Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 16

System / ClockedCounter / Update_567 / Takt_23.673.891

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DigiTwins zu ziehen stärkt den HumanFactor.“

Guideline der Scouts der Agency of SocialTechnology

Ein an- und abschwellender Sinuston von 3 Sone: Ihr MatchingEye blinkte hell und die Weckfunktion des integrierten Morpheustrons holte View abrupt aus ihrem traumlosen Schlaf. Manchmal wünschte sie sich eine längere Übergangszeit, aber im Grunde war es in Ordnung, dass der WakeUpSound fest vorgegeben war, und sie hier nicht, wie überall sonst, vielfältige Wahlmöglichkeiten hatte. Sie fand, dass klar definierte Zustände und Befindlichkeiten ihrer Produktivität und ihrem Selbstempfinden zuträglich waren.

Sobald sie die Augen geöffnet hatte, schaltete sich das Morpheustron ab und die Statusanzeige ihres hinter einer Schicht aus lichtablenkenden Nanokristallen fast unsichtbaren MatchingEyes erwachte. Wie jeden Morgen signalisierte View das sanft pulsierende, rötliche Licht, dass alles im Mittel war und ihr nichts Unvorhergesehenes oder Unberechenbares zustoßen konnte.

Jetzt war sie schon seit 15 TeraTakten Member der Agency of SocialTechnology und die Routine ihres Arbeitsalltages hatte sich eingespielt. Zwei Intervalle Zirkulationsdusche, dann, „Make your Choice“, die Wahl ihrer Empowermentmusik, die sie den Tag über begleiten würde, und die Entscheidung für ein Outfit aus 5 möglichen Kategorien, die sie entsprechend ihrer tagesaktuellen Befindlichkeit wählen konnte: „prickelnd-inspirierend“, „proaktiv-dynamisch“, „ausgeglichen-konzentriert“, „verhalten-zögerlich“, „abgespannt-abwartend“. Die Anmutung der diesen Kategorien zugeordneten Outfits bewegte sich von bunt und farbenfroh bis hin zu gedeckteren Tönen. View aktivierte die Anzeige ihres HealthReports auf ihrem AeroFlat. Die allmorgendlich auf Basis einer Atem- und Urinanalyse, der Messung ihres Hautwiderstandes und der Protokolle der in ihrem Blutkreislauf zirkulierenden Nanobots erstellten Werte zeigten keine signifikanten Abweichungen von ihrer SteadyKurve und so wählte sie eine „proaktiv-dynamische“ Kombination in rot-orange, deren ImpressionForce auf andere Citizens als sehr wirkungsvoll eingestuft wurde.

Seit sie damals im CorporateGrowthCenter durch das Anlegen der Smileys und Grumpies die beängstigende Vielfalt ihrer Vorstellungen und Emotionen in feste Bahnen gelenkt hatte und sich so darüber klar geworden war, welche Gefühle sie jeweils an den Tag legen sollte, hatten ihr Kategorisierung und Klassifizierung Selbstbewusstsein und Verhaltenssicherheit verliehen. View wusste, dass es ihr auch heute gelingen würde, eine eindeutige Kontur zu gewinnen und der gewählten Kategorie zu entsprechen. Auch ihr Frühstück überließ sie nicht dem Zufall, sondern wählte gemäß den Ergebnissen ihres HealthReports eine bis ins kleinste Detail abgestimmte Mischung aus proteinhaltigen Energizern, Kohlehydraten, Nahrungsergänzungsmitteln und Ballaststoffen.

Einen halben MacroTakt später saß View in einem Cab der AntiGrav und schwebte hoch zum CapitalGround, wo sie ein spezieller Zubringer direkt in den Tower der Agency brachte. Auf dem Gang zu ihrer WorkingCell begegnete ihr Legol3s, ein WorkMate, der ebenfalls vor kurzem Takt hier angefangen hatte. Soweit View wusste, war er kein Scout, sondern Analyst, der die vom Board of PredictiveProfiling über mögliche Zukunftsereignisse bereitgestellten Daten mit den Erkenntnissen der Agency über konkretes Verhalten und Verhaltensdispositionen einzelner Citizens korrelierte. Die Ergebnisse der Arbeit dieser Analysts flossen dann in die Darstellung des digitalen Abbilds der SocialUnits ein, die View betreute. Legol steuerte direkt auf sie zu und starrte sie mit einem Gesichtsausdruck an, den View nicht zu deuten wusste.

„Na, alles im Mittel?“, fragte View.

Doch Legol würdigte sie keiner Antwort, strich wortlos dicht an ihr vorbei und ging den Gang hinunter. Äußerst irritierend. Aber nichts, das sich nicht in einer MatchingSession würde regeln lassen. In dem Bewusstsein, dass die über ihren Köpfen schwebenden Matching­Eyes entsprechende Daten aufgezeichnet und ausgetauscht hatten, war sich View völlig sicher, diesen Vorfall in einer Session bereinigen zu können. Möglichst heute Abend noch.

In ihrer WorkingCell angekommen, startete sie ihr ManagingDesk. Auf der weiten Fläche des Screens begannen die Icons der 32 SocialUnits zu leuchten und sich zu drehen, die sie, den CapitalGround ausgenommen, auf jeweils einem Ground der Urb beobachtete, Die meisten der in einem Kreis mit unregelmäßigen Rändern angeordneten Icons waren in einem unscheinbaren Grau gehalten und rotierten nur träge um die eigene Achse. Zur Peripherie hin wurden die Drehungen schneller und die Farben tendierten zu einem sehr blassen Graurot. Sollte einmal ein Icon sehr schnell und in einem Signalrot rotieren, wäre das ein Zeichen dafür, dass die Kohärenzkräfte der betreffenden SocialUnit überfordert waren und ihre Mitglieder Gefahr liefen, aus dem Mittel geschleudert zu werden. Das aber war gemäß den aktuellen Prognosen nur sehr wenig wahrscheinlich und Bewegung und Farbgebung der Icons repräsentierten lediglich die üblichen Schwankungen um einen robusten Mittelwert herum.

Noch immer war View von dem Sozioversum fasziniert, das sich da auf ihrem Screen ausbreitete. Rechnete sie jede SocialUnit mit 32 Mitgliedern, repräsentierten die 32 Icons 1.024 Citizens, für deren Mittelung sie verantwortlich war. Doch waren 32 Member natürlich nur eine mehr oder weniger statistische Größe und es konnten je nach Dichte und Intensität der Binnen- und Außenbeziehungen einer Unit entsprechend mehr oder weniger sein. Während der übliche Citizen neben den unmittelbaren Interaktionen in seiner SocialUnit noch etwa 70 bis 90 mittelbare Interaktionen in deren näheren und weiterem Umfeld unterhielt, konnte sie, wenn sie nur wollte, Verhalten und soziale Verflechtungen von rund 1.000 Citzens bis in die feinsten Verästelungen nachvollziehen. Sicher war das nicht realistisch, doch erfüllte sie allein die bloße Möglichkeit, jederzeit bis ins letzte Detail in das Leben so vieler Citizens eintauchen zu können, mit einem Gefühl der Allmacht.

Was sie sich aber zum Auftakt eines jeden Arbeitstages gönnte, war der Sprung in eine beliebige ihrer 32 Units, in deren SocialRelations sie sich dann im OverviewModus eine Weile vertiefte. Die Agency schränkte ihre spontane Neu­gier in keiner Weise ein und so hatte View nach einiger Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Einkaufs- und Beziehungsgeschichten auf sämtlichen Grounds der Urb nachvollzogen, die sie im begrenzten Zirkel ihrer eigenen Unit niemals erlebt hätte. Gerne hätte sie sich in manchen Geschichten festgesaugt, doch mahnte sie sich, den Überblick zu wahren und sprang immer wieder in andere und neue Units. Der Altersdurchschnitt der Member dieser Units entsprach ihrem eigenen Alter von 19 MajorTakten. Die Agency setzte ihre Scouts bevorzugt innerhalb der eigenen Alterskohorte ein, da sie davon ausging, dass die Scouts ihre gleichaltrigen Peers am besten verstanden. So entwickelte View bald ein relativ verlässliches Gespür für die vielfältigen Eindrücke, Hoffnungen, Wünsche und auch Abneigungen, die die Citizens ihres Alters auf sämtlichen Grounds der Urb bewegten.

Ein nicht unerheblicher Teil ihrer Arbeit bestand darin, Hypothesen darüber zu bilden, wie sich das Verhalten ihrer Peers kategorisieren lassen könnte:

„Citizens, deren Unit sie zu einem MatchingLoop eingeladen hat, scheinen langfristig dauerhafter gemittelt zu sein als solche, die niemals einem Loop unterzogen wurden.“

„Citizens, die mit den Peers ihrer Unit ein starkes Binnengefüge erleben, scheinen weniger nach außen orientiert als solche, die in ihrer Unit nur lockere Beziehungen pflegen. Es scheint aber auch Fälle zu geben, in denen Citizens die Bindung an ihre Unit als beengend erleben und sich verstärkt nach außen orientieren.“

„Das Einkaufsverhalten von Citizens, die im LoveGym viele wechselnde Partner haben, scheint breiter gestreut als das derjenigen, die nur wenige Partner haben.“

„Citizens, deren Einkaufsbiografie keine Brüche aufweist, scheinen sich allgemein wohler zu fühlen als solche, deren Psychogramm nicht mit ihrer Einkaufsbiografie übereinstimmt.“

„SocialRelations, die sich über den Kauf oder die Verwendung eines bestimmten Produktes oder die Nutzung eines bestimmten Services entwickelt haben, scheinen kurzzeitig intensiver zu verlaufen als solche, die auf dem Austausch von Meinungen, Kategorisierungen und Rankings beruhen. Diese scheinen dafür länger anzuhalten.“

Natürlich war die Aussagekraft solcher auf willkürlichen Stichproben beruhender Hypothesen begrenzt, zudem waren sie wenig valide; immerhin boten sie Anhaltspunkte für weitere Korrelationen. Aber der Agency war auch gar nicht daran gelegen, von ihren Scouts belastbare Hypothesen zu bekommen, als vielmehr daran, das zu schärfen, was sie den „HumanFactor“ nannte. Denn die Ergebnisse sämtlicher Analysen, die View als angehende Scout vornahm, konnte natürlich auch das System auswerfen, und das tat es, angesichts der Überfülle der zu verarbeitenden Daten auch mit einer Stringenz und Effizienz, die die Administratoren immer wieder in Staunen versetzte. Trotzdem war es ab und an zu Zwischenfällen gekommen, die die Maschinenintelligenz des Systems nicht zu prognostizieren in der Lage war. Solange die gesamte Citizenship der Urb noch nicht völlig gemittelt war, fand ein nicht unbeträchtlicher Teil des Verhaltens der einzelnen Citizens nach wie vor in einer Art BlackBox statt. Ein Umstand, dem die Agency dadurch Rechnung zu tragen suchte, dass sie den HumanFactor ihrer Scouts ausbildete und schärfte.

So hatte sich View in ihren ersten Takten in der Agency im Großen und Ganzen auf die Auswertungen des Systems verlassen und ihre Aufmerksamkeit auf die SocialUnits am Rande ihres ManagingDesks fokussiert, deren Farbcodierung tendenziell vom Grau der Mitte abwich. Aktuell konnten, wenn auch nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit von 0,47 Prozent, im Verhaltensumfeld von etwa 3 Prozent der 1.024 Citizens ihres Sozioversums mögliche Abweichungen um sich greifen und sie musste die 5 Units, über die diese Gefährder sich verteilten, einer eingehenderen Beobachtung unterziehen.

Nachdem sie, um ihren allgemeinen Horizont zu erweitern, zunächst die Interaktionen einer beliebigen SocailUnit gescreent hatte, widmete sich View auch heute dem, was sie am liebsten tat: Sie lernte ihr Terrain kennen und zog dazu ihre DigiTwins.

Alle Bewegungen der Citizens an sämtlichen RaumZeitPunkten der Urb wurden von den mobilen und stationären Einheiten des Systems unablässig aufgezeichnet. Fest installierte Kameras, Sensoren und Aktoren nahmen noch den geringsten Wimpernschlag wahr und die Dritten Augen der MatchingEyes folgten den Citizens auf Schritt und Tritt. Nanobots und Naniten, die bis in ihre Körper vordrangen, lieferten unaufhörlich Daten. Die breite Datenspur, die jeder Citizen im OmniNet hinter sich herzog, wurde kontinuierlich gespeichert und ausgewertet. So wurde für jeden Citizen ein digitaler Zwilling, sein DigiTwin ins System gespiegelt, dessen Datenkorpus neben dem Bewegungsprofil, sämtlichen Interaktionen out- sowie inNet und der physischen Verfasstheit auch große Teile der Psyche abbildete.

Die Entwicklung der DigiTwins der Citizens ihrer potentiell instabilen SocialUnits verfolgte View im Detail, seit sie bei der Agency angefangen hatte. Besonders die auf ihrem eigenen Ground gelegene Unit 66.862 faszinierte sie. Mal sehen, was sich da so getan hatte.

View berührte das entsprechende Icon am Rande ihres Sozioversums, das sich auf ihrem Screen drehte und ein Hologramm der stilisierten Figur wuchs in die Höhe und verdrängte die Icons der anderen Units. Um einer SocialUnit zugerechnet werden zu können, musste ein Citizen eine gewisse Anzahl von Face-to-Face-Beziehungen 1st-step mit den entsprechenden Interaktionen unterhalten und die tatsächliche Anzahl der Citizens dieser Unit schwankte zwischen 28 und 34 Membern. Durch von seiner Mitte kreisförmig nach außen verlaufende Handbewegungen zerteilte View das Icon der Unit – sie „zog“ ihre DigiTwins – und es zerfiel in Holoprojektionen der aktuell 31 Mitglieder. ManagingDesk und Screen sanken in den Boden der WorkingCell und während die Projektionen bis zu der natürlichen Größe der Citizens, die sie darstellten, in die Höhe wuchsen, nahmen sie auch deren Statur und Physiognomie an.

Die Agency schärfte ihren Scouts immer wieder ein, dass DigiTwins keine digitalen Abstraktionen waren, sondern in sämtlichen Aspekten konkret lebende Citizens abbildeten. Die Scouts sollten den DigiTwins der Citizens, die sie betreuten, daher gewissermaßen auf Augenhöhe begegnen. View liebte es, zwischen ihren Avataren herumzulaufen und wirklich alles über die von ihnen abgebildeten Citizens zu erfahren, ohne dass diese etwas davon wissen konnten. Leider war es den Scouts untersagt, ihre eigene Unit zu betreuen, sonst hätte sie sich selbst begegnen können.

Wenn sie mit Hand und Fingern über bestimmte Stellen im Gesicht und am Körper eines Avatars strich, öffneten sich Fenster für bestimmte KnowledgeSpheres, die ihr Auskunft über alles gaben, was der entsprechende Citizen erlebte und tat und – wahrscheinlich – zu einem großen Prozentsatz auch über das, was er fühlte und dachte. Jetzt stand sie vor DigiTwin 66.862-11, der eine Citizen namens Lalic4j8 repräsentierte. Anfangs hatte View es seltsam gefunden, die Informationen der KnowledgeSpheres nicht einfach abzurufen, sondern einem Avatar über die Augen zu streichen, um etwa einen bestimmten DayStream seines Matching­Eyes zu sehen, oder ihn in der Leistenregion zu berühren, um zu erfahren, in welcher Frequenz er mit wem welche LoveGyms aufsuchte. Mit zunehmenden Takt aber hatte sie begriffen, dass dies dazu diente, die Kompetenz auszubilden, die die Arbeit der Scouts der Agency auszeichnete: Den HumanFactor, der es ihnen ermöglichte, eine echte Beziehung zu Citizens auszubilden, die drohten zu Dismatchten zu werden, um in deren Verhalten das verstehend zu erspüren, was der Maschinenintelligenz des Systems verborgen blieb.

Nach einer Phase extremer und über einen langen Takt konstanter Abweichungen, während derer sich ihre Unit genötigt sah, sie einem MatchingLoop nach dem anderen zu unterziehen, hatte Lalic4j8 in kürzestem Takt einen Grad der Mittelung mit sämtlichen Parametern ihrer Unit erreicht, der fast 95 Prozent entsprach. Das war ungewöhnlich. In der Regel verlief das Matching von Abweichlern nicht so geradlinig und vor allem nicht so schnell. Was hatte diese Citizen nur dazu gebracht, sich so schnell wieder zu mitteln? Sicher, die Anträge des Systems an Abweichler, entsprechend ihrer Einkaufsbiografie nur Angebote wahrzunehmen, die ihr Psychogramm stabilisierten, mittelungsfördernde Meinungen zu teilen oder abweichendes eigenes und fremdes Verhalten einer Transparenzintrospektion zu unterziehen, leisteten hier gute Arbeit und der durch die MatchingLoops innerhalb einer SocialUnit entstehende Kohäsionsdruck tat ein Übriges. Doch hier war mehr im Spiel, das spürte View ganz deutlich. Sollte es ihr gelingen herauszufinden, warum sich diese Lalic4j8 plötzlich so mittelungsaffin verhielt und diese Erkenntnisse auf andere Dismatchte anzuwenden, würde das ihre Karriere bei der Agency ordentlich pushen. Mal sehen, was sich bei Lalic4j8 in den letzten MegaTakten so ergeben hatte.

Obwohl die Holographien exakt den Citizens nachgebildet waren, die sie darstellten, sahen die Gesichtszüge der DigiTwins irgendwie alle gleich aus, fand View. Sie strich dem Hologramm von Lalic4j8 über den Kopf und berührte dann nacheinander Augen, Nase, Mund, Ohren, Brust, Becken und Hände und öffnete so die Fenster der unterschiedlichen KnowledgeSpheres, die ihr Aufschluss über die letzten Entwicklungen gaben. Der Mittelungs­trend hatte sich weiter verstetigt und die Einkäufe, Rankings, Bewertungen und geteilten Meinungen der Citizen lagen jetzt mit dem Mittelwert ihrer SocialUnit fast deckungsgleich bei 98,97 Prozent. View bückte sich und berührte das Hologramm an den Füßen – seltsam, so vor einer DigiTwin zu hocken – um auch das Bewegungsprofil der Citizen einzusehen. Wie sie erwartet hatte, wies die Chronologie des Bewegungsmusters keinerlei Einbrüche oder Abweichungen von der der letzten Takte auf.

Abschließend ließ View mit weit ausholenden Gesten um das Hologramm herumgehend noch die DigiTwins der übrigen Member der Social­Unit aus dem Screen wachsen. Zwischen den DigiTwins spannte sich jetzt ein komplexes Geflecht von Linien auf, deren Ausrichtung, Stärke und Farbcodierung ein detailliertes Soziogramm der SocialUnit wiedergaben. Und wieder erwies sich das, was View am erstaunlichsten fand: Diese Lalic4j8 verteilte Dauer und Intensität ihrer Interaktionen völlig gleichmäßig auf die Mitglieder ihrer SocialUnit. Jeder hatte doch Peers, mit denen er mehr Takt als mit anderen verbrachte und sie selbst interagierte, auch wenn sie das zugunsten nützlicher Kontakte innerhalb der Agency einzuschränken begann, vermehrt mit Sonoki3ab und Siema27#X, aber Lalic4j8 unterhielt keinerlei exklusive Beziehungen 1st-step zu anderen Citizens. Es war am Takt, sich diese wandelnde Gaußkurve auf zwei Beinen einmal in Natura anzusehen.

Es bereitete View geradezu körperliches Unbehagen, am Ende eines MegaTaktes, an dem auch nur die geringste Irritation vorgefallen war, keine MatchingSession abhalten zu können. Heute stand dem allerdings nichts entgegen und so fuhr sie, sofort nachdem sie ihr Hexagon betreten hatte, ihr System hoch und rief das Profil von Legol3s auf. Richtig, er war kein Scout, sondern Analyst und hatte kurz vor ihr bei der Agency angefangen. Die Arbeit der Scouts galt gemeinhin als interessanter als die der Analysten. Vielleicht lag hier der Grund für Legols seltsames Verhalten. Andererseits kannte sie Analysten, die völlig darin aufgingen, über die komplexe soziale Realität der Urb ein dichtes Netz aus Datenpaketen zu legen, deren Auswertung weiter reichende Erkenntnisse brachte als lediglich die Beobachtung konkreten SocialBehaviours. Aber wie dem auch sei, mit bloßen Vermutungen, statt mit von der immensen Datenbasis des Systems gestützten Hypothesen, kam sie hier nicht weiter.

View startete daher den Mediator und gab ihre eigene Kennung, Kibele2k5, und Legols Kennung ein, Legol3s. Die Anzeige auf dem Bildschirm teilte sich in einen SplittScreen, auf dessen einer Hälfte Legols und auf der anderen ihr eigener DayStream im OverviewModus lief. Sie saß in der Grav – Legol stieg auf einen Hover. Sie loggte sich am speziellen Zugang der Grav in die Agency ein – Legol betrat das Gebäude durch den Haupteingang auf dem MesotesCircus. View verließ den Lift auf der Gallery ihrer Etage und plötzlich erschien Legol auch auf ihrer Hälfte des Bildschirms. Die SplitScreens schoben sich übereinander und View und Legol gingen aufeinander zu.

Obwohl sie es gewohnt war, fand View es immer wieder faszinierend, gewissermaßen aus sich herauszutreten und einen Teil ihres vergangenen Tages im Schnelldurchlauf an sich vorbeiziehen zu lassen. Irgendwie nahm sie dabei Distanz zu sich auf, beobachtete sich kritisch und bedachte, wie sie wohl auf andere gewirkt haben mochte. Und auch als sie jetzt den Stream auf Echtzeit verlangsamte, fragte sie sich, ob irgendetwas in ihrem Verhalten gewesen war, das Legol zu seiner seltsamen Reaktion veranlasst haben mochte.

Der Vorfall hatte sich genauso abgespielt, wie sie es erlebt und empfunden hatte. Legol ging direkt auf sie zu, ohne das geringste Anzeichen, ihr ausweichen zu wollen. Als sie gegensteuerte, zog er nach und schwenkte wieder auf Kollisionskurs ein. Sie wich zur Seite aus, er tat dasselbe in die gleiche Richtung, kam wieder unmittelbar auf sie zu und starrte sie dabei unentwegt an. Schließlich schob er sich so dicht an ihr vorbei, dass sich ihre Schultern streiften, und ließ ihr zögerliches, Na, alles im Mittel?, unbeantwortet.

Was war das? Sie hatte Legol keinerlei Grund gegeben, sich so zu verhalten. Sein Gesichtsausdruck war eine starre Maske der Wut, aber da schien auch noch etwas anderes mitzuschwingen, das sie nicht kategorisieren konnte. View war zwar durchaus in der Lage, die Mimik der Citizens zu deuten, mit denen sie zu tun hatte, doch Legols Starren schlug so sehr aus dem Mittel dessen, was sie gewohnt war, dass sie es für geraten hielt, einen MimikScan durchzuführen. Sie ließ das Raster des Mimikerkennungstools über Legols Gesicht laufen, um ihren vagen, subjektiven Eindruck zu verifizieren. Das Tool konnte jeweils 8 Ausprägungen von 32 Gesichtsausdrücken erkennen und validieren.

In der Rangfolge der Ausprägung von stark nach schwach ergab der Scan: Wut: 8; Neid 7, Unbehagen: 5; Unsicherheit: 3; Zögerlichkeit 2. Was für ein emotionales Gemuddel. Die Ergebnisse des MimikScans brachten sie nicht unbedingt weiter.

Der nächste Schritt in der MediationsHeuristik war jetzt, gezielte Fragen des Systems zu beantworten. View rief den DeeskalationsGuide auf:

„Kein Stein auf dem Weg zur Mittelung wird liegen bleiben. Beantworte die folgenden Fragen der Konfliktanamnese nach bestem Wissen und Gewissen.“

View empfand die Guidance des Systems eigentlich immer als etwas simpel, war jedoch jedes Mal froh, die Dinge so bereinigen zu können.

„Handelt es sich um einen offenen oder einen versteckten Konflikt?“

Sie war noch nie mit Legol aneinandergeraten.

„Versteckter Konflikt.“

„Möchtest du einen Umfeldcheck machen?"

Der Umfeldcheck screente sämtliche SocialRelations der Medianten nach etwaigen Unstimmigkeiten. Das konnte nicht schaden.

„Ja.“

„Bislang sind keine Konflikte mit Legol3s im Umfeld deiner SocialRelations bekannt.“

Der Umfeldcheck hatte ihr schon oft geholfen, führte hier aber offensichtlich auch nicht weiter.

„Kannst du dich an andere kritische Situationen mit Legol3s erinnern, in Bezug auf die du aber keine MatchingSession angefordert hast?“

Sie überlegte. Bislang war sie Legol höchstens 4 oder 5 Mal begegnet und soweit sie sich besinnen konnte, war dabei nichts Besonderes vorgefallen.

„Nein.“

„Hast du irgendwelche Vermutungen, was in deinem Verhalten Legol3s zu einer solchen Reaktion getrieben haben könnte?“

Hätte sie hier auch nur die leiseste Ahnung gehabt, hätte sie sich den Anamnesedurchlauf sparen und den Mediator gleich nach einer Konflikthypothese fragen können. Aber das System ging eben immer auf Nummer sicher. Erst Anamnese, dann Hypothese.

„Nein.“

„Möchtest du eine Konflikthypothese erstellen lassen?“

„Ja.“

„Konflikte sind Stolpersteine auf dem Weg der Mittelung. Verhindere daher die Entstehung von Konflikten und vor allem deren Eskalation und fordere schon beim geringsten Anzeichen eine Konflikthypothese deines Mediators an.“

„Ich beantrage in Bezug auf die von mir, Kibele2k5, Update_567 / Takt_23.706.291 wahrgenommene Irritation mit Legol3s eine Konflikthypothese.“

„Konflikthypothese für Kibele2k5 und Legol3s. Grundlage verifizierbare Daten wie folgt:

Daystream von Kibele2k5 und Legol3s, Update_567 / Takt_23.706.291 bis Update_567 / Takt_23.706.306.

Auswertung des MimikScans von Legol3s: Legol3s beneidet Kibele2k5 in hoher Ausprägung. Er ist aber auch in geringerer Ausprägung verunsichert und zögert, seine negativen Gefühle Kibele2k5 gegenüber auszuleben. Dies findet seinen Ausdruck in Unbehagen mittlerer Ausprägung und Wut hoher Ausprägung. Die Wut richtet sich gegen Kibele2k5, weil sie diesen Gefühlskonflikt in ihm auslöst, aber auch gegen Legol3s selbst, weil etwas in ihm ihn daran hindert, Kibele2k5 offen anzugreifen.

Vergleich der Eintrittsdaten in die Agency: Legol3s ist 3 TeraTakte länger Member der Agency als Kibele2k5.

Vergleich der Eignungsprofile: Legol3s wurde eine hohe analytische Kompetenz attestiert. Kibele2k5 wurde eine hohe analytische Kompetenz sowie eine ungewöhnlich stark ausgeprägte soziale Empathie attestiert.

Vergleich der CareerPoints: Legol3s 115, Kibele2k5 135.

Aus diesen Daten ableitbare Schlüsse führen zu folgender Konflikthypothese: Legol3s beneidet Kibele2k5 um ihren Erfolg in der Agency. Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache des Konflikts hier zu finden ist: 78,65 Prozent. Die negativen Gefühle Kibele2k5 gegenüber sind noch nicht verfestigt. Das gibt Kibele2k5 eine Chance von 83,76 Prozent, positiv im Sinne der Mittelung auf Legol3s einzuwirken.

Möchtest du Legol3s mit dieser Konflikthypothese konfrontieren und face to face daran arbeiten, den Konflikt zu mitteln?“

Legol beneidete sie um ihren Erfolg in der Agency. Das konnte es sein! Seitdem sie schon in recht kurzen Takt durch geschicktes Networking zu so etwas wie der inoffiziellen Opinion­Leaderin der JuniorScouts geworden war, hatten ihre Supervisoren View in den Fokus genommen. Die Analysen und Hypothesen, die sie zum Verhalten ihrer Peers entwickelt hatte, mochten ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sie als vielversprechendes Talent galt und direkt von der AntiGrav einen exklusiven Zugang zur Agency erhalten hatte. Legol dagegen hatte die Agency durch den Haupteingang am MesotesCircus betreten. Hatte er also Grund, neidisch auf sie zu sein?

View war immer wieder erstaunt, wie das System scheinbar zusammenhangslose Daten miteinander verknüpfte und dann zu wirklich belastbaren Folgerungen kam, auf die man solide bauen konnte. Vor dem Hintergrund einer vom Mediator offiziell ausgegebenen Konflikthypothese ließ sich immer leichter agieren als auf der Basis lediglich persönlicher Mutmaßungen.

„Ich beantrage in Bezug auf die von mir, Kibele2k5, Update_567 / Takt_23.706.291 wahrgenommene Irritation mit Legol3s eine Konfrontation.“

Auf dem Screen erschein eine ebenmäßig verlaufende Gaußkurve, deren linke Hälfte mit Legols und deren rechte Hälfte mit Views Namen versehen war. Das Icon einer miniaturisierten Glockenkurve zeigte an, dass View bereits eine Konflikthypothese eingeholt hatte. Dann öffnete sich eine Totale in Legols Hexagon, die langsam auf dessen Bewohner zoomte. Legol war offensichtlich gerade dabei, ein PreparedMeal von SwellTaste oder BigFlavour – View konnte das Logo auf dem FreshPack nicht genau erkennen – in die MoleculeRub zu schieben. Ihr Gesicht musste jetzt die gesamte Fläche seines Screens ausfüllen und als Legol ihrer Anwesenheit gewahr wurde, sah er erschrocken auf.

„Oh, hallo ... „

„Hier ist Kibele2k5, die du heute Morgen auf dem Weg in deine WorkingCell so konfrontativ angegangen bist und ...“

Legol wirkte irgendwie ertappt, doch hatte er sich schnell wieder gefasst.

„ ... und deswegen willst du mir jetzt eine MatchingSession antragen“, unterbrach er sie. „Und wie ich sehe, hast du auch schon eine Konflikthypothese eingeholt. Allzu weit her kann es mit deinen Empathiefähigkeiten also nicht sein.“

Sieh da, Legol war ihr gegenüber immer noch aggressiv. Seine Hälfte der Gaußkurve beulte sich nun auf der X-Achse ein wenig nach links aus.

„Ich wollte deinen Takt nicht mit eventuell wenig zielführenden Fragen beanspruchen. Und außerdem finde ich es immer besser, rein persönliche Eindrücke durch Auswertungen des Systems zu validieren.“

Das auf der X-Achse liegende Ende ihrer Hälfte der Gaußkurve verringerte die Distanz zur Mittelachse.

„Nun komm schon, rede nicht länger um das ausgewogene Mittel herum. Was hat das System ausgespuckt?“

„Dass du neidisch auf meinen Erfolg in der Agency bist.“

Legols herausfordernd hoch gerecktes Kinn sank abrupt nach unten. View hatte schon oft erlebt, dass die Angriffslust der Kontrahenten versteckter und selbst offener Konflikte rapide abnahm, sobald die tieferen Ursachen einer Meinungsverschiedenheit einmal vom System offengelegt und offiziell benannt worden waren. Irgendwie war einem damit jegliche Basis entzogen, allein vor dem Hintergrund der eigenen Sicht der Dinge gegen die ebenfalls völlig subjektive Perspektive des Opponenten anzurennen. Konflikte waren komplex und je länger die Kontrahenten auf ihrer subjektiven Wahrnehmung beharrten, desto tiefer verstrickten sie sich in eine Gemengelage, aus der sie alleine nicht mehr herauskamen. Das System aber entschlüsselte diese Komplexität, deckte auch noch die geringste Kleinigkeit auf und der Mediator unterstützte fundiert dabei, die Dinge zu objektivieren und wieder ins Mittel zu bringen. So war es auch diesmal.

„Ich habe ja auch allen Grund, dir deinen Erfolg nicht zu gönnen. Dir scheint alles zuzufliegen und selbst, wenn ich hart daran arbeite, erreiche ich nicht das, was ich mir wünsche.“

„Hast du denn deine Karriere nicht entsprechend den Anträgen des Systems geplant?“

„Doch, schon, aber für die meisten Jobs waren meine vom System ausgewiesenen Qualis gleich gut – oder“, Legol lachte, „gleich schlecht und so hatte ich keinen triftigen Grund irgendetwas zu wählen. Zur Agency bin ich gegangen, weil ich mir gedacht habe, der Job als Scout, dein Job, muss megagauß sein. Ich hatte gehofft, von der Analyse ins Scouting rüber­switchen zu können. Doch bislang hat sich da nichts ergeben. Und dann kommst du und schwingst dich in kürzestem Takt zum RisingStar unter den JuniorScouts auf. Sorry, aber das kann ei­nen schon mal aus dem Mittel hauen.“

Die Ausbuchtung auf Legols Seite der Gaußkurve ging langsam wieder zurück.

„Verstehe – und da steckst du jetzt in einem emotionalen Dilemma. Ich habe dein Gesicht während unserer Konfrontation einmal einem MimikScan unterzogen. Er weist in hoher Ausprägung Wut und Neid, aber in mittlerer Ausprägung auch Unbehagen und in geringerer Unsicherheit und Zögerlichkeit aus.“

„Vergaußt, musst du mich derart stalken? Was geht dich mein Gesichtsausdruck an? Sorry“, Legol senkte die Augen, „natürlich ist es dein gutes Recht, deinen DayStream entsprechend auszuwerten.“

Legols Seite der Gaußkurve schien zu atmen. Dehnte sich aus, zog sich wieder in Richtung Mitte zurück.

Nicht umsonst hieß diese Phase der MatchingSession Konfrontation, dachte View. Vielfach wurde man hier nicht nur mit einem Konfliktpartner konfrontiert, sondern auch mit sich selbst. Überhaupt war ein MimikScan ein probates Mittel, sich seiner Gefühle bewusst zu werden und sie angemessen zu handeln. Oft genug hatte sie in einem DayStream das Raster des Scans über ihr eigenes Gesicht laufen lassen, um sich in einem Gefühlschaos nicht aus der Mitte tragen zu lassen.

„Nun, als ich dich heute früh plötzlich auf der Gallery gesehen habe, stieg mir wieder einmal meine Situation hoch und ich konnte einfach nicht anders. Aber im Grunde hast du mir ja nichts getan und ich kenne dich ja auch kaum. Vielleicht bin ich einfach nur auf mich selbst wütend, weil meine Situation so verfahren ist.“

„Ich kann dich gut verstehen, das ist bestimmt nicht einfach.“

Jetzt waren beide Hälften der Gaußkurve kongruent.

View kam spontan eine Idee.

„Weißt du was, ich nehme dich in den Distributor für meine Messages an die JuniorScouts auf. Es ist sicher nicht verkehrt, wenn Analysts und Scouts gegenseitig mehr von ihrer Arbeit erfahren. Du weißt schon, JobEnrichment und so. Vielleicht können wir das Ganze zu einem Chat zwischen unseren Departments ausweiten und vielleicht ergibt sich daraus für dich ja doch noch die ein oder andere Chance.“

Legol dachte kurz nach.

„Ja, danke, gute Idee. Das dürfte meinen Job interessanter machen und vielleicht ergibt sich ja tatsächlich etwas. Ich bin gespannt.“

„Schön, dass wir uns geeinigt haben. Dann lass uns noch das Commitment abgeben.“

„Ach ja, also: Ich, Legol3s, bestätige, dass die soziale Friktion mit Kibele2k5, Update_567 / Takt_23.706.291 beigelegt ist.“

„Auch ich, Kibele2k5, bestätige, dass die soziale Friktion mit Legol3s, Update_567 / Takt_23.706.291 beigelegt ist.“

Der Focus auf Views Screen zoomte aus Legols Hexagon heraus und abschließend ließ sich noch einmal die sonore Stimme des Mediators vernehmen:

„Dein Mediator gratuliert dir zu deiner erfolgreichen Mittelung. Zögere nicht, die Ergebnisse deiner Bemühungen in die Mediatiothek einzugeben, um sie für andere Citizens, die unter sozialen Friktionen leiden, zu dokumentieren.“

Dismatched: View und Brachvogel

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