Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 21

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Es ist der Fluch (je)der Zeit, dass Irre Blinde führen.“

Shakespeare, King Lear

Im Zentrum der weitläufigen Halle ruhte das Rund eines mächtigen Eichentisches auf geschwungenen Beinen, die in wie zum Fang gespreizten Löwenklauen endeten. In der Mitte der mit Intarsien verzierten Tischplatte sandte eine stilisierte Sonne ihre Strahlen zum Rand des Tisches hin, wo sie jeweils in eine Szene aus dem Ritterleben ausliefen. Von den kunstvollen Einlegearbeiten war allerdings nichts zu sehen, denn die Tischplatte war überladen mit einem üppigen Angebot an Speisen und Genussmitteln. Auf Tellern und Platten, in Tiegeln, Schüsseln und Schälchen häuften sich helles und dunkles Fleisch, Fische, Schalentiere, Meeresfrüchte und die unterschiedlichsten Wurzeln und Gemüse. Es gab Aufläufe, Suppen, Gratins, Gegrilltes, Geschmortes, Gegartes, Gesottenes, Geselchtes und Gekochtes, Puddings, Cremes, Mousses, Süßspeisen und Patisserie sowie eine umfassende Auswahl an Käse und Wurstwaren. Wo noch Zwischenräume waren, erhoben sich aus feinster Confiserie geschichtete Türmchen und Pyramiden. In Gläsern und Pokalen perlten und schäumten die unterschiedlichsten Getränke. Eine Batterie von Flaschen mit Spirituosen bildete im Meer der Speisen eine Insel mit alkoholischen Angeboten. Von dem sie umgebenden Genussbiotop hoben sich die Konturen der mit Mimikryfarben behandelten nackten Körper eines Mannes und einer Frau kaum ab. In ihren geöffneten Händen lagen Früchte, in Bauchnabel und Magengrube glitzerte eine orangenfarbene Flüssigkeit. Um die Brustwarzen der Frau war ein Kranz von Himbeeren gelegt. An den Rand des Tisches gelehnt, dessen Zentrum auch mit ausgestrecktem Arm bei weitem nicht erreichbar war, standen Teleskopstangen aus ultraleichtem Carbon, deren oberes, sensorgesteuertes Ende jeweils in eine Gabel, einen Löffel, einen Greifer oder ein Saugröhrchen auslief.

Der Boden der Halle war mit mehreren Lagen Teppichen ausgelegt. Perser überlappten sich mit Berbern, Berber begruben Perser unter sich und chinesische Seidenteppiche buhlten mit Tibetern um Liegeplatz. Licht fiel durch eine mit verschiedenfarbigen Glasplatten gedeckte Kuppel, die der Jugendstilarchitektur des Stammhauses der Galeries Lafayette in Paris nachempfunden war, und streute bunte Prismen auf die Teppichlandschaft. Üppig mit Kissen bestückte Ottomanen, Diwane und Fauteuils luden zum Sitzen und Ruhen ein. Überall im Raum verteilt standen Skulpturen und an den Wänden hingen Gemälde, die ein Amal­gam sämtlicher Stilepochen bildeten. Neben den überbordenden rosa Fleisch­wülsten rubensscher Frauen brannten Dalis Giraffen, strahlte die Mona Lisa ihr spitzbübisches Lächeln, spreizte sich ein weiblicher Akt von Egon Schiele. Auf einem Podest grübelte Rodins Denker. Aus Kanopenkrügen, wie sie vor Urzeiten in den Grabkammern ägyptischer Pyramiden standen, wucherten fleischfressende Pflanzen, die alabasterne Skarabäen zu verschlingen schienen. Vor einem Arrangement der knolligen Gemüsegesichter Arcimboldos wölbten sich die fröhlich bunten Rundungen einiger Nanas von Niki de Saint Phalle. In einer Ecke krampf­ten etliche Abgüsse aus den Hohlräumen, die die verbrannten Körper der beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji umgekommenen Römer nach ihrem Feuertod in der erkaltenden Lava zurückgelassen hatten. In einer Vitrine glänzten Halsketten und Broschen aus dem Schatz des Priamos von Troja. Die wimmelnden apokalyptischen Szenen von Hieronymus Bosch kontrastierten mit den meditativen monochromen Flächen von Piet Mondrian. Dunkel oszillierte eine Quantendiffusion von Shelly Floatgrave in glimmenden Farben. Ob es sich bei diesen Kunstwerken um Reproduktionen oder Originale handelte, war nicht festzustellen.

Eine breite Flügeltür schwang nach innen auf und 5 Personen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, betraten die Halle. Vorneweg schritt ein aristokratisch aussehender Gentleman im Cut, dessen Schöße bis in die Kniekehlen seiner Hose aus grob gemustertem Tweed reichten. Sein hageres Gesicht zierte ein Backenbart und ein sorgfältig getrimmter Schnäuzer säumte seine Oberlippe. Auf dem Kopf trug er einen Zylinder, den er keck auf sein linkes Ohr geschoben hatte. Ihm folgte eine junge Frau, deren unter der Brust geraffter Chiton bis auf die bloßen, in aus dünnen Lederschnüren gefertigten Sandalen steckenden Füße fiel. Ihr halblanges, lockiges Haar wurde durch ein Netz zusammengehalten, das eng am Kopf anlag und in einen Kupferring auslief. In der rechten Hand hielt sie eine Lyra und die Linke ruhte auf dem ausgestreckten Unterarm eines Mannes in knielangen Culotten und einem Hemd aus weißem Batist, dessen Ärmel und Halsausschnitt mit Volants besetzt waren. Sein schulterlanges Haar war im Nacken mit einer schwarzen Taftschleife zusammengebunden und über den Ohren zu Papilloten aufgedreht. Auf seinen Wangen lag ein Hauch von Rouge. Einen dünnen Spazierstock zwischen den Fingern zwirbelnd tänzelte eine bunte, in knalligen Komplementärfarben gehaltene Gestalt an ihnen vorbei, deren in tiefen Rot bemalter Mund bis an die Wangenknochen hochgeschminkt war, wodurch das grellweiß grundierte Gesicht zu einer dauergrinsenden Fratze gerann. Immer wieder mit der Umgebung verschmolzen die Konturen einer schmalen, weiblichen Gestalt in einem enganliegenden, wie aufgesprüht wirkenden Trikot, das in ständig wechselnden Farben oszillierte. Den Abschluss bildete eine maskulin wirkende Frau in einem blau­en Kostüm, die herausfordernd ihre schwarze Handtasche schwang. Um den Hals trug sie eine doppelreihige Perlenkette und ihr zu einer Föhnwelle hochtoupiertes Haar schien wie aus Beton gegossen. Mit einem satten Dröhnen, das die Soßen, Suppen und Säfte in den Schalen und Tiegeln auf der Tafel in Schwingungen versetzte, fiel die Flügeltür hinter ihnen wieder ins Schloss.

„Es geht doch nichts über einen üppig gedeckten Tisch“, ließ sich der Mann in dem Batist­hemd vernehmen und strebte geradewegs auf die Tafel in der Mitte der Halle zu. „Oh, und bei genauerem Hinsehen sind inmitten all der Kulinaria auch zwei sehr ansprechende Körperlichkeiten drapiert. Ich bin zutiefst entzückt.“

Er nahm eines der an der Tafel lehnenden Teleskopbestecke mit Saugröhrchen zur Hand, fuhr es aus und lenkte die Spitze in den Nabel des weiblichen Körpers.

„Honigmet“, informierte er die anderen. „Na, das wird an der Placentaanschlussstelle gehörig kleben. Vielleicht ist ja auch etwas weiter hinuntergelaufen.“ Er leckte sich genüsslich die Lippen. „Aber das werde ich später überprüfen. Wo bleibt denn nur unser schizophrener, cerebraler Cyborg?“

„Womit haben wir diese Zurückhaltung verdient, verehrter de Sade?“ fragte die Frau im Chiton. „Johnny Mnemonic wird sich wie immer darin verloren haben, seine Datenbanken nach den Versatzstücken seiner originären Persönlichkeit zu durchforsten. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass er sich, wie übrigens auch unser britischer Gentleman hier, in letzter Zeit immer stärker absondert und – wenn überhaupt – unseren gemeinsamen Lustbarkeiten nur sehr zögerlich beiwohnt.“

„Jeder nach seinem Geschmack“, beschied ihr der Mann im Cut etwas einsilbig und schob seinen Zylinder auf das andere Ohr.

„Es ist aber gut, dass Mnemonic diese Vollversammlung einberufen hat, Mr. Fogg. Es ist schon etliche Takte her, dass wir alle zusammengekommen sind“, sagte die Frau mit der Föhnwelle.

„Das liegt sicher daran, verehrte eiserne Jungfrau, dass es weitaus ersprießlicher ist, seiner Libido unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu frönen“, kicherte der Mann mit der Fratze und machte Anstalten, seine Fingernägel am Stoff ihrer Jacke zu polieren.

Die Frau schüttelte seine Hand ab. „Von dir unberechenbaren Triebbündel habe ich auch nichts anderes erwartet. Trotzdem ist es unerlässlich, regelmäßig Kontakt zu halten und uns gegenseitig von unseren spezifischen Informationen in Kenntnis zu setzen, damit die Dinge in der Urb nicht völlig aus dem Ruder laufen.“

Die Flügeltüren des Saales öffneten sich erneut und eine Gestalt betrat die Halle, deren Schädelkuppel von einem metallischen Material überspannt war. Sie trug einen grauen Overall, die unzähligen Taschen so vollgestopft, dass sie sich unförmig nach außen beulten. Obwohl der Neuankömmling zielstrebig, den linken Fuß nachziehend, auf die Tafel zuhielt, gingen seine Bewegungen nicht völlig synchron ineinander über, sondern wirkten so, als wären sie aus einzelnen Sequenzen zusammengesetzt. An der Rundung der Tafel angekommen blickte er die Anwesenden der Reihe nach an, kratzte sich an der Schädelplatte, nahm eine aufrechte Haltung ein und breitete die ausgestreckten Unterarme waagerecht aus.

„Oh, wie von dir nicht anders zu erwarten, ein Gedicht“, wandte sich die Frau im Chiton ihm zu: „So heb denn an, Johnny Mnemonic“.

Der so Angesprochene warf sich in die Brust, dass die übervollen Taschen über seinen Rippen spannten und deklamierte:

„Ich habe euch ersucht, zu dieser Stunde

einzufinden an des Königs Artus Tafelrunde.

Mit euch zu reden ist es höchste Zeit,

habt Dank, dass ihr gekommen seid.

Hier haben wir geprasst und der Wollust gefrönt,

und uns gesuhlt in der Sinne Überschwang.

Doch lange schon bin ich all dessen entwöhnt.

Vernehmt daher nun meinen Abgesang.

In meinem Innern fühl ich mich öd und leer

und kann es ertragen − nimmermehr!

Lange Zeit kam nichts andres für mich in Betracht

und deswegen habe ich mich schuldig gemacht.

Über dem Schwelgen in Sinnesfülle

wurde ich zur gänzlich leeren Hülle.

Jetzt füllt diese dekadente Opulenz

mein Inneres mit Renitenz.

Sinn und Bedeutung gingen mir verloren,

was bleibt, ist zu stinkendem Fusel gegoren.

Bei dem, was mir einst teuer und dem Rest meiner Ehr’,

ich kann es ertragen − nimmermehr!

So will ich euch nun die Gemeinschaft aufkünden

und bin nicht geneigt, das im Detail zu begründen.

Versucht auch nicht, mich umzustimmen,

ich werde mein Leben nicht weiterhin dimmen.

So wie jene Toten da in ihrem Magmagrabe,

möcht‘ ich nicht verkommen im Gallert eurer Tage.

Noch ahne ich nicht, wohin mich mein Fatum wird leiten,

doch nehme alles ich an, um Geist und Empfindung zu weiten.

Ich ergreife jetzt die Gegenwehr

und werde es ertragen − nimmermehr!

„Zwar verkörpere ich aktuell die antike Dichterin Sappho, doch muss ich eingestehen, dass du mir im Dichten um Längen voraus bist. Das ist überaus bedauerlich und vielleicht sollte ich mich demnächst an einer anderen Figur versuchen“, bemerkte die Frau im Chiton.

„Ich dagegen werde diesen Joker, glaube ich, noch lange nicht aufgeben. Irgendwie entspricht er meinem schrägen Naturell“, grinste die Fratze.

„Das kommt ziemlich plötzlich und klingt auch ziemlich endgültig. Ich nehme an, es gibt nichts, was dich umstimmen könnte?“ stellte die Frau in dem schillernden Trikot fest.

„Richtig. Ich bin schon lange mit mir uneins, ob ich dieses Leben weiterführen möchte. Es irisiert und gleißt wie dein Trikot, Shelly Floatgrave, aber es ist nicht echt. Sicher, es ist luxuriös bis zum Überdruss, bis zur Unerträglichkeit bequem, es bietet Sinnenkitzel jedweder Art und im Lesen deiner Holzbücher, Phileas Fogg“, Mnemonic fixierte den Gentleman im Cut, „lassen sich sogar sinnliche mit geistigen Genüssen verbinden. Aber dieses Leben ist völlig sinnlos, völlig bedeutungslos. Es ist egal, was wir tun oder auch nicht tun, wir erreichen damit nichts. Alles ist belanglos, austauschbar, beliebig. Wir haben alles und damit haben wir nichts. Denn nichts bietet uns Widerstand, nichts dürfen wir erwarten, an nichts können wir wachsen ...“

„Also, ich verfüge durchaus über ein Körperteil, an dem ich wachsen kann“, unterbrach der Joker genannte Mann.

Der Mann mit der Schädelplatte lächelte gequält. „Es sei dir unbenommen, in der Funktionalität deiner Schwellkörper zu schwelgen. Mir aber reicht das und auch alles Weitere, was euer Zirkel zu bieten hat, nicht mehr. Ich bin euch unendlich dankbar, dass ihr mich damals aufgenommen habt, als ich mich immer und immer wieder zwischen meinen cerebralen Windungen in partieller Amnesie verloren habe und völlig orientierungslos war. Aber inzwischen habe ich zu einer neuen Persönlichkeit gefunden und kann dieses Leben auf gar keinen Fall weiterführen. Im Übrigen fühle ich mich nach wie vor an mein Wort gebunden, alles, was ich hier erlebt und gesehen habe, für mich zu behalten. Auch habe ich keinen Grund, euer Treiben öffentlich zu machen. Ihr schadet ja niemandem und die kleine parasitäre Eiterbeule dieses Zirkels kann die Urb ohne Weiteres verkraften.“

Auf das Gesicht von Phileas Fogg stahl sich ein hintergründiges Lächeln.

„Immerhin hat dir diese Eiterbeule geholfen, wieder Ordnung unter deiner Schädelplatte zu schaffen“, sagte der de Sade genannte Mann und nahm sich eine Auster von einer Platte mit Seafood, die er mit Zitrone beträufelte und genüsslich durch die gespitzten Lippen in den Mund sog. „Und außerdem hatte ich den Eindruck, dass du dich zeitweilig durchaus gerne an diesem Eiter delektiert hast.“

„Das will ich auch gar nicht abstreiten und unter anderem ist genau das Teil meines Problems. Und wie auch immer ich jetzt zu eurem Treiben hier stehen mag: Ich bin euch verpflichtet. Aber ich kann nicht wissen, ob ihr meinen Worten Glauben schenkt oder aber davon ausgeht, ich sei eine latente oder vielleicht sogar akute Bedrohung für euch. Seid hiermit gewarnt, für diesen Fall habe ich vorgesorgt: Sobald sich meine Vitalwerte abrupt verschlechtern sollten, werden unmittelbar im OmniNet in sämtlichen NewsFeeds bestimmte Hinweise freigeschaltet, deren Veröffentlichung nicht in eurem Sinne sein dürften. Wenn wir uns aber, was ich doch sehr hoffe, gegenseitig in Ruhe lassen, steht einer friedlichen Koexistenz nichts im Wege.“

„Nun, ich denke, jeder von uns hat auf die ein oder andere Weise so seine Vorkehrungen getroffen, noch möglichst lange der Freuden dieser trauten Gemeinschaft teilhaftig sein zu können – oder sich meinetwegen auch woanders zu verlustieren“, kicherte die Fratze. „Ich für meinen Teil wüsste nicht, wo es mir in der gesamten Urb besser gehen könnte als exakt hier.“

„Ich für meinen Teil bedauere deine Entscheidung, Mnemonic“, sagte der Phileas Fogg genannte Mann, „sehe aber auch, dass du deinen Standpunkt hast. Wir sind die BigDatas. Als Gruppe reicht unser Arm weit und keiner von uns lässt die anderen in seine Karten schauen. Wir sind die Einzigen in der Urb, die nicht unter dem Diktat der Gaußkurve stehen und deren Bestimmung nicht das Mittelmaß, sondern Individualität und Extravaganz sind. Und da wir, um dieses Privileg aufrecht erhalten zu können, zwischen uns klare Verhältnisse schaffen und halten müssen, haben in der Tat jede und jeder von uns ganz eigene Vorkehrungen getroffen. Schließlich“, er lachte, „können wir im Falle von Unstimmigkeiten keinen bana­len Matching­Loop starten. Auch wenn wir völlig verschiedener Auffassung darüber sein mögen, wie es sich zu leben lohnt, lässt sich vielleicht das Diktum von Alexandre Dumas zitieren, eines frühen Zeitgenossen des von mir verehrten Jules Verne: ,Einer für alle. Alle für einen.‛ Im übertragenen und deutlich weniger romantischen Sinne bedeutet das: Wenn wir, die Datas, einem einzelnen von uns schaden, schaden wir uns allen. Und wenn einer von uns den Datas schadet, schadet er sich selbst.

„Zu Zeiten der von mir verkörperten Maggie Thatcher nannte man so etwas Gleichgewicht des Schreckens“, sagte die Frau mit der Föhnwelle.

„Das gefällt mir schon wesentlich besser als die gefühlsduselige Gruppendynamik von Dumas“, grinste Joker.

„Damit wäre das also geklärt“, stellte de Sade fest, während er einen Teles­kopgreifer ausfuhr, damit eine Sauciere ergriff und deren kochend heißen Inhalt langsam und genüsslich auf die Brust des auf die Tafel drapierten Mannes rinnen ließ.

„Wer so wie ich Hunger verspürt, möge mit mir die Tafel teilen. Aber auf die Trägerin der liebreizenden, himbeerbekränzten Fleischhügelchen dort erhebe ich alleinigen Anspruch. Und ich weiß auch schon, aus welch anderer Muschel ich eine dieser deliziösen, meersalzenen Austern schlürfen werde.“

Im obersten Stockwerk des Towers der Agency of SocialTechnology ruhte der Mann, der sich Phileas Fogg nannte, in einem ledergepolsterten Ohrensessel in seiner Bibliothek. Regal um Regal säumten Reihen von in die unterschiedlichsten Einbände gefassten Bücher die Wände. Er hatte diese Holzbücher aus dem zusammengetragen, was ihm an erhaltenen Beständen der untergegangenen Kultur mit der Zeit nach und nach zugänglich geworden war und sich auch das ein oder andere ihm wichtige Buch aus digitalen Archiven auf ZelluloseSheets fixieren und nach Maßgabe entsprechenden historischen Bildmaterials binden lassen. Aus einem die gesamte Stirnwand einnehmenden großflächigen Panoramafenster genoss er einen atemberaubenden Blick über die gesamte Urb. Immer, wenn er sich sammeln und nachdenken musste, zog er sich in seinen ReformClub zurück, wie er seine Bibliothek nach dem Lieblingsaufenthalt seines literarischen Vorgängers nannte. Wohlig dehnte er sich in seinem bequem geschnittenen Hausrock aus dunkelgrünem Samtimitat und starrte sinnend in die Flammen des Feuers, das in einem offenen Kamin loderte und die Buchrücken mit zuckenden Schatten überzog.

Es mochte albern sein, aber er liebte die Zeit des vorletzten Jahrhunderts des ausgehenden zweiten Jahrtausends, der die Figur entstammte, die er für seinen Avatar gewählt hatte: Phileas Fogg, Protagonist einer Fiktion des Autoren Jules Verne, die im sogenannten viktorianischen Zeitalter angesiedelt war. Neben den etwa 1.500 Holzbüchern seiner Bibliothek hatte er den Großteil seiner Kenntnis der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus aus einer Datenbank namens „Project Gutenberg“ gewonnen, die wie die anderen historischen Datenbestände der Urb aufgrund welcher Umstände auch immer nicht in dem großen Datencrash unterge­gangen war. Dem BigData erschien die Zeit des Phileas Fogg als eine Epoche, in der die Menschheit, obwohl massiv zum Fortschritt aufgebrochen, ihre Unschuld noch nicht verloren hatte. Wissenschaft und Forschung waren zunehmend in methodische Bahnen geflossen und mit der immer stär­keren Nutzbarmachung der Dampfkraft hatte die beginnende Industrialisierung Raum gegriffen. Im Zuge der Kolonialisierung hatte sich die gesamte Welt erschlossen – Phileas Fogg hatte gewettet, sie in 80 Tagen umrunden zu können – ohne jedoch schon in eine umfassende Vernetzung verstrickt zu sein. Anders als im Schmelztiegel Amerika war im britischen Empire die soziale Mobilität noch nicht entfesselt. Jeder wusste, wo er hingehörte und Phileas Fogg profitierte uneingeschränkt von der mit seinem sozialen Status einhergehenden finanziellen Unabhängigkeit und seiner intellektuellen Überlegenheit. Seine Welt war stabil und noch nicht in eine Schieflage geraten.

Diese hatte sich dann bei schließlich über 10 Milliarden Menschen im zweiten Jahrhundert des dritten Jahrtausends eingestellt, als die Dinge zunehmend außer Kontrolle geraten waren. Die Menschheit war zu groß und die Erde zu klein geworden, trotzdem beanspruchten alle einen immer größeren Teil. Die Polkappen waren zu großen Teilen abgeschmolzen, und die damit einhergehenden gravierenden klimatischen Veränderungen hatten weite Teile der Landflächen unbewohnbar gemacht. Es kam zu weltumspannenden Migrationsströmen und sozialen Verwerfungen. Keine Entwicklung blieb lokal begrenzt, jeder Fehler potenzierte sich und destabilisierte die Gesamtlage, jede lokale Katastrophe schlug aufs Ganze durch. Alles stand mit allem in Verbindung, jeder konkurrierte mit jedem, eine geringe Zahl Privilegierter um Luxus, die Masse um die bloße Lebensgrundlage. Dabei standen sich nicht wie in früheren Zeiten nur einige wenige Machtblöcke gegenüber, sondern es herrschte eine nicht mehr zu bändigende Vielfalt an lokalen und partikularen Interessen. Die Erkenntnisse aus den sich zunehmend verselbstständigenden Datenströmen aus oft genug widersprüchlichen Quellen boten keine Hilfe, im Sinne des großen Ganzen sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Schließlich konnte das fragile Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten werden und es war zur Katas­trophe gekommen. Wahrscheinlich hatte die Kumulation vieler kleiner Brandherde überall auf der Welt einen globalen Feuersturm entfesselt. Was danach geschah, verlor sich auf Generationen in den Nachbeben der Apokalypse. Da die globale Infrastruktur grundlegend zerstört war, mussten die wenigen überlebensfähigen Zentren der Zivilisation autark werden. Wie mittelalterliche Burgherrn hatten sie Schutzwälle um sich herum errichtet und waren voneinander isoliert und dezentralisiert geblieben, denn die Erfahrung der negativen Folgen einer unumkehrbaren weltweiten Vernetzung blieb dem kollektiven Gedächtnis verhaftet.

Der Mann, der sich Phileas Fogg nannte, erhob sich aus seinem Sessel, trat an das Panoramafenster, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte auf die Skyline der Urb, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Die Nachtsimulation war angebrochen und die Laser der DomeAnimation projizierten ein klares Firmament, an dem unzählige Sterne funkelten, die sich periodisch zu jeweils unter­schiedlichen Sternbildern gruppierten. Wie schimmernde Perlenketten durchzo­gen die dicht mit Cabs besetzten Strings der AntiGrav den CapitalGround und verloren sich in der Ferne auf den anderen Ebenen dieses Levels. Weit unter ihm ragten zwischen den Grounds die Spitzen der DomeScraper der Plattformen des nächsttieferen Levels.

Das war seine Stadt. Sicher lagen da draußen noch andere Städte und im weitesten Umfeld gab es auch etliche agrarische Gemeinschaften. Eine sollte gar matriarchalisch organisiert sein. Aber Genaueres wollte er gar nicht wissen und er hoffte inständig, dass es auch weiterhin zu keinerlei Kontakten oder gar Überschneidungen kommen würde. Denn hier, unter diesen Kuppeln, hatten sich die Dinge überaus vielversprechend entwickelt.

Gigantische, in einem geostationären Orbit von 22.250 Meilen relativ zur Erde stillstehende Sonnensegel ernteten die Lichtquanten der Sonne und leiteten deren Energie über einen Laser zur Erde in die Kraftwerke der Urb. Die in GenArchen konservierten Stammzellen längst ausgestorbener Arten lieferten ausgedehnten InVitro-Kulturen die Grundlage für die Züchtung von Lebensmitteln aller Art. MaterieKonverter synthetisierten aus wenigen, reichlich vorhandenen Ausgangsstof­fen fast alle Materialien, die die Urb brauchte. Sie war weitestgehend autark und durch die Kuppeln vor den Extremwettern geschützt, die regelmäßig über sie hinweg zogen.

Aber all das waren lediglich grundlegende Voraussetzungen, die Fogg als Selbstverständlich­keiten ansah. Was ihn wirklich interessierte, waren die Möglichkeiten, die sich vor diesem Hintergrund für die Entwicklung des Menschen eröffneten und als einer der BigDatas befand er sich in der exklusiven Position, hier entscheidend eingreifen zu können.

Alle 5 BigDatas waren leitende Köpfe der Agency of SocialTechnology, die deren Administration ganz weit nach oben gespült hatte. Da die Agency vor allen anderen Institutionen die entscheidende Schaltstelle zwischen den Anträgen des Systems für die Mittelung aller Citizens und deren praktischer Umsetzung bildete, verstanden sich ihre Mitglieder, die zudem je nach Stellung ihre ganz eigenen Privilegien genossen, als eingeschworene Gemeinschaft. Wenn auch der ein oder andere ahnte, dass es da in den höheren Rängen einen gewissen Zirkel gab, drang nichts davon in die Öffentlichkeit. Was genau seine Mitglieder trieben und auch die Bezeichnung BigDatas, die irgendjemand in dieser Runde einmal gekürt hatte, war dagegen aus guten Gründen ein streng gehütetes Geheimnis.

Die BigDatas saßen an den Hebeln der Macht und verfügten über Ressourcen, die den unter dem Diktat der Gausglocke stehenden Citizens verschlossen waren. Unter anderem hatten sie Zugang zu den Datenbeständen des SchismaticNet, die sämtliche Inhalte umfassten, die die Urb aus dem digitalen Overkill nach dem Kataklysmus hatte retten können, aber nicht ins OmniNet eingestellt worden waren. Im Zuge der Mittelungstendenzen des Systems spalteten sich zudem kontinuierlich Inhalte des OmniNet ab, die dann ins SchismNet flossen. Die Algorithmen, die das Netz steuerten, beförderten die Grundtendenz, eine unberechenbare Vielfalt von Angeboten und Informationen auf wenige, eindeutig quantifizierbare und damit berechenbare Kategorien hin einzuschränken. Beispielsweise boten hier detaillierte historische Informationen über die Kultur der Zeit vor dem Kata­klysmus keinen unmittelbaren Nutzen, sondern waren eher kontraproduktiv. Entsprechende InformationAreas wurden aber nicht abrupt abgeschaltet, sondern das System veränderte das kollektive Gedächtnis der Urb auf eine evolutive Art und Weise, indem die Nutzung von der Mittelung zuwiderlaufenden Inhalten über einen sehr langen Zeitraum hinweg für die Citizens fast unmerklich ausgeschlichen wurde. In Bezug auf Inhalte, die fester Bestandteil der aktuellen Kultur der Urb waren, konnte sich dieser Prozess durchaus über eine halbe Generation oder noch länger hinziehen. Da das System im Laufe der Zeit immer weniger mit diesen Areas zusammenhängende Anträge machte, wurden auch entsprechende Handlungs- und Wahloptionen immer weniger nachgefragt und die zu ihnen führenden Leads verschwanden allmählich. Hatte dann die Anzahl der Besuche einer InformationArea dauerhaft eine bestimmte Marke unterschritten, wanderte dieser Bereich ins SchismNet und war damit für die Allgemeinheit nicht mehr zugänglich. Im SchismNet aber blieb alles erhalten, denn das System löschte grundsätzlich keinerlei Informationen.

Wie und wann sich der Kreis der BigDatas konstituiert hatte, war nicht mehr nachvollziehbar und mochte er in der Verfolgung welchen Zweckes auch immer einmal eine feste Struktur gehabt haben, herrschte nun, wie Phileas Fogg erfahren hatte, die absolute Anarchie.

Er war durch seinen direkten Vorgesetzten eingeführt worden, der seine Karriere von Anfang an protegiert hatte. Anfangs war er gleichermaßen angezogen wie abgestoßen von den Exzessen, die sich ihm da zur Teilnahme anboten. Nach einer gewissen Inkubationszeit aber hatte er sich hemmungslos nachgegeben und sich in einem Machtrausch verloren, der in einem nur durch seine offiziellen Verpflichtungen unterbrochenen Sinnes- und Gefühlstaumel gipfelte, der jenseits all dessen lag, was er sich jemals vorzustellen gewagt hatte. Weniger disziplinierte Charaktere als er wären dem triebhaften Sog dieses Lebens dauerhaft erlegen. So hatten die anderen BigDatas zwar ebenfalls ihre offiziellen Stellen nicht aufgegeben und hüteten, einander argwöhnisch beobachtend, ihre strategische Machtbasis, lebten ansonsten aber ausschließlich ihren ganz privaten Obsessionen.

Seit einiger Zeit war es üblich, sich den Nimbus einer historischen oder fiktiven Figur zu verleihen und deren Besonderheiten und Eigenarten in aller Exzentrik auszuleben. Die spärlichen historischen Bestände über Kultur und Geschichte vor dem Kataklysmus, auf denen die BadPastLessons der Authority of PoliticalIndoctrination beruhten, konnten mit der Tiefe und dem Detailreichtum der diesbezüglichen Informationen des SchismNet in keiner Weise mithalten. Aber letztlich dienten die Lessons ohnehin nur als dünne historische Folie, gegen die sich die technologischen und wirtschafts-sozialen Errungenschaften der Urb umso positiver abheben ließen.

Phileas Fogg goss sich noch etwas Tee in eine dünne Porzellanschale. Er zog diesen „Earl Grey“ genannten Aufguss, den er sich aus verschiedenen Kräutern und Aromen synthetisieren ließ, den aktuellen Push- oder SmoothDrinks bei weitem vor. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie er im Rahmen einer Recherche im SchismNet auf die Daten des Project Gutenberg gestoßen war und ihn die Welt, die sich ihm da eröffnete, derart absorbiert hatte, dass er abrupt von einer sinnlichen in eine geistige Ekstase geraten war. Zwar im exklusiven Kreis der BigDatas angelangt, war er doch als in der UniqueSchool of Averaging sozialisierter Citizen mit schematisierten Kurztexten, Manuals, Abstracts und Briefings aufgewachsen, und kannte die Art von Texten nicht, die hier als „Buch“ bezeichnet wurde. Über diese Bücher in das Denken, Empfinden und Erleben längst verstorbener Menschen, längst untergegangener Welten eintauchen zu können, wirkte wie eine Droge, die ihn völlig vereinnahmt hatte, von der er allerdings auch sicher war, dass sie Gift für die zukünftige Entwicklung des Menschen darstellte. Natürlich war es völlig unmöglich, auch nur einen repräsentativen Bruchteil der 60.000 hier über die Wirren des Kataklysmus geretteten Werke zu lesen. Doch hatte er sich im Laufe seiner Zeit als BigData über die Werke der Autoren genannten Urheber von Aristoteles bis Zola einen guten Überblick verschafft.

Weniger die Sach- und Fachbuch genannten Schriften als vielmehr die als „Literatur“, „Belletristik“ oder „Romane“ bezeichneten Bücher hatten ihm einen tiefen Einblick in die Natur des Menschen vermittelt. In der Regel ging es um einen Helden, eine Heldin oder ein sogenanntes Individuum, die etwas suchten, das „Glück“ genannt wurde und dabei etwas trotzten, das „Schicksal“ hieß und in keiner Weise berechenbar war oder sich gegen eine „Familie“ genannte Gruppe von Menschen durchsetzten oder die Fesseln der Gesellschaft sprengten, um ihren eigenen Weg zu diesem Glück zu finden. Ein anderes Thema, das noch weitaus größeren Raum einnahm, war die sogenannte Liebe, ein exklusives, alles Empfinden übersteigendes Gefühl zwischen zwei Individuen, auf das diese entweder hinsteuerten oder das sie verloren hatten oder gegen das Schicksal oder die Gesellschaft verteidigten. „Dra­matisch“ oder „tragisch“ wurde es, wenn ein Individuum das andere liebte, dieses seine Gefühle aber nicht erwiderte oder aufgrund widriger Umstände nicht erwidern konnte. Der Liebe entgegengesetzt wurden Hass, Rache, Kampf und Krieg beschrieben, die Individuen und die mit ihnen verbundenen Menschen in Leid und Chaos stürzten.

Gerade weil ihn einige dieser Bücher so aufgewühlt hatten, war sich Phileas Fogg sicher, dass die Weltsicht, aus der heraus sie entstanden waren, der Entwicklung einer sicheren und für alle Citizens förderlichen Gesellschaft entgegenstand. Er war zu der festen Überzeugung gelangt, dass die Urb auf dem richtigen Wege war. Der Schlüssel war die totale Berechenbarkeit allen menschlichen Verhaltens. Nur so blieben die Dinge nicht dem Zufall und der Willkür eines nicht greifbaren Schicksals überlassen, nur so ließ sich das Leben sinnvoll steuern. Was der totalen Berechenbarkeit diametral gegenüberstand, war das Konzept des Individuums, als einzigartiges, vor allem seiner sogenannten „Selbstverwirklichung“ verpflichtetes Wesen.

Es war falsch zuzulassen, dass jeder sich ein von der Allgemeinheit nicht überprüfbares Bild von sich selbst und seinen Bezügen zu Welt machte! Es war falsch, dass jeder für sich seine Biografie deutete und individuelle Sinn­zusam­menhänge setzte! Es war falsch, dass jeder, ungeachtet der Kosten, die seine Mitwelt dafür bezahlte, seine sogenannte Selbstverwirklichung vorantrieb. Welche höchst fatalen Auswirkungen das mit sich brachte und wohin das führte, hatte ihm die sich in der Literatur der alten Zeit widerspiegelnde Geschichte gezeigt.

Die einzelne Person führte ihre ausgelebte Individualität neben spärlichen Takten des Glücks in den meisten Fällen in Leid und Verzweiflung. Auf der Ebene der Administration gab es Lug und Trug und im Rahmen dessen, was „Politik“ genannt wurde, führte die Sucht des Einzelnen nach Ruhm und Größe von lokalen Terroranschlägen bis hin zu weltumspannenden Kriegen. Schuld daran waren letztendlich immer die sogenannten Individuen, deren Sehnen und Trachten und damit Handeln nicht kalkulierbar und absehbar waren und so für die Gemeinschaft zur potenziellen Gefahr wurden. Abertausende waren an ihrer Selbstverwirklichung zerbrochen und hatten darüber ihre Mitwelt ins Verderben gerissen. Abertausende waren völlig verblendet den unhaltbaren Heilsversprechungen einzelner, sich als etwas Besonderes verstehender Individuen nachgelaufen, was zu unendlichem Leid und Unheil geführt hatte. Das Gehirn des Individuums war eine BlackBox, ein Inkubator, in dem bestenfalls Belangloses stattfand und schlimmstenfalls subversives, die Gemeinschaft aller schädigendes Gedankengut ausgebrütet wurde. Hier keine Kontrolle zu haben, hieß letztlich, jede Hoffnung aufgeben zu müssen, jemals ein produktives und friedliches Miteinander realisieren zu können.

Indem sie die lebenslange Sozialisation unter den Primat der Gaußglocke gestellt hatte und alle Extreme mittelte, war die Urb auf einem guten Wege, das Konzept des Individuums zu brechen. Möglich wurde das durch die gigantischen Kapazitäten des Systems, dessen Algorithmen alle schädlichen Auswüchse des Einzelnen auf ein gesundes Maß zurückstutzten. Wer auch immer die Grundlagen des Systems entwickelt hatte, hatte diese Notwendigkeit erkannt. Die Urb hatte sämtliche Weltinterpretationen und Sinnzuschreibungen von innen nach außen gekehrt und den Sumpf individuellen Selbstverständnisses ausgetrocknet. Sie hatte die wirren Ideologien der Geschichte, die sich wie Spaltkeile zwischen die Menschen trieben, und die daraus erwachsenen Gräuel überwunden und das menschliche Miteinander auf ein konsensfähiges, weil quantifizierbares und berechenbares Fundament gestellt. Rund um den Takt gab jeder Citizen zum Wohle des Ganzen durch die Aufzeichnungen der MatchingEyes Aufschluss über sein Verhalten und in jeder MatchingSession sein Innerstes preis. Dafür bot ihm die Community allumfassende Sicherheit und innerhalb fest definierter Kompatibilitätsgrenzen Deutungsmöglichkeiten, die er ausfüllen konnte, ohne durch dieses Verständnis seiner selbst den großen Gleichklang aller zu gefährden.

Welche Blüten entfesselter, mit Macht gepaarter Individualismus treiben konnte, dem weder durch andere noch durch limitierte Ressourcen Grenzen gesetzt wurde, zeigte Phileas Fogg das Beispiel der anderen BigDatas auf das Anschaulichste. Es gab weder explizite Zugangsregeln für diesen Kreis, noch war die Anzahl seiner Mitglieder festgelegt. Offensichtlich aber lag es in der Natur des Menschen, dieses, wie er bei Aristoteles gelesen hatte, auf Gemeinschaft hin ange­legten Tieres, sich selbst über die Abgrenzung zu anderen Kontur zu geben und in seinem Selbstverständnis zu definieren. Dabei waren Konkurrenz und Rivalität die das Verhalten bestimmenden anthropologischen Konstanten. So befriedigte es die BigDatas auf Dauer nicht, ihre Sonderstellung als reinen Selbstzweck zu genießen, sondern ließ sich augenscheinlich nur dann völlig auskosten, wenn sie anderen möglichst eindringlich demonstriert werden konnte. Macht wollte vor den Augen anderer ausgeübt werden, die ohnmächtig oder doch zumindest weniger mächtig waren, Besonderheit wollte zur Schau gestellt werden. Und da dies natürlich nicht in der Öffentlichkeit der Urb geschehen konnte, wurden dem Kreis von Zeit zu Zeit neue Mitglieder zugeführt, um sie mit den hier üblichen Privilegien zu blenden und zu beeindrucken. Untereinander buhlten die BigDatas darum, sich gegenseitig an Einfluss und Exzentrik zu übertreffen. So hatte die schiere Fassungslosigkeit Phileas Foggs, mit der er als neu eingeführter BigData den dort betriebenen Exzessen gegenüberstand, auch seinem Mentor ein Widerlager geboten, um dessen schon etwas abgestumpftes Selbstempfinden neu zu schärfen. Darüber hinaus war der Neuzugang ein willkommener Bundesgenosse gegen die anderen BigDatas.

Seinen Mentor hatten letztlich auch alle Kunstgriffe der transhumanen Medizin nicht am Leben erhalten können und er hatte Phileas Fogg vor seinem Tode sämtliche Fäden überspielt, die er in den Händen hielt. Diese Fäden gedachte Phileas Fogg nun im Laufe der Zeit zu einem dichten Netz zu spinnen, in dem er die anderen BigDatas mattsetzen konnte. Denn im Gegensatz zu ihnen ging es ihm nicht nur darum, in kleingeistigem Machterhalt den Daumen auf seine Sektion der Urb zu halten und dabei in von allen anderen Citizens abgehobenem Luxus zu schwelgen, sondern er verfolgte für die gesamte Urb höhere Ziele.

Konkurrenz und Rivalität mochten in den Urzeiten der Menschheit ihre Berechtigung gehabt haben, als das nackte Überleben davon abhing, sich gegen eine feindliche Natur zu behaupten und aus den Verteilungskämpfen zwischen den Artgenossen siegreich hervorzugehen. Als das Überleben dann für die meisten Menschen in seinen Grundzügen gesichert war, kam es zwischen denen, die permanent in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren, und denen, die es sich leisten konnten, ihre sogenannte Individualität zu kultivieren, zu Verwerfungen globalen Ausmaßes, die angesichts zunehmend knapper werdender Ressourcen, um die zu viele Menschen kämpften, schließlich zum Finalen Kataklysmus geführt hatten.

Viele Generationen nach dem Armageddon hatten sich nun aber vor dem Hintergrund des technischen Standards der Urb und der immensen administrativen Leistung des Systems völlig neue Perspektiven ergeben, die Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins grundlegend zu verändern. Das Konzept der Individualität hatte sich überlebt, denn die damit unauflöslich verbunden Verhaltensmuster von Konkurrenz und Rivalität führten lediglich zu Reibungs- und Effizienzverlusten. Die Aufgabe würde darin bestehen, das nach der totalen Gleichschaltung noch nicht eliminierte Konkurrenzverhalten der Citizens produktiv zu nutzen, aber so zu kanalisieren, dass alles Handeln weiterhin berechenbar blieb.

Das Feuer war inzwischen fast ganz heruntergebrannt und Phileas Fogg legte einen neuen Kloben FakeWood auf, der sofort auf ganzer Fläche aufloderte.

Spätestens, wenn die Urb den Omega-Punkt der totalen Gleichschaltung erreicht hatte, würde er damit beginnen, den Menschen völlig neu zu formen. Und bis dahin würde er schon Mittel und Wege finden, sich der andern BigDatas zu entledigen. De Sade war im Grunde ein gehemmter naiver Lüstling, der mit der Rolle seines historischen Vorbilds lediglich kokettierte und vor allem nicht über dessen Intellekt verfügte. Joker dagegen war wie sein Avatar tatsächlich ein gefährlicher und unberechenbarer Psychopath. Einige seiner Gespielen waren, nachdem er mit ihnen fertig war, nicht wiederzuerkennen gewesen. Sappho war eine naive Gans, die sich ziellos treiben ließ und alle 3 TeraTakte ihren Avatar wechselte. Thatcher gab sich zwar gerne staatstragend und hatte die sogenannte eiserne Lady als Avatar gewählt, weil sie glaubte, dass ihr in dieser Rolle mehr Einfluss zuwachsen würde, hatte aber bei weitem nicht das Format ihres historischen Vorbilds. Shelly Floatgrave schließlich, deren Avatar die berühmte Künstlerin der Quantendiffusion war, war genauso unberechenbar und unstet wie ihr Trikot. Sie würde nichts Dauerhaftes zustande bringen.

Der Einzige, der ihm vielleicht gefährlich werden konnte, war Johnny Mnemonic. Fogg bedauerte zutiefst, ihn dem Kreis der BigDatas zugeführt zu haben. Seine Hoffnungen, in dem ehemaligen CaseOne einen ebenbürtigen Gesprächspartner zu haben, hatten sich nicht dauerhaft erfüllt. Anfangs hatte Mnemonic begierig jeden Exzess mitgemacht, so, als suchte er den Nervenkitzel, um sich zu bestätigen, dass er noch lebte. Er hatte sich Fogg gegenüber aufgeschlossen gezeigt und sich in so manches Gespräch über die untergegangene Literatur ziehen lassen. Mit Mnemonic über die Lebenswelten literarischer Figuren zu reden, war, als würden diese leibhaftig Gestalt annehmen, als würde er sich mit einem Zeitzeugen austauschen, der etwa mit Don Quichotte und Sancho Pansa über die La Mancha geritten war. Fogg hatte das unsäglich genossen.

Doch bald schon hatte sich Mnemonic völlig in sich zurückgezogen. Wenn er aus seinen häufigen Absencen erwachte, deklamierte er in der Regel mit weit ausholender Gebärde ein Gedicht, um dann wieder tief in seinen Grübeleien zu versinken. Es war Fogg nicht mehr gelungen, in einen Kontakt mit ihm zu treten, der über den Austausch der üblichen Floskeln hinausging. Ihm daraufhin keine weitere Beachtung zu schenken und zu hoffen, dass sich sein Zustand vielleicht bessern würde, war ein großer Fehler gewesen. Mnemonics Entschluss, die Datas zu verlassen, traf Fogg jetzt völlig unerwartet.

Die Datas waren eine Clique rivalisierender Psychopathen. Jeder und jede von ihnen verfügte über ein digitales und personales Sicherheitsnetz, dass ihm seine Unabhängigkeit von den anderen Datas sicherte. Die jeweiligen Einflusssphären wurden eifersüchtig gehütet und keiner ließ sich in die Karten schauen. Und offensichtlich war es auch Mnemonic gelungen, sich abzusichern. Seine Drohung, den geheimen Zirkel der Datas in das Licht der Öffentlichkeit zu reißen, sollten seine Vitalwerte rapide unter einen bestimmten Schwellenwert sinken, konnte lediglich ein Bluff sein. Wenn er aber aus seiner verlorenen Identität als Entwickler bei SwellFurniture noch Kenntnisse zutage gefördert hatte, mochte es ihm durchaus gelungen sein, einen derartigen Algorithmus zu entwickeln und entsprechend zu implementieren. Zumal ihm Fogg im ersten Überschwang zu glauben, einen Vertrauten und Freund gewonnen zu haben, einen exklusiven Systemzugang eingeräumt hatte.

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte sich grob fahrlässig verhalten. Schließlich trug er der Urb gegenüber eine Verantwortung, die niemand anders als er, Phileas Fogg, wahrnehmen konnte. In Zukunft würde er sich niemals mehr so hinreißen lassen. Schließlich – und auch das hatte ihn die Geschichte gelehrt – war Einsamkeit der Preis der Größe. Vielleicht konnte es ihm auch recht sein, dass der cerebrale Cyborg jetzt seine eigenen Wege ging, denn er war sensibel und intelligent genug, im Laufe der Zeit Foggs eigentliche Pläne erkennen zu können und wäre ihm vielleicht gefährlich geworden. Für das Erste konnte er nur hoffen, dass Mnemonic nichts zustieß.

Phileas Fogg rückte sich in seinem Lehnstuhl zurecht, den er nach einer uralten Marke LazyBoy nannte, und ließ sich auf seinem AeroFlat den aktuellen Wert des SocialScoreUrb anzeigen. Dieser nur der Agency zugängliche Index umfasste den gemittelten Wert aller MatchingPoints sämtlicher SocialUnits und heuristischen Vergleichsgruppen der Urb: Er stand auf 73,25 Prozent. Bezogen auf den letzten Bemessungszeitraum von 100 MegaTakten bedeutete das eine Steigerung um ganze 0,25 Prozent. Wenn er das ohne exponentielle Sprünge und neue Sozialtechnologien zu berücksichtigen ganz einfach nur stur linear hochrechnete, würden die sich kontinuierlich beschleunigenden iterativen Prozesse der Mittelung in rund 30 MajorTakten die Hundertprozentmarke und damit den OmegaPoint erreichen, in dem sich die Dinge grundlegend ändern würden.

In einer fest definierten Anzahl unverzichtbarer Kategorien wäre alles Verhalten so dicht um den Mittelwert einer für das grundlegende WellBeing der Citizens notwendigen und das Gemeinwohl förderlichen Ausprägung herum verteilt, dass gerade noch die erforderliche Vielfalt und Varietät vorhanden waren, um die wirtschafts-sozialen Kreisläufe nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Denken und Verhalten aller Citizens wären vollständig gemittelt. Die Urb würde in einen Zustand völliger Berechenbarkeit und damit hundertprozentiger Absehbarkeit und Sicherheit eintreten.

Phileas Fogg lächelte in sich hinein. Er stellte sich immer vor, dass dann die Taille der Gaußglocke des möglichen Verhaltens zu einem schmalen senkrechten Strich in der Mitte eingeschnürt wäre. Wie hatte er seinen Leuten in der Agency immer wieder eingeschärft: Überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität.

Er war nun seit 15 MajorTakten ein BigData und jetzt 54. In längstens 30 MajorTakten hätte er sein Ziel der totalen Gleichschaltung allen Verhaltens erreicht. Dann wäre er 84 und da er in der Position war, sämtliche Mittel der transhumanen Medizin auszuschöpfen, konnte er es gut und gerne auf 120 MajorTakte bringen. Im OmegaPoint würde die Stunde der Wiedergeburt des Neuen Menschen schlagen und er, Phileas Fogg, wäre der Demiurg, der diesen Neuen Menschen erschaffen und steuern würde. Das individuelle Denken und Verhalten aller Citizens würde in eine Art TabulaRasa übergegangen sein, die er, wie damals bei CaseOne, völlig neu beschreiben konnte. Durch die totale Gleichschaltung der Sozialisation und die daraus erwachsene absolute Mittelung und Gleichschaltung von Denken und Verhalten hätte er es nicht mit zigtausenden, unberechenbaren, sogenannter Individuen zu tun, sondern trotz der erforderlichen genetischen Diversität nur eine einzige jungfräuliche Eva und nur einen einzigen gestaltbaren Adam vor sich, die er mithilfe des Systems in seinem Sinne beeinflussen und vorsichtig tastend die ersten Schritte unternehmen konnte, die vollkommene Gesellschaft zu formen.

Dismatched: View und Brachvogel

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