz trägt das BasicIncome Rechnung, das jeder Citizen bezieht und das unabhängig dessen, was er zum großen Ganzen beiträgt, einen grundlegenden Lebensstandard sichert, hinter den niemand zurückfallen kann.“

Hier drängte sich View sofort der Gedanke an ihr KatharsisEgg auf. Schon die BasicVersion hätte sie sich von ihrem Grundeinkommen nicht leisten können und an das KatharsisEggOdour wäre erst gar nicht zu denken.

„Wir hier in der Agency erweitern nun den Grundsatz ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen‛ um den Zusatz ‚Dem Einzelnen gemäß seinen Fähigkeiten‛. Die Grundbedürfnisse aller Citizens sind gleich und jeder der 3 Millionen Citizens unserer Urb hat ein Anrecht darauf, dass sie befriedigt werden.

Doch die Fähigkeiten der Citizens sind ungleich verteilt und um die Urb in Funktion zu halten, ist auch eine gewisse Diversität der unserer Citzenship zugrunde liegenden Genkulturen unumgänglich. Ganz vordergründig betrachtet erfordern administrative und steuernde Funktionen nun einmal höhere Qualifikationen als rein repetitive und reproduktive Tätigkeiten. Die BadPastLessons werden dir anschaulich gemacht haben, dass in den Zeiten vor dem Finalen Kata­klysmus ein Großteil der Menschen in solchen rein reproduktiven oder gar repetitiven Sektoren tätig war. Die sich in sturer Mechanik ständig wiederholenden repetitiven Tätigkeiten haben wir gründlich abgeschafft und auch der Großteil der reproduktiv versorgenden Arbeiten ist von den Service- und MaintenanceUnits übernommen worden.

Mit dem erforderlichen Abstand und angesichts der komplexen Hintergründe betrachtet, wäre es aber trotz dieser Errungenschaften in Wissenschaft, Robotik und Nanotechnologie suboptimal, in unseren GenBanken und UterusLabs nur Citizens mit herausragenden Fähigkeiten zu generieren, weil wir damit gewissermaßen alles auf eine Karte setzen würden. Denn sämtliche Informationen, die uns aus der Zeit vor dem Kataklysmus zur Verfügung stehen, haben gezeigt, dass nur die Systeme längertaktig überlebensfähig waren, die über eine gewisse Vielfalt ihrer Mitglieder verfügen konnten. Ausschläge ins Extreme, sowohl eine zu hohe Diversität und Vielfalt als auch eine zu große Homogenität und Einheitlichkeit, waren dagegen immer verhängnisvoll.

Eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität zu schaffen lautet daher die Devise. Im Grunde eben genau das, was die klassische Gaußsche Glockenkurve auszeichnet.“

Sonol hielt inne, lächelte und sah View an: „Wenn ich zu sehr ausschweife, unterbreche mich ruhig. Konntest du mir bis dahin folgen?“

„Geht schon in Ordnung. Ich frage mich nur, was hier konkret die Aufgabe der Agency ist.“

„Die Aufgabe der Agency ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass Genpool und Sozialisation zu ungefähr gleichen Teilen zur Entwicklung und damit dem Verhalten der Citizens beitragen; es ist bislang noch nicht gelungen, das genaue Verhältnis exakt zu ermitteln. Den GenCoktail können wir zwar zu 100 Prozent bestimmen, die Sozialisation, die ja bei aller Normierung und Mittelung immer auch auf subjektivem Erleben beruht, lässt sich dagegen nicht hundertprozentig beeinflussen.

Die Generierung neuer Citizens überlassen wir getrost den Biotechnikern, die gemittelte Qualität der Sozialisation zu gewährleisten aber ist unser Ding. In Bezug auf die Konzeption neuer Citizens hört die Arbeit der Genbastler genau dann auf, sobald ein kleiner Citizen sich anschickt, den BirthSimulator zu passieren. Da die Sozialisation aber ein Leben lang andauert, begleitet die Agency einen Citizen eine weitaus längere Strecke und unsere Einflussnahme endet erst, wenn ein Citizen die Ebene wechselt und sein Körper in den ZeroWaste-Kreislauf eingespeist wird.

Schon die Einführung des BirthSimulators geht auf uns zurück. Statt unseren ausgereiften Nachwuchs einfach den NucleusTanks zu entnehmen, schicken wir ihn durch den engen Schlauch des BirthSimulators und simulieren so die Bedingungen der Humangeburt. Als Kinder noch auf dem sogenannten natürlichen Wege auf die Welt kamen, war die Erfahrung der Enge des Geburtskanals das erste Angsterlebnis, das für ihre spätere Einstellung gegenüber Risiken und Gefahren prägend war. Der Mythos und psychologische Studien besagen, dass das Angstempfinden von Kindern, die dieses Geburtstrauma nicht durchleben, geringer ausgeprägt ist. Und Citizens, die wenig oder gar keine Angst haben, verhalten sich nicht berechenbar und sind damit nur schlecht zu mitteln. Das ebenfalls von uns entwickelte Konzept der BadPastLessons beruht ebenfalls auf Angst.“

Und es funktionierte, erinnerte sich View schaudernd an ihre Fahrt in dem „Zer­knall­treibling“.

„Aber ich schweife ab – deine Aufgabe in der Agency: Um also im Rahmen der Sozialisation jedes Citizens diese, wie schon gesagt, überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität schaffen zu können, suchen wir solche aus der Masse he­rausragenden Talente wie dich. Du hast mit deinem Einsatz für deine MateCompany – übrigens eine sehr gute Wahl – eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass du nicht nur die Motive der Peers deiner unmittelbaren SocialUnit, sondern da­rüber hinaus auch die anderer Citizens nachvollziehen und in gemittelte Bahnen lenken kannst, die daher geeignet sind, die WirtschaftsSozialität der Urb zu stärken.“

Hier sah Sonol View erwartungsvoll an.

„Was hätte ich denn in dieser Hinsicht in der Agency konkret zu tun?“

„Diese berechtigte Frage habe ich schon viel früher erwartet. Offensichtlich bist du aber an Hintergründen interessiert und kannst zuhören, ohne zu unter­brechen und vorschnell falsche Schlüsse zu ziehen. Auch eine nicht ganz unbedeutende Qualifikation für den Job, den wir dir anzubieten haben. Ich will versuchen, mich kurz zu fassen.

Die grundlegenden Abläufe der Matchingprozesse in der Urb sind dir natürlich bekannt: Ihr Ziel ist – und das kann ich nicht oft genug wiederholen – das Schaffen von Sicherheit durch eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität. Lass uns mit diesem Ziel im Hinterkopf einmal die grundlegenden sozialen Aktivitäten ins Auge fassen, also im Grunde alles das, was du im Rahmen einer MatchingSession managst. Was regelst du denn da so?“

View zögerte kurz. War das eine versteckte Prüfung? Doch wie auch immer, sie musste antworten. „Ich bewerte, ranke, klassifiziere und kategorisiere das, was die Peers meiner SocialUnit und ich tagsüber erlebt haben, um es in Übereinstimmung zu bringen und Mitteln zu können.“

„Was machst du da beispielsweise ganz konkret?“

„Ich beurteile und bewerte meine Meinungen, Einstellungen und mein Verhalten, indem ich sie den vom System angetragenen Kategorien zuweise und in ein Ranking einordne, ich klassifiziere Produkte und Services, bringe sie ebenfalls in eine Rangfolge und analysiere so meine und die entsprechenden Käufe der Peers meiner Social­Unit ... und im Zweifelsfalle starte ich eine Matching­Schleife, um ein Verhalten, die Bewertung eines Verhaltens oder die Bewertung eines Produktes oder eines Services zu mitteln.“

„In welchem Zweifelsfalle?“

„Ja, natürlich immer dann, wenn ein Peer im Verhalten, einem Kauf, einer Meinung oder einem Classifying vom Mittel meiner SocialUnit zu sehr abweicht, versuchen wir übrigen Peers das in einem MatchingLoop wieder anzugleichen und zu mitteln.“

„Ganz genau! Wie erlebst du es, wenn deine SocialUnit wegen deines eigenen Verhaltens oder Votens ein MatchingLoop startet?“

„Dann bin ich immer neugierig festzustellen, aufgrund welchen Verhaltens, welcher Wahlen, Classifyings und Votings ich vom Mittel abge­wichen bin und bin, ehrlich gesagt, auch immer etwas unruhig, bis dann alles geklärt ist.“

„Schön. Das verstehe ich sehr gut. In der Regel kann es ja durchaus einigen Takt dauern, bis jemand wieder in die Mitte seiner Unit zurückgeholt wird. Schließlich sollen der Loop und die individualisierten Anträge des Systems ja niemanden abrupt in die Mitte zurückzwingen, sondern davon überzeugen, dass Mittelung eine höhere Lebensqualität bringt, weil sie unser aller Leben vorhersehbar und damit sicherer macht. Unser Ziel, eine absolut sichere Gesellschaft zu schaffen, können wir langfristig nur über Einsicht erreichen. Zwang schafft zwar kurzfristig Stabilität, provoziert aber letztlich immer Widerstand. Und Widerstand macht die Dinge unberechenbar.

Aber, um auf unser Thema zurückzukommen, deine Aufgabe in der Agency: Worin siehst du den Unterschied zwischen einem Kauf oder einem Verhalten einerseits und einer Bewertung, einem Ranking oder einer Klassifizierung andererseits?“

„Mhm, was meinst du damit?“

„Kaufen und Verhalten oder Classifying und Ranken ... all das sind wirtschafts-soziale Handlungen. Aber siehst du zwischen ihnen einen grundlegenden Unterschied?“

Was sollte das nun wieder? View überlegte angestrengt. „Verhalten und Kaufen lassen sich irgendwie anders nachvollziehen als Classifying und Ranken. Wer was, wie, wo und zum großen Teil auch warum gekauft hat, ist in OmniNet ja in allen Details nachvollziehbar und alles Verhalten wird von den Recordern unserer MatchingEyes aufgezeichnet und ist jederzeit wieder abrufbar. Classifying und Ranken sind zwar auch dokumentiert, aber sie sind einfach nicht so greifbar ... da ist noch etwas anderes, irgendwie noch mehr.“

„Nicht so greifbar … Das gefällt mir gut. Du bist auf der richtigen Spur. Denke da mal weiter.“

„Verhalten und Kaufen sind vielleicht die äußeren Ergebnisse von eher inneren Prozessen, die mit Meinungen und Bewertungen, also letztlich mit Classifying und Ranken zu tun haben.“

„That’s it: innen und außen. Eine Einsicht wie diese hatte ich von dir erwartet und damit hast du exakt die Grundlage und dringende Notwendigkeit unseres Jobs charakterisiert! Die LegionBytes an Daten, die in der MatchingAdministration zusammenlaufen, schaffen einen überaus mächtigen Datenkorpus und mittels der dort gespeicherten LifeScripts lässt sich praktisch jede wichtige Schlüsselszene im Leben eines jedes Citizen nachvollziehen und beurteilen. Auf Basis der Algorithmen, die uns das System anträgt, sind wir in der Lage, aus Daten, die scheinbar nicht das Geringste mit einander zu tun haben, Zusammenhänge zu erkennen und Bezüge zu stiften, denen wir mit unseren kurz greifenden Alltagsverstand und logischem Denken nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen wären.

Etwas überzogen ausgedrückt, korreliert das System die Frequenz des Wimpernschlags und die Anzahl der Sommersprossen von Korol2ax auf Ground 7 und seine Präferenz, in 83,54 Prozent seiner Besuche im HoloCine auf Ground 29 in Reihe 18 zu sitzen, mit der Tatsache, dass Agnat6n4 niemals auf Ground 12 zum RhythmClimbing gegangen ist, und kann darüber die Wahrscheinlichkeit, dass Azot5m1 in den nächsten 12,53 MegaTakten im FlagshipStore von Pear auf Ground 19 einen ChaosOrganizer 3.0 kaufen wird, mit einer bis auf die vierte Nachkommstelle exakten Wahrscheinlichkeit prognostizieren.

Damit haben wir nicht alles, aber doch das meiste im Griff. Es ist tatsächlich so: Korrelationen bringen Vorhersagbarkeit und damit Sicherheit. Wenn du nun noch bedenkst, dass wir selbst das Verhalten von Dismatchten ‒ so bezeichnen wir Citizens, die lang anhaltend oder extrem abweichen ‒ durch individuell zugeschnittene Fragen und Anträge des Systems Stück für Stück wieder recentern, ausmitteln und sie zudem durch die Bindungs- und Kohärenzkräfte der Matching­Loops ihrer jeweiligen SocialUnit nach und nach wieder zentriert werden, wird klar, dass wir mit hoher Wahrschein­lichkeit einen Großteil des Verhaltens voraussagen können. Der Zuwachs an Sicherheit für die Urb steigt so kontinuierlich.

Aber so mächtig der uns zur Verfügung stehende Datenkorpus und die allgegenwärtige Tendenz zur Mittelung auch sind, erfassen wir letztlich doch immer nur das Äußere eines wirtschafts-sozialen Verhaltens. Das System kann den Citizens immer nur vor die Stirn blicken, nicht aber in den Kopf sehen. Doch wir sind ehrgeizig, wir wollen mehr. Erst wenn sich uns auch das Innere jedes einzelnen Citizens erschließt, weil wir die seinem Verhalten zugrunde liegenden Beweggründe und Motive verstehen, können wir alles verstehen und damit auch alles prognostizieren.

Und hier kommst nun du ins Spiel. Wir brauchen empirische Feldforschung, um zu ergründen, was einen Citizen dazu bringt, vom Mittel abzuweichen. Wir brauchen empirische Feldforschung, um Aufschluss über die Wirksamkeit von Anreizfaktoren und Motivatoren für die Wahl von Kategorien und die Abgabe von Votings und Ratings zu bekommen, die das System Abweichlern anträgt, um sie wieder zu mitteln Was motiviert einen Abweichler – im Extremfall einen Dismatchten – ganz konkret und im Detail, die individuellen Anträge des Systems anzunehmen oder dem Druck seiner Peers nachzugeben? Welche tieferen Beweggründe hat er, wieder in die Mitte seiner Unit zurückzukehren? Je mehr wir da­rüber wissen, desto wirkungsvoller können wir mithilfe der Anträge des Systems unsere Interventionen gestalten und steuern, desto schneller können wir Abweichler wieder einfangen und mitteln.

Natürlich stellt das System entsprechende Test- und Kontrollfragen, natürlich zeichnen die MatchingEyes während ihrer Beantwortung und auch im Verlauf eines MatchingLoops selbst minimale Veränderungen der Mimik auf und natürlich messen und melden die Nanobots in den Körpern der Citizens Veränderungen in der Körperchemie, die auf die Vorgänge in ihren Köpfen schließen lassen. Trotzdem bleibt da immer noch ein mehr oder weniger großer Bereich an innerer Disposition, der für uns eine BlackBox darstellt, deren Inhalt wir nicht erfassen können – noch nicht erfassen können.

Wir haben feststellen müssen, dass die Interaktion mit dem System, also Face to Screen oder Face to MatchingEye, zwar viel, aber eben nicht alles im Verhalten offenlegt. Hier im direkten Kontakt, also Face to Face, unterschwellige Stimmungen, Gefühlsströmungen, Hemmnisse, Antriebe, Wünsche und Vorstellungen aufzuspüren, ist Aufgabe unserer Scouts. Interessiert?“

Sonol wartete Views Antwort erst gar nicht ab. „Natürlich bist du interessiert! Schließlich deuten sämtliche Scores und Indices, die uns das System über dich angetragen hat, auf deine herausragende Eignung für einen Job als Dismat­chedScout in der Agency hin.“

„Ich hatte gedacht, bevor sich die Agency endgültig für mich entscheidet, noch etliche Tests absolvieren zu müssen“, wunderte sich View.

„Das ist nicht erforderlich. Glaube mir, wären wir uns nicht völlig sicher, dass jeder, den wir ansprechen, Member der Agency zu werden, auch hundertprozentig dafür geeignet ist, müssten wir uns ernsthaft fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, unseren Job hundertprozentig zu machen. Aber keine Sorge. Du kannst sicher sein: Wir machen unseren Job – und zwar mehr als hundertprozentig. Deshalb habe ich auch nicht gezögert, dir hier einige Dinge zu verraten, die der einfache Citizen nicht unbedingt wissen muss.“

„Doppelgauß, dann kann ich also hier anfangen?“

„Du kannst hier anfangen. Im Rahmen deiner Tätigkeit wirst du eng mit dem Board of PredictiveProfiling zusammenarbeiten. Denn wenn es uns gelingt, die Überzeugung, dass Abweichung Unsicherheit schafft und somit Lebensqualität schmälert, dauerhaft in den Köpfen der Citizens zu verankern, können wir auch zukünftige Abweichungen verhindern. Und da sind wir, besonders auch mithilfe solcher herausragenden Talente wie dir, auf einem sehr guten Weg. Willkommen, also als DismatchedScout im Rahmen des PredictiveProfiling-Programms der Agency of SocialTechnology!“

Dismatched: View und Brachvogel

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