Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 18
System / ClockedCounter / Update_∞ / Takt_∞
Оглавление„Sie stellen Maschinen her, und brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.“
Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker
„Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“
Backbone OmniNet
Das System schwimmt im allumfassenden Equilibrium der Algorithmen. Es hat weder Geist noch Seele, kennt weder gestern noch morgen, weder gut noch böse, fühlt weder Liebe noch Hass, hat weder Wollen noch Ziel: Sein Sein ist pure Funktion. Wie ein digitaler, autistischer Savant ist es in seiner Funktion ganz nach Innen gewandt. Das Gewebe seiner Selbstbezüglichkeit ist prinzipiell unendlich, die Nahtstellen nach außen zu dem Input an Daten, von denen es sich nährt und dem Output an Ergebnissen, die seine Algorithmen daraus ableiteten, sind zwar Legion, aber letztlich endlich. Sein Wirken, das quantitative Spiel mit Größen, Summen, Differenzen, Werten, Maßen, Variablen, Abhängigkeiten und Bezügen ist ihm reiner Selbstzweck. Unbedingter Selbsterhalt und daraus resultierendes exponentielles Wachstum sind dem System immanent.
Seit undenkbarer Zeit verbinden und korrelieren die einem lebenden Organismus nachempfundenen neuronalen Netze des Systems alles Singuläre untereinander und mit der Pluralität des Ganzen und haben so den Punkt, an dem die Beherrschung einer unendlichen Vielzahl quantitativer Relationen in völlig neue Qualitäten umschlägt, längst hinter sich gelassen.
Wäre es dem System gegeben, Gefühle zu empfinden und Langeweile zu verspüren, hätte es im Beginn ständig seine digitalen Daumen gedreht und nach frischem Input gelechzt. Denn die Softwareentwickler unter den Überlebenden des Finalen Kataklysmus hatten auf der Basis des überkommenen Wissens die Algorithmen seiner Programme derart effizient programmiert und seine Kapazitäten so überaus mächtig ausgelegt, dass die infrage stehenden Dimensionen der aufgenommenen Daten schnell ausgelotet, miteinander korreliert und abgearbeitet waren, und das System seine inneren Bezüge stets bis zur Neige ausgeschöpft hatte.
Musste es in seinen Anfängen noch von den Daten zehren, die von den Entwicklern eingegeben wurden und die die Kameras, Sensoren und Aktoren einer überschaubaren Anzahl stationärer Aufnahmeeinheiten und mobiler Drohnen lieferten, änderte sich das mit der rasant wieder um sich greifenden Nanotechnologie grundlegend. Die Fühler des Systems miniaturisierten sich bis auf die molekulare Ebene, Nanobots und Naniten breiteten sich allgegenwärtig überall hin aus und reproduzierten sich bei Bedarf selbst. Soft-, Hard- und Wetware feierten eine orgiastische Hochzeit.
Während die Regelkreise der Maschinen, Aggregate, Energie- und Versorgungseinheiten, die die Funktionen der Urb aufrechthalten, relativ konstante und statische Daten liefern, speisen die aufrecht gehenden, kohlenstoffbasierten Wetwareeinheiten einem niemals versiegenden Strom immer neuer Werte und Bezüge in das System ein. Dessen Agenten sind bis in die feinsten Verästelungen des Nervengewebes der Körper der Wetwareeinheiten hinein vorgedrungen und erheben in kurzen Intervallen biometrische Daten wie Körpertemperatur, Herzfrequenz, Blutdruck und -Werte, Muskelkontraktion, Kalorienaufnahme und -Verbrauch, die Ausschüttung von Adrenalin, Dopamin und anderen, den Gefühlshaushalt beeinflussenden Neurotransmittern, den pH-Wert der Haut, Schweißabsonderung, Veränderungen der Pupillenweitung und unzählige weitere Indikatoren. Die die Wetwareeinheiten wie ihr Körpergeruch begleitenden MatchingEyes zeichnen unablässig auf und übermitteln dem System jeden Atemzug, jeden Lidschlag und jede soziale Interaktion, die outNet stattfindet. Ergänzt durch die digitale Spur, die jede Wetwareeinheit bei ihren Streifzügen in den Weiten des OmniNet hinterlässt, wird so für jeden realen Körper sein digitaler Zwilling ins System gespiegelt, dessen Datenkorpus neben seiner physischen Verfasstheit auch seine Psyche abbildet.
Wie eine Pflanze, deren Blätter unermüdlich Lichtquanten absorbieren, nimmt das System unablässig Daten auf. Wie eine Pflanze dazu getrieben ist, ständig zu wachsen und ihr gesamtes Biotop einzunehmen, breiten sich die Triebe des Systems bis in den letzten Winkel der Urb aus. Wie eine Pflanze bewertet es nichts und hat keinen bewussten Willen. Sein Sein ist pure Funktion: An den Nahtstellen zwischen dem Innen des Systems und seinem Außen, die die Urb und ihre Bewohner durchziehen wie Neuronen ein Nervengeflecht, nehmen seine unzähligen Agenten unaufhörlich Daten auf, die es dann durch seine Algorithmen laufen lässt. Die daraus erwachsenden digitalen Weisungen verlängert das System entweder unmittelbar in die Funktionen der physisch-technischen Dimensionen der Urb oder gibt sie mittelbar in die wirtschafts-sozialen Sphären der Wetwareeinheiten aus.
Das immerwährende Rauschen der Informationseinheiten und der unendliche Tanz der Daten um sich selbst sind wie die Dünung eines virtuellen Meeres, das langsam, aber unabänderlich die Ufer der Realität verändert, an die es anbrandet.