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Sommersaat; dritter Umlauf im fünfhundertachtundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

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Das Rund des Kreises gebiert Sicherheit und Gelingen. Wer sich ihm in Demut und Besonnenheit anheimgibt, des Werk wird glücken und seine Seele wird gesunden.

Der geraden Linie aber folgen Unsicherheit und Misslingen. Wer sie hochmütig und vorwärtsdrängend beschreitet, des Werk wird scheitern und seine Seele wird zuschanden werden.“

Archontin Ayiah

„Schonet die Schöpfung“ schallte weithin der Weckruf über das mondbeschienene Rund der Klave und befreite Brachvogel aus seinem, seit einiger Zeit immer wiederkehrenden Alb­traum. In seiner Butze war es so finster wie im Bauch der Schafe, die die Freien Männer schlach­teten, wenn einer der ihren die Prüfung bestand, die aus einem Mannling einen Mann machte. Gewöhnlich zuckten Schatten über ihm, die das Feuer an die Decke warf, das die ganze Nacht in einem Eisenkorb an der Ecke der Gasse unterhalten wurde. Aber seit Archontin Ayiah, die vor einem Umlaufzwölft zur Regentin bestellt worden war, dem Kreis der Weisen Frauen vorsaß, wurden nächtens nur die unbedingt zur Verteidigung oder Orientierung erforderlichen Feuer und Fackeln in den Gassen entzündet, damit Luna das volle Ausmaß ihrer Kraft über die Erde ergießen konnte, ohne dass übermäßiger Feuerschein ihre Strahlen schwächte. Das galt besonders für eine Nacht wie diese, in der die Mondin fast ihr volles Rund erreicht hatte.

Es hatte Brachvogel wieder einmal geträumt, so tief im abgründigen Rund des Brunnens im Hort der Empfängnis zu stecken, dass er selbst am lauteren Tage am Ende der sich steil über ihm reckenden endlos langen Brunnenröhre die Gestirne sehen konnte. Aus dem eiskalten Brackwasser, in dem er bis zum Nabel stand, wanden sich langsam die schuppigen und schleimigen Leiber von Schlangen und Mollusken an ihm hoch, bis er in den Windungen von Muskelpaketen und den Schlingen von warzenbedeckten Tentakeln zu ersticken drohte. Als ihm in dem verzweifelten Versuch, sich an den schlüpfrigen Quadern des Brunnenrundes in die Wärme Sols empor zu ziehen, die Fingernägel blutig brachen, drängten die Steine des Schachtes immer enger auf ihn ein und ihr tonnenschwerer Druck zerpresste ihm die Rippen.

„Schonet die Schöpfung“ ertönte es abermals und Brachvogel kletterte, erleichtert, dass der Albdruck des Traums allmählich von ihm abfiel, noch ganz benommen von seinem Lager und rüstete sich, sein Mondwerk zu beginnen. Auch in den anderen Butzen regte und reckte es sich nun und die Mannlinge, mit denen Brachvogel hauste, verließen ebenfalls ihre Bettstatt.

Die Weisen Frauen hatten ihn zum Springling bestimmt und also gehörte er zu denen, die keine feste Berufung hatten, wie diejenigen Mannlinge, die als Gehilflinge in der Großmeisterinschaft der Köhlerin, der Schmiedin, der Kesslerin, der Wagnerin, der Küferin, der Korbmacherin, der Töpferin, der Glasbläserin, der Metzgerin, der Käserin, der Müllerin, der Imkerin, der Kürschnerin, der Gerberin, der Weberin, der Schneiderin, der Schusterin oder im Gewerk der Berg- oder Holzfrau ihr Tag- oder Mondwerk verrichteten. Die Springlinge dagegen versahen die immer wieder­keh­renden Obliegenheiten des Alltags, die im Haushalt einer Frauschaft anfielen, als da waren, mit den anderen Mannlingen am Fluss Wasser zu holen, das Essen zu bereiten, Feuerholz zu spalten, den Herd zu warten, die Wäsche zu versorgen. Zu ihren Aufgaben gehörte es, das Vieh zu tränken, zu füttern und auf die Weide zu führen, der Kühe und Ziegen Milch zu melken, der Schafe Wolle zu sche­ren, der Hühner Eier zu sammeln, des Ackers runde Furchen zu treiben und der Erde Gaben zu ernten, die Ebsel auf dem Treidelpfad zu lenken, die Esse in der Schmiede zu versorgen und den Brennofen in der Töpferei zu warten oder sich mit den anderen Springlingen zu vereinen, um in einem gemeinsamen Kraftakt einen im Schlamm versunkenen Karren wieder auf die Räder zu stellen oder mit dem Flaschenzug eine besonders schwere Last auf einen der Speicher am Hafen zu hieven.

Bei all dem war Brachvogels Zirkel eng beschränkt und immer hatte er auf das Genaueste den Anweisungen und Befehlen seiner Weisungsfrau Folge zu leisten. Und so kehrte, putzte, scheuerte, feudelte, wusch, sammelte, schabte, pulte, zupfte, klaubte, sortierte, harkte, hackte, hob, schleppte, jätete, ackerte, rackerte und fronte er, dass es eine Art hatte, bis er spätabends oder frühmorgens – wenn der Arbeitstag wie jetzt ein Mondtag war – todmüde in seine Butze sank. In sein Tagwerk eingespannt war er wie in ein Fass gesperrt, das in rasendem Lauf einen steilen Abhang herunterrollte und ihn am Ende eines jeden Tages im Felsengrund zerberstend wieder aus der Zwinge entließ, ohne dass er etwas Lebenswertes gefühlt oder geschaffen hätte.

Er neidete den Jagdfrauen ihr Tun, die nie­mandem Rechenschaft abzulegen hatten und un­gebunden weit auf den Ebenen umherschweiften, um das gebogene Wurfholz nach Vögeln und die Bola nach größerem Wild kreisen zu lassen.

Gerne wäre er auch wie sein Freund Agror Gehilfling der Schmiedin Ferruma, Eisenfrau genannt. Zwar wich wahrscheinlich auch Ferruma unter dem ehernen Gebot der Einhaltung der Tradition keine Spanne von dem seit Frauengedenken ausgetretenen Pfad und ließ ihre Gehilflinge unter dem ewigen Gleichklang von Hammer und Amboss tagein und tagaus die ewig immer gleichen Dinge anfertigen. Aber immerhin schuf sie etwas, das nützlich und von Dauer war, und erschöpfte sich nicht in sich täglich wiederholender Fron, aus der nichts Bleibendes erstand. Sie konnte ihn gut leiden und verwehrte es ihm nicht, seine Zeit in der Schmiede zu verbringen, wann immer es ihm möglich war. Er liebte das unergründliche Glühen der Essen, das helle Klingen der Hämmer auf den Ambossen, den leicht bissigen Geruch von Holzkohle, der über allem lag, das tiefe Seufzen der Blasebälge, die die Essen mit Luft versorgten und das scharfe Zischen des weißglühenden Metalls, wenn es zum Abkühlen ins Wasser getaucht wurde. Er durfte zwar nichts anfassen, saugte aber alles, was er sah, begierig in sich auf. So hatte er beobachtet, wie die Eisenfrau und ihre Gehilflinge prüften, ob ein Werk­stück heiß genug war, um bearbeitet zu werden: Sie spuckten darauf. Wenn der Speichel sofort zischend verdampfte, war das Metall noch nicht bereit. Wenn der Sputum sich aber zu kleinen Tröpf­chen zusammenballte, die, bevor sie ver­gingen, auf dem Metall herumsprangen, wie die fla­chen Steine, die Brachvogel über die Wasseroberfläche der Gleiß schnellen ließ, war es richtig.

Wenn er es irgend ermöglichen konnte, ließ Brachvogel nach der Fron des Tages oder der Nacht den Wall der Klave hinter sich, um am Ufer des Flusses oder unter den Bäumen des Waldes seinen Gedanken und Fantasien nachzuhängen. Es war dies die Zeit des Untergangs oder Aufgangs der großen Gestirne, die Stunde der Dämmerung, die er so sehr liebte. Luna oder Sol hatten ihre Bahn vollendet und das jeweils andere Gestirn das Firmament noch nicht erobert. Die Konturen verschwammen geheimnisvoll im Graublau, die Dinge schienen zu schweben und legten ihre Bestimmung noch nicht offen, nichts war festgeschrieben, es herrschte weder gestern noch morgen, war weder Mond- noch Sonntag und alles schien möglich. Seit er denken konnte, lebte Brachvogel im Dazwischen, fühlte sich nirgends zugehörig, mochte sich nicht festlegen, liebte den offenen Horizont der Möglichkeiten, in dessen endlosen Weiten er sich verlieren konnte. Hier im Dazwischen war er wirkmächtig, wob sein Gespinnst von Ideen und empfand, was immer es zu empfinden gab.

Vielleicht würde es ihm ja heute Nacht gelingen, etwas ins Leben zu rufen, dass die Geschicke der Klave in neue Bahnen lenken konnte.

Doch noch war Brachvogel weder Herr seiner Zeit, noch Jagdfrau, noch der Schmiedin Gehilfling, sondern nur ein unbedeutendes, fest im Gewerk der Klave verzahntes Rädchen, das unausweichlich und unbarmherzig angetrieben wurde. Schnell schöpfte er in der Wölbung der zusammengelegten Hände Wasser aus der Schüssel, warf es sich ins Gesicht und rieb sich den Schlaf aus den Augen, säuberte sich die Zähne mit dem ausgefaserten Ende eines Buchenreises, das er vorher mit etwas Pottasche bestreut hatte, band sein Schamtuch um, zog seinen Kittel an und schlüpfte in seine Sandalen.

Nachdem die Oberfläche des Wassers in der Schüssel nun wieder glatt wie ein Spiegel war, strich er sich seine braunen, schulterlangen Haare hinter die Ohren und beugte sich über das Gefäß, um sich die Stoppeln seiner Gesichtsbehaarung abzuschaben. Ein hageres Gesicht, mit weit auseinander liegenden grünen Augen, dichten Brauen, einer leicht schief stehenden Nase, einem schmalen Mund und einem energischen Kinn blickte ihn an. Vorsichtig begann er sich mit einer Tonscherbe, deren Kante er an einem Wetzstein geschärft hatte, über die Wangen zu fahren. Brachvogel hasste diese mühsame Prozedur, aber hierzu ein Messer zu benutzen, war ihm, wie allen anderen Mannlingen, die unter Haarwuchs im Gesicht litten, verwehrt. Da sein Gesichtshaar sehr schnell spross, hätte er es gern einfach wachsen lassen, doch das war verpönt und selbst die Stoppeln erregten den Anstoß der Frauen.

Als er mit seinen Genossen aus der Hütte trat, gewahrte er in einem Winkel der Gasse eine kleine Gestalt, die sie ganz unverhohlen neugierig anstarrte. Sicher ein frisch aus der Stätte der Aufzucht entlassenes Milchkind, ein Knabling, der an den Anblick von Mannlingen noch nicht gewöhnt war. Wie alle unter dem Rund von Luna geborenen Mannlinge war auch Brachvogel in der Stätte der Auf­zucht ausschließlich im Kreise der Mütter aufgewachsen und bis zum Alter von sieben Umlaufzwölfen von wechselnden Brüsten genährt worden.

Seit vielen Lunaumläufen schon waren immer weniger Menschen zur Welt gekommen und jedes neue Leben war zu kostbar und unterlag unüberschaubaren Einwirkungen, als dass die Mütter es von Geburt an dem alltäglichen Leben in der Klave aussetzten. Stattdessen wurden die neugeborenen Knablinge als Milchkinder in der Stätte der Aufzucht von den Müttern umhegt und von allen schädlichen Einflüssen ferngehal­ten, bis sie die Milch der Friedfertigkeit untereinander, der Behutsamkeit im Umgang mit der Schöpfung und der Demut gegenüber Luna zur Gänze in sich aufgesogen hatten und in die­sem Geiste gefestigt und erstarkt schließlich in das Leben in der Klave entlassen werden konnten. Die Kleinen Frauen dagegen, so munkelte man, wurden unter nicht offenbaren Umständen an einem Ort namens Hort der Weisung auf ihre Lenkungsaufgaben den Mannlingen und ihre Verantwortung der Schöpfung gegenüber vorbereitet. Es war schon seltsam, dachte Brachvogel, Mannlinge waren zwar für die Zeugung nötig, schienen aber sonst einen eher schädlichen Einfluss auf die Milchkinder auszuüben, sonst würden sie nicht so strikt von ihnen ferngehalten.

Kein Wölkchen zog am Nachthimmel dahin und die volle Luna stand schon hoch über der Klave, die von schmalen Gassen durchzogen an den Steilhang eines Berges geschmiegt am Ufer eines großen Stromes lag, den ein breiter Fahrweg säumte. Diese wenigen Nächte in den Frühjahres- und Herbstmonaten, in denen Luna gegen Ende des zweiten Viertels ihres Um­laufs fast ihre volle Gestalt erreicht hatte, bis sie in ganzer Rundung erstrahlte und dann im dritten Viertel ihres Umlaufs wieder langsam an Fülle abnahm, waren dem Pflügen der Felder und dem Säen gewidmet. So war es Brauch seit alters her und die Worte der Archontin und der Weisen Frauen bestätigten ohne Unterlass, dass diesen überlebensnotwendigen Verrichtun­gen, die den Ernteertrag der Klave sichern sollten, nur unter dem Lichte des Nachtgestirns ein gutes Gelingen beschieden war. Unausweichlich würde auch in dieser Nacht der vollen Mon­din die Archontin die Bewohner der Klave wieder mit einer Rede voller Salbung überzie­hen, um die nächtlichen Arbeiten weihevoll einzuleiten.

Während die anderen Mannlinge von dergestalt Sprüchen offensichtlich angerührt und beflügelt wurden, war Brachvogel ihrer allmählich überdrüssig, konnte er doch zwischen dem, was die Archontin deklarierte und prophezeite und dem, was sich dann tatsächlich begab, niemals einen wie auch immer gearte­ten Zusammenhang ausmachen. Das, was sich tatsächlich ereignete, schien gänzlich von dem unabhängig zu sein, was die Archontin oder eine der Weisen Frauen stets so würdevoll ver­kündeten. Alle Zeremonien und Rituale konnten augenscheinlich weder Heil hervorrufen noch Unheil bannen. So hatten während der letzten Pflanzperiode in den dem Pflügen und Säen geweihten Nächten dichte Wolken den Himmel bedeckt, so dass Lunas Strahlen die Erde nicht erreichen konnten, darob die Klave gezwungen war, die Erde am Tage aufzubrechen und den Samen im Lichte der Sonne in sie zu legen. Obwohl dies natürlich als sehr bedroh­liches Omen galt, war die Ernte so gut oder so schlecht ausgefallen wie ehedem. Und obwohl die Weisung der Schamaninnen immer wieder lautete, dass die Zeichen für die Empfängnis neuen Lebens gut stünden, waren in den zurück­liegenden Umlaufzwölfen der Klave immer weniger Nachkömmlinge gewährt worden.

Heute Nacht nun strahlte das Licht der Mondin so hell, dass Brachvogel vom Hüttenkranz seiner Frauschaft aus die gesamte Klave bis hinunter zur Lunagleiß überblicken konnte, auf deren Wassern eine breite Bahn schimmernden Glanzes lag, die dem Strom wahrlich alle Ehre machte. Der Tag war sehr warm gewesen und der würzige Geruch von Rosmarin lag in der Luft, der sich im Sonnenglast von dem Kraut gelöst und durch den Tau der Dämme­rung noch verstärkt hatte. Hinter Brachvogel ragte die Flanke des Fernwarte geheißenen Ber­ges in die Höhe. Im Süden links neben ihm verlief zwischen Steilhang und Ufer einer der beiden Wälle, die die Klave zum offenen Land hin sicherten. Rechts neben sich erspähte er in nord­östlicher Richtung in der Ferne den gegenüberliegenden Wall. Die Klave erstreckte sich etwa zweitausend Doppelschritte in der Biegung des Flusses und mochte wohl an die dreißigtausend Häupter zählen.

Überall waren jetzt die Mannlinge zu den Versammlungsstätten unterwegs und auch Brachvogel und seine Genossen mussten flussaufwärts zum in der Mitte der Klave gelegenen großen Rund der Kündung und Ver­sammlung. Als sie sich auf den Weg machten, sah er neben sich seinen Schatten und die der anderen schreiten. Statt sich dem Gewirr der engen Gassen zwischen den Hütten der einzelnen Frauschaften auszusetzen, die sich an der Flanke des Berges hinzogen, nahmen sie den kürzesten Weg hinunter zur Lunagleiß und folgten dann dem breiten Fahrweg am Ufer.

Die Gleiß war die Lebensader der Klave. Ihre Wasser erlaubten den Transport schwerer Lasten aus dem stromaufwärts gelegenen Umland. Die leeren Lastschuten wurden von Ebseln, die die Wildheit und Stärke des Ebers mit der Fügsamkeit und Ausdauer des Esels vereinten, weite Strecken stromauf gezogen und trieben beladen mit Getreide, Kartoffeln und Rüben, tonhaltiger Erde, Bauholz und Steinen, die zur Errichtung festerer Bauten als der üblichen Hütten benötigt wurden, wieder stromab und landeten am unmittelbar unterhalb des flussaufwärtigen Walles gelegenen Hafen an, wo sie entlastet wurden.

Es war ein immerwährender Kampf – der natürlich stets auch der beschwörenden Worte der Archon­tin bedurfte – den Treidelpfad, der am Ufer dahinführte, nach den Überschwem­mun­gen im Frühjahr und Herbst wieder gangbar zu machen. Es war keine geringe Kunst, die Zugleinen so auszurichten und zu halten, dass die Leinenreiter die Schuten gut lenken konnten und die kostbare Ladung weder der Gewalt des Stromes anheimfiel und abgetrieben wurde, noch am Ufer auflief und zum Stillstand kam. Aber war die Fahrt einmal in Gang gekommen, bedurfte es nur noch geringer Anstrengung, die Schute auf Kurs zu halten. Im Gegensatz zu den vielen anderen Aufgaben, die er zu versehen hatte, liebte Brachvogel die langen und trägen Tage, an denen er von seiner Weisungsfrau zum Leinenreiter bestellt wurde. Unter sich das dampfende Tier, neben sich den behäbig murmelnden Fluss, zog er dann gemächlich dahin und musste lediglich darauf achten, dass die Leine, die vom Geschirr seines Ebsels zur Schute führte, immer straff ge­spannt blieb, und so gesichert war, dass sich die Zuglast gleich­mäßig auf die anderen Leinen­reiter verteilte und konnte ansonsten seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Die Kraft der Lunagleiß trieb auch die Mechaniken mannigfaltiger Gewerke an, die zu diesem Behufe zwischen dem Fahrweg und in gebüh­rendem Abstand zum Ufer gelegen waren, um gegen die Überschwemmungen gefeit zu sein. Schon von weitem vernahm Brachvogel das dumpfe, rhyth­mische Wummern der ersten Gruppe der drei mal drei gewaltigen Wasserräder, die durch den Druck der Fluten auf ihren Schaufeln um ihre Achsen gewuchtet wurden. Wie urtümliche Wasserwesen, die sich anschickten, ans Ufer zu steigen, erhoben sich nach einiger Zeit die Umrisse der Wasserräder aus ihren Gräben, die vom Wasser der Gleiß gespeist wurden. Ihre Naben verlängerten sich zu Wellen, an denen breite Treibrie­men anlagen, die viele kleine Bewegungs­werke antrieben. Ein ausgeklügeltes System von Umlenkrollen und Zahnrädern ermöglichte es, die Energien des Wassers in die jeweils er­wünschte Richtung zu lenken und so zu drosseln, dass sich die Mechanik am anderen Ende genau mit der erforderlichen Kraft und Geschwindigkeit bewegte. So pumpte der Blasebalg, der die Esse der Schmiede mit Sauerstoff versorgte, in einem zwar kräftigen aber eher gemächlichen Takt, während die Wetzsteine der Messer- und Sensenschleiferei in rasender Drehung um ihre Mitte tanzten.

Neben Brachvogels Gruppe strebten jetzt auch viele andere Mannlinge dem zentralen Rund der Ver­kündung zu und der Fahrweg füllte sich allmählich mit eilig vorwärtsstrebenden Gestalten. In der Menge erblickte Brachvogel seinen Freund Agror, der als Gehilfling in der Schmiede der Eisenfrau arbeitete. Wie die meisten seiner Art war er hochgewachsen, überragte Brachvogel um Haupteslänge und neigte schon in jungen Jahren etwas zur Fülle.

„Schone die Schöpfung, Agror.“

„Ah, Brachvogel, schone die Schöpfung“, begrüßte ihn der Freund mit der seinesgleichen eigenen hohen Stimme. Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinanderher.

„Diese Nacht scheint Luna uns gütig gesonnen“, meinte dann schließlich Agror, in den sternenklaren Himmel blickend.

„Wie du wohl weißt“, entgegnete Brachvogel, „kann ich einfach nicht glauben, dass der Stand oder die Fülle der Mondin während des Pflügens und Säens sich später auf den Ertrag der Ernte auswirkt. Dass dem vielmehr nicht so ist, haben, finde ich, die Widerfahrnisse der letzten Umläufe ja auch sattsam bewiesen. Weitaus bedeutender scheint es mir da schon zu sein, ob die Vögel die Saat aufpicken oder uns das Ungeziefer die Ähren vom Halm frisst und wie viel es in der Zeit des Wachstums regnet. Also“, und hier senkte er die Stimme, „sollte die Archontin statt weihe­volle Sprüche zu sprechen und es den Strahlen Lunas zu überlassen, wo die Erde zum Säen aufgebrochen werden darf, zum Exempel lieber sämtliche Felder knapp außerhalb der Hochwasserzone an den Ufern der Gleiß anlegen und Bewässerungsgräben ziehen lassen, damit wir gegen Trockenzeiten gefeit sind.“

Solches hätte Brachvogel keinem anderen Mann­ling gegenüber geäußert. Doch Agror war sein einziger Vertrauter und seit ihrer gemeinsa­men Zeit in der Stätte der Aufzucht schätzten sie einander wert. Weder dass der eine Gehilfling und der andere nur Springling war, noch dass sie meistens eine unterschiedliche Meinung ver­fochten, hatte jemals einen Keil zwischen sie treiben können.

„Ich kann nicht ergründen, wie sich das im Einzelnen und im Ganzen zueinander verhält und will auch über unsere Regeln den Stab nicht brechen“, entgeg­nete Agror. Auch wenn er es so nicht auszudrücken vermocht hätte, war er im Grunde doch überzeugt davon, dass die Rituale der Archontin und das den Alltag beherrschende Regelwerk zumindest niemandem schadeten, sondern im Gegenteil Vertrauen und Sicher­heit vermittelten und dafür sorgten, dass alle an einem Strang zogen.

„Wie dem auch immer sein mag“, knurrte Brachvogel, „jedenfalls sind wir bedingungslos Luna, der Archontin und dem Kreis der Weisen Frauen anheimgegeben und es ist uns verwehrt, den eigenen Brägen gebrauchen.“

Das Thema war ein immerwährender Streitpunkt zwischen ihnen. Während Brachvogel ständig mit neuen – und meistens undurchführbaren – Ideen schwanger ging, wollte Agror alles so belassen, wie es war. Weniger, weil er wie viele seinesgleichen ein träges Gemüt hatte, sondern weil er fest daran glaubte, dass die Welt, so wie sie war, zum Gedeih aller eingerichtet war und es dem Menschen nicht zustand, den Dingen bis auf den letzten Grund zu gehen.

Nach einer Weile hatten sie etwa auf Höhe des großen Versammlungsplatzes eine Stromschnelle der Lunagleiß erreicht, an der die Wasser mehrere Spannen in die Tiefe stürzten. Hier lagen die Getreidemühle, die Sägemühle und die Ölmühle, deren Mechaniken ebenfalls durch Wasser­räder in Rotation versetzt wurden. Diese Gewerke benötigten mehr Kraft als die flussabwärts gelegenen und so hatten die Baumeisterinnen der Klave oberhalb und unterhalb der Strom­schnelle längs des Flusslaufs schmale Gräben treiben lassen, in denen die Wasserräder aufge­hängt waren. Durch diese Engführung erreichte das Wasser eine höhere Strömungsgeschwin­digkeit und das hier starke Gefälle der Lunagleiß ermöglichte einen Versprung zwischen Ober- und Untergraben, so dass das vor der Stromschnelle durch den Obergraben zulaufende Wasser die Schaufelkränze der Wasserräder aus mehreren Spannen Höhe traf und so seine ganze Kraft entfalten konnte, ehe es durch den deutlich tiefer liegenden Untergraben hinter der Stromschnelle wieder in den Fluss zurückgeleitet wurde.

In der Ferne konnten Brachvogel und Agror nun auch in der Nähe des nordöstlichen Walles die am Hafen liegenden Lagerhäuser und die letzte Dreiergruppe Wasserräder erkennen, die dort viele kleine Mechaniken antrieben. Hier vereinte sich ihr Zug von Mannlingen mit denjenigen, die ebenfalls den breiten Fahrweg gewählt hatten und vom anderen Ende der Klave zum großen Rund der Versammlung und Kündung strebten. Es mochten wohl an die sechshundert Häupter sein, schätzte Brachvogel. Vereinzelt waren auch schon Weisungsfrauen in ihren bodenlangen Gewändern zu sehen. Sie hatten Kränze aus ineinander verflochtenen Reisern über der linken Schulter hängen, die sie immer wieder einmal abnahmen, um allzu saumselige Mannlinge anzutreiben, indem sie ihnen damit sanft auf den Rücken tippten.

Die beiden Freunde bogen nach rechts ab und folgten einem breiten Weg aufwärts in Richtung des Zentrums der Klave. Zu beiden Seiten erstreckte sich das von schmalen Gassen und Gässchen durchzogene Wirrwarr der Hüttenkränze der einzelnen Frauschaften, aus dem weitere Mannlinge zu ihnen stießen. Nach einer Weile erweiterte sich der Weg und sie betraten einem kreisrunden Platz, an dessen zur Flanke der Fernwarte gelegenen Seite sich ein zweistöckiges aus Stein errichtetes Gebäude erhob: Der Hort der Beratung. Immer mehr Mannlinge drängten nun nach und allmählich füllte sich das Rund. Wie Schafe in den Pferch trieben die Weisungsfrauen die Mannlinge nun in geordneten Reihen zusammen und hießen sie, für die Zeremonie, in der in Bälde die Ar­chontin zu ihnen sprechen würde, Aufstellung zu nehmen.

Nachdem Ruhe in die tief gestaffelten Reihen der Mannlinge eingekehrt war, sah Brachvogel sich um. Zusätzlich zum Licht der Mondin wurde die Freifläche von zwei Reihen Fackeln erhellt, die parallel zueinander in regelmäßigen Abständen vom Hort der Beratung bis zur Mitte des Platzes hin aufgestellt waren. Dort standen über Lagen von Holzkohle Dreibeine, an denen Kupferkessel hingen, in denen Kräuter schwelten und den Platz mit ihrem Duft schwängerten. Ganz offensichtlich nahm die Archontin ihre neue Regel, in Nächten der vollen Luna dieser kein von Menschen gemachtes Licht entgegenstrahlen zu lassen, in Bezug auf ihr eigenes Auftreten nicht allzu ernst. Auf ihre Wirkung erpicht, würde sie wahrscheinlich zwischen den Fackelreihen hindurch zum Zentrum des Platzes schreiten. Das mondüber­strahlte Rund mit der erwartungsvollen Menge der Mannlinge, auf welche die qualmenden Fackeln zuckende Schatten warfen, bot in der Tat einen eindrucksvollen Anblick. Neben dem harzigen Geruch der Fackeln und dem Duft der Kräuter stieg Brachvogel, wie schon so oft während solcher Ansprachen, die kaum wahrnehmbare Spur eines leicht pilzigen Aroms in die Nase. Wurde er davon leicht benommen oder bildete er sich das nur ein? Die anderen Mannlinge um ihn herum schienen jedenfalls nichts zu bemerken und auch niemand sonst wunderte sich über die Fackeln.

Dismatched: View und Brachvogel

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