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Sommersaat; erster Umlauf im fünfhundertvierundfünfzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

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Liebe Luna, sanfter Stern,

wir haben dich nur allzu gern,

gib in der Nacht,

wohl auf uns acht,

und schenk uns auch bei Tag Geleit

für Demut und Besonnenheit.“

Gebet der Milchkinder

Ein Knabling von vielleicht sechs Umlaufzwölfen stand neben einem Hackklotz, auf dem ein gerupftes Huhn ausgebreitet lag. Die wächsernen Krallen starr gen Himmel gestreckt, baumelte der Kopf an dem unnatürlich lang wirkenden Hals erbarmungswürdig längs des Klotzes herab. In der gelblichen, mit Fett unterlegten Haut hatten die ausgerissenen Federkiele viele kleine Krater hinterlassen. Die Federn lagen um den Hackklotz zerstreut auf dem Boden. Der kleine Junge meinte, das Huhn gekannt zu haben, als es noch Federn hatte und nach Körnern pickend mit ruckendem Kopf auf dem Hof herumstolziert war. Nun musste es doch frieren. Wie es wohl wäre, selbst solch ein Federkleid zu haben? Fliegen würde er damit wohl nicht können, da mit ein paar Federn aus seinen Armen noch lange keine Flügel würden, aber es wäre vielleicht interessant zu sehen, ob die Federn wärmer wären als sein Hemd oder welches Gefühl auf der Haut entstehen würde, wenn der Wind über die Federn strich. Erst einmal zog er sein Hemd aus und dann musste er es irgendwie schaffen, dass die Federn auf seiner Haut haften blieben. Ohne lange zu überlegen, lief er zu einer Pfütze, in der nach dem Regen der Nacht noch das Wasser stand, tauchte beide Hände in die lauwarme Nässe, wirbelte vom Grund etwas Schlamm auf und verrieb die mit Lehm gesättigte Pampe über Arme, Brust und Beine und soweit er um sich herumreichen konnte, auch auf seinem Rücken. Dann sprang er zum Hackklotz zurück und wälzte sich solange in den Federn herum, bis die meisten davon an seiner Haut klebten. Da das Huhn vor nicht allzu langer Zeit gerupft worden war, hafteten an den Federkielen noch frische Reste von Fett und Blut, die noch nicht eingetrocknet waren und sich mit dem Lehm auf seiner Haut verbanden. Der kleine Junge stand auf und sah an sich herunter. Er sah nicht aus wie ein Huhn. Da waren noch viele Stellen, die völlig frei von Federn waren. Aber er war ja auch viel größer als solch ein Federvieh. Auch bedeckten ihn große und kleine Federn ganz unregelmäßig und waren nicht in eine bestimmte Richtung ausgerichtet. Richtig spüren konnte er sein neues Federkleid auch nicht, denn der allmählich trocknende Lehm spannte auf seiner Haut, so dass sie wie mit einem Panzer überzogen war. Aber all das war ihm erst einmal egal. Er war jetzt ein Vogel und wollte hinunter zu Fluss.

Als eine Mutter, sie mochte etwa achtzehn Umlaufzwölfe zählen, am späten Nach­mittag den Knabling fand, saß er auf einem Stück Unland am Fluss und hatte einen hohen Turm aus Kieseln vor sich aufgetürmt, den er mit kleinen Stecken abgestützt hatte. Die Mutter mochte den Kleinen. Zwar gehörte er nicht zu ihren Zöglingen, doch war er ihr schon verschiedentlich durch sein keckes und verständiges Wesen aufgefallen. Er war der Pfiffigste aus seiner Gruppe und sprühte nur so vor Ideen und Tatendrang. Leider brachte das aber auch mit sich, dass er sich öfters einer plötzlichen Eingebung folgend von der Gruppe entfernte und dann einfach verschwunden blieb. Die Mütter hatten schon überall vergeblich gesucht, als ihr dieser Platz am Fluss einfiel, an dem der Kleine schon einmal gefunden worden war. Richtig, da saß er ja.

Über und über mit Federn bedeckt, die von einem der eben geschlachteten Hühner stammen mussten, bot er einen recht absonderlichen Anblick. Der Turm aus flachen Flusskieseln, den er errichtet hatte, war so geschickt durch seitlich in die Erde gerammte Stöckchen gesichert, dass er zu einer erstaunlichen Höhe gediehen war.

„Hier steckst du also.“

Der Kleine wandte sich von seinem Turm ab und sah fragend zu ihr herüber. Er sah aus wie ein ungeschlachtes, völlig aus der Form geratenes Federwesen in der Mauser. Eigentlich wollte die Mutter den Jungen ausschimpfen, doch dann musste sie unwillkürlich lachen.

„Was für ein seltsames Tier bist du denn?“

Auf das Unland blickend, das regelmäßig vom Fluss überschwemmt wurde, beantwortete sie sich ihre Frage dann selbst.

„Du bist mir schon ein rechter Brachvogel. Du weißt aber doch ganz genau, dass du nicht allein von deiner Gruppe fortlaufen sollst. Jetzt aber hopp, zurück in den Kreis.“

Sie nahm das Kind an der Hand, das sich widerstandslos von ihr führen ließ. Sie stiegen eine Weile den vom Ufer aufwärts verlaufenden Pfad hinan, überwanden mehrere aus Weiden geflochtene Hürden, unter denen der Kleine hindurchgekrabbelt sein musste, kamen an einer Scheune und schließlich dem Hackklotz vorbei, von dem das Huhn, Luna sei es gedankt, inzwischen verschwunden war, querten die Hühner- und Kaninchenställe, bis sie schließlich einen von niedrigen Hütten umsäumten Platz erreichten. Hier saßen, auf fünf Kreise verteilt, etwa fünfzig Knablinge gleichen Alters, die jeweils von einer Frau beaufsichtigt wurden.

Die Mutter steuerte die mittlere Gruppe an und sagte, den Kleinen in den Kreis schiebend, mehr zu den anderen Frauen als den im Rund sitzenden Kindern:

„Hier führe ich euch unseren wieder einmal verloren gegangen Brachvogel zu. In dieser denkwürdigen Aufmachung saß er auf der Brache unten am Fluss und baute Steintürme.“

„Gut, dass du ihn gefunden hast, Ayiah“, sagte die Älteste Mutter. „Ich habe mir schon ernsthafte Sorgen gemacht. Wir können es uns einfach nicht leisten, auch nur einen von diesen zu verlieren.“

Die anderen Mütter blickten den Kleinen mit gerunzelten Brauen missbilligend an, die Knablinge, in deren Mitte er wie ein von einem fremden Stern ge­fallenes Wesen stand, aber lachten ihn unverhohlen aus, während sie im Chor skandierten:

„Brachvogel – Federmogel, Brachvogel – Federmogel“.

Bis auf einen, Agror geheißen, der ihn neugierig und fast schon ein wenig bewundernd ansah.

Von diesem Moment an waren Brachvogel und Agror unzertrennlich. Beide waren einander bislang noch nicht aufgefallen. Doch als Brachvogel da mitten im Kreis stand und nicht wusste, wie ihm geschah, neigte sich sein Herz natürlich dem zu, der ihn nicht verhöhnte. Und für Agror verkörperte Brachvogel in seinem missratenen Federkleid trotz aller Lächerlichkeit etwas Besonderes, Andersartiges, das ihn aus der Enge und Gewöhnlichkeit der eigenen Person herauszuführen versprach.

Während der Abendbesinnung suchte Brachvogel dann auch die Nähe Agrors, stellte sich neben ihn in den Kreis und besiegelte ihre neue Freundschaft mit einem kurzen Nicken. Alle Knablinge fassten einander an den Händen und richteten ihren Blick dorthin, wo gemäß der Anweisung von Mutter Leial am wolkenverhangenen Himmel das Nachtgestirn stehen musste. Gemeinsam sprachen sie ihre Bitte an die Mondin, die sie am Ende jeden Tages anstimmten, bevor sie sich zur Nacht niederlegten:

„Liebe Luna, sanfter Stern,

wir haben dich nur allzu gern,

gib in der Nacht,

wohl auf uns acht,

und schenk uns auch bei Tag Geleit

für Demut und Besonnenheit.“

„Mit dieser Anrufung der gütigen Mondin beschließen wir wie immer diesen Tag“, sagte Mutter Leial und geleitete die Knablinge zu ihren Schlafstellen.

Mit der Zeit gerieten Brachvogels ursprünglicher Name und die Umstände, wie er zu seinem neuen Namen gekommen war, in Vergessenheit. Er war Brachvogel. Längst schon war kein Spott mehr mit diesem Namen verbunden und er trug ihn wie eine Auszeichnung.

Nach Brachvogels Beobachtung gab es in der Stätte der Aufzucht zwei Arten von Menschen, Milchkinder oder Knablinge wie Agror und ihn selbst und die Mütter. Man musste den Müttern in Allem folgen und gehorchen, denn sie kannten das Leben, wussten um Gut und Böse und erklärten Werden und Wachsen und den Zusammenhang aller Dinge im empfindlichen Gefüge der Welt. Knablinge waren unwissend und klein und bedurften dringend der unablässigen Lenkung der Mütter. Mütter waren groß, staken in wallenden Gewändern, trugen lange Haare, wanden Schmuckreifen um die Handgelenke und hatten Brüste, aus denen man trinken und satt werden konnte. Während die Knablinge oft nackend umherliefen, sah Brachvogel die Mütter bis auf die jeweils zum Trinken freigelegte Brust niemals entblößt. Alle Milchkinder, gleich welchen Alters wurden an der Brust gelabt. Die ganz kleinen lagen dazu im Arm der Mütter, die mittleren saßen auf deren Schoß und die ganz großen kletterten vielfach auch schon einmal auf ein Bänkchen, während die Mutter über der rechten oder linken Brust eine Falte ihres Gewandes für die Nährung aufknöpfte, ohne ihre momentane im Stehen ausgeführte Verrichtung zu unterbrechen. Die älteren Knablinge bekamen natürlich auch andere Nahrung, aber in der gesamten Zeit ihres sieben Umlaufzwölfe währenden Lebens in der Stätte der Aufzucht bestand die mittägliche Haupt­mahlzeit aus Muttermilch.

Mit steigendem Alter hatte sich Brachvogel zunehmend von den milchprallen Brüsten der Mütter abgestoßen gefühlt. Dagegen liebte er es, Wasser oder Kräutertee aus einem Becher zu trinken und sobald er alt genug war, ein solches Gefäß zu greifen, hielt er immer eines in der Hand, während er an einer Brust saugte, und fuhr begeistert über die klaren und festen Konturen hin, die ihm eine verlässlichere Orientierung zu bieten schienen als die nachgiebigen Brüste, die der Berührung seiner Lippen, dem Druck seiner Zunge oder dem Tasten seiner Hände keinen eindeutigen Widerstand entgegensetzten. Auch konnte er sich nicht an die unterschiedlichen Geschmäcke, Gerüche und Ausdünstungen der Mütter gewöhnen. Denn es nährte nicht eine bestimmte Mutter einen bestimmten Knabling, sondern alle Mütter spendeten allen Milchkindern Nahrung aus ihren Brüsten.

Eines Morgens kündigte Mutter Leial an: „Heute werden wir erfahren, wie wir unser Wesen der Fürsorge sanft lenken können.“

Jeder Knabling bekam, sobald er sicher laufen konnte, in immer größerem Umfang die Verantwortung für ein Wesen der Fürsorge übertragen, um sich beizeiten darin zu üben, etwas Lebendiges und in der Natur Gewachsenes zu hegen und zu pflegen. Brachvogel erinnerte sich noch eindrücklich daran, wie er als kleines Milchkind erstmals die konzentrierte Wärme des winzigen Körpers gespürt hatte, der sich mit der Atmung dehnte und wieder zusammenzog und dessen schneller Herzschlag in seinen Händen klopfte, wie er sein Gesicht in weiches Fell versenkte, das an der Nase kitzelte und wie er in große, runde, dunkelfeuchte Augen sah, die sein eigenes Gesicht widerspiegelten. Es waren dies die Augen eines Kaninchens, seines Tieres der Fürsorge, das ihn während seiner ganzen Zeit in der Stätte der Aufzucht begleiten sollte.

Agror und alle anderen Knablinge seiner Gruppe waren mit solch einem kleinen, langlöffeligen Zögling aufgewachsen, den sie im Laufe der Zeit immer eigenständiger betreuten und versorgten, damit sie so sinnenfällig Einsicht darin nahmen, wie stark sie mit allem in der Natur verbunden und verwoben waren und lernen konnten, ganz behutsam Einfluss auszuüben. Die Knablinge waren schon darin geübt, ihre Tiere regelmäßig mit Wasser, Heu und Gemüse zu versorgen, ihre Ställe reinlich zu halten, ihnen im Gehege Auslauf zu gewähren, ihr Fell zu pflegen und ihnen streichelnd Körperkontakt angedeihen zu lassen ‒ was nicht nur die Kaninchen vor Wohlbehagen leise mit den Zähnen mahlen ließ, sondern auch den Händen der Streichler schmeichelte.

„Ihr habt gelernt, eure Fürsorgezöglinge zu pflegen und mit allem Nötigen zu versorgen und ihr habt es vor allem geschafft, es behutsam dahin gedeihen zu lassen, dass sie eurer Weisung vertrauen“, leitete Mutter Leial die Übung ein. „Euren achtsamen Umgang mit diesen empfindlichen Wesen wird euch die Natur mannigfach vergelten. Doch heute lasst uns erproben, wie ihr eure Kaninchen lenken könnt, wenn sie nicht vom Gehege umfriedet, sondern außerhalb sind.“

Die Knablinge liefen zu den Ställen, nahmen ihre Tiere auf den Arm und kehrten zu Leial zurück, die sie auf eine große, kürzlich von Schafen abgeweidete Wiese hinter den Hütten führte.

„Ihr werdet euer Kaninchen gleich ins Gras setzen und sehen, was passiert. Um es zu führen, kann sich jeder von euch dort ein Netz, einen Stecken und eine Möhre nehmen.“ Leial deutete auf die Stelle, an der diese Lenkungsmittel bereitlagen. „Ihr seid verantwortlich für euer Fürsorgewesen. Setzt diese Dinge also mit Bedacht und Besonnenheit ein. Bedrängt euer Tier nicht, engt es nicht ein, zwingt ihm nicht euren Willen auf, sondern führt es behutsam. Wartet ab, lasst es gewähren, beobachtet es, seid nicht vorschnell in eurer Meinung, in welche Richtung es hoppeln wird, drängt es nicht auf euren Pfad, sondern wartet ab, welche Richtung es nehmen wird. Schreitet aber ein, wenn es euch zu enteilen droht.“

Zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr der Milchkinder hielten die Mütter diese und andere Übungen ab, um zu prüfen, welches Temperament und Gemüt die Knablinge ausgeprägt hatten. Dies war dann unter anderem Grundlage der Entscheidung, wer von ihnen entkeimt und wer zum Zeugungsträger bestimmt werden sollte. Neben der Erziehung in der Stätte der Aufzucht, während derer die Knablinge mit der Milch der Demut und Besonnenheit durchtränkt wurden, war die Entkeimung ein weiteres Mittel, den wilden Kern der Unbedachtsamkeit im Mannling zu brechen und seine Neigung zu unterbinden, seinen Willen gegen alles, was natürlich war, mit Gewalt durchzusetzen. Seit den Zeiten der Großen Verderbnis wussten die Frauen, dass der ungezähmte und ungehemmt sich entfaltende Geist des Mannlings eine Bedrohung für die Klave und die gesamte Schöpfung war. Gestaltungsdrang und Widerstandsgeist von im Knablingsalter entkeimten Mannlingen waren in der Regel sehr zurückgenommen, was auch in ihrer Körperlichkeit zum Ausdruck kam, die sich behäbiger und träger ausnahm, als die ihrer nicht entkeimten Artgenossen. Entkeimte Mannlinge blieben im Grunde große Milchkinder und fügten sich leicht in das Los, schwere körperliche Arbeiten zu verrichten, keine Freiheiten zu besitzen und in allem den Weisungen der Frauen zu folgen. Ein gewisser Anteil der Knablinge aber musste die Keimdrüsen behalten, damit der Fortbestand der Klave gesichert werden konnte. Diese Exemplare galt es sorgfältig auszuwählen, denn die Möglichkeit, dass ein nicht entkeimter Knabling dereinst zum Zeugungsträger gereift der Klave zur Gefahr wurde, musste unter allen Umständen ausgeschlossen werden.

Leial hatte diese und ähnliche Übungen schon oft durchgeführt, war aber immer wieder überrascht, wie manche Knablinge sich verhielten. Die Tiere zu betreuen, während sie sich auf der großen Wiese frei bewegten, war völlig neu für sie und viele Knablinge waren in Panik geraten, wenn ein Kaninchen Anstalten machte, das Weite zu suchen oder scheinbar von einer der harmlosen, auf der Wiese heimischen Ringelnattern bedroht wurde. Unter den eingefahrenen Regeln des gewohnten Tagesablaufs genügten die meisten Knablinge den Anforderungen der Besonnenheit, aber wenn sie wie jetzt während dieser Prüfung unter einer besonderen Anspannung standen, schlug bisweilen ihre mannlingsche Wesensart durch.

Leial würde jeden der Knablinge, der auch nur ansatzweise unbeherrscht zu seinem Stecken griff, um sein Tier auf die richtige Bahn zu zwingen, als Anwärter für die Entkeimung melden. Am liebsten hätte sie sämtliche Knablinge entkeimt, um diesem Mannlingsgezücht sein zerstörerisches Wesen gründlich auszutreiben, aber solange noch kein Weg ge­funden worden war, dass Frauen ohne das Zutun dieses Makels der Schöpfung ein Kind in sich wachsen lassen konnten, war das wohl nur eine schöne Wunschvorstellung. Leial wollte schier verzweifeln, wenn sie über die selt­same Gestaltung der Welt nachgrübelte, in der die Natur mit dem Mannling ein Wesen hervorgebracht hatte, in dem der Keim ihrer eigenen Vernichtung angelegt war.

Anders als etliche Knablinge, die die Pflege ihres Kaninchens als Last empfanden und es unwirsch behandelten, wenn es sich nicht so verhielt, wie sie wollten, war Agror seinem langlöffeligen Fürsorgewesen mit großer Liebe und Zärtlichkeit zugetan. Sie waren zusammen aufgewachsen und widerfuhren ihm Leid und Unbill, tröstete es ihn, sein Gesicht in den nach Heu und warmer Kreatur duftenden Pelz zu drücken. Der sehr zögerlich und vorsichtig geartete Knabling hätte seine Schnobernase am liebsten gar nicht in das Gras dieser großen, weiten Wiese gesetzt, sondern sie weiter schützend im Arm gehalten. Doch musste er natürlich der Anweisung von Mutter Leial Folge leisten.

Zunächst blieb das Tier zufrieden hocken, knabberte an einigen Grashalmen und hoppelte dann langsam davon. Agror folgte ihm zunächst, hielt dann inne und lief zurück, um Möhre, Netz und Stecken an sich zu raffen und dann eilends zu seinem Kaninchen zurückzukehren, das sich inzwischen schon ein beträchtliches Stück Wegs von ihm entfernt hatte. Als es gewahr wurde, dass nicht wie gewöhnlich eine Barriere seinen Auslauf hemmte, sprang es übermütig mal hierhin und dorthin und kauerte sich schließlich neben einem hohen Grasbüschel hin, um mit pumpenden Flanken, straff angelegten Löffeln und bebendem Näschen aufgeregt zu wittern und die ungewohnte Umgebung in sich aufzunehmen. Agror hockte sich nieder und bot ihm die Möhre dar, um es zu beruhigen. Das Kaninchen raspelte ein paar Bissen ab und ganz allmählich richteten sich seine Löffel wieder auf, was Agror zeigte, dass sein Tier nach dieser ersten Sinnesaufwallung allmählich zur Ruhe kam. Erleichtert stand er wieder auf und blickte in die Runde, um zu sehen, wie es seinen Gefährten mit ihren Tieren erging.

Netz, Stecken und Möhre waren unterschiedlich zum Einsatz gekommen. Einige Knablinge, deren Kaninchen ihre ungewohnte Freiheit dazu genutzt hatten, sehr schnell sehr weit zu hoppeln, hatten das Netz über sie geworfen, um sie nicht zu verlieren. Andere trieben die Tierchen mit dem Stecken wieder zurück und etliche lockten sie mit der Karotte auf den richtigen Weg. Brachvogel hatte das rote Gemüse gar an den Stecken gebunden und war so in der Lage, sein Kanin­chen zu führen, ohne sich bücken zu müssen und konnte so gleichzeitig auch den Überblick über das Gelände behalten.

Da nahm Agror aus dem Augenwinkel heraus auf dem Gras eine seltsame Bewegung wahr. Ein langes, dünnes Etwas schlängelte sich auf seine Schnobernase zu. Er hatte noch nie ein solches auf dem Bauche sich windendes Wesen gesehen, doch zweifellos stellte diese Kreatur eine Gefahr für seine Schnobernase dar. Nur noch das Grasbüschel stand zwischen seinem Fürsorgetier und dem bedrohlichen Windling. Was sollte er machen? Das Wesen anzufassen getraute er sich nicht. Zwischen den Maschen des Netzes würde es mühelos hindurchgleiten. Blieb noch der Stecken. Agror nahm seinen ganzen Mut zusammen, spreizte die Beine, um sicheren Stand zu haben, nahm den Stock mit ausgestreckten Armen in beide Hände, führte dessen Ende vorsichtig unter die Mitte der Kreatur und hebelte sie mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft von sich weg. Etliche Spannen entfernt fiel das Wesen zu Boden und wand sich in die entgegengesetzte Richtung fort. Erleichtert atmete Agror auf.

Für Leial, die die Knablinge aus der Ferne beobachtete, sah Agrors Bewegung mit dem Stecken so aus, als hätte er sein Kaninchen kräftig mit dem Stock traktiert. Von diesem sanften und unauffälligen Knabling hätte sie dieses typisch mannlingsche Verhalten am allerwenigsten erwartet. Aber darin, dass hier die wahre Natur der Knablinge offenbar wurde, erwies sich wieder einmal die Nützlichkeit dieser und anderer Übungen. Brachvogel dagegen legte wie erwartet einen überbordenden und deshalb gefährlichen Einfallsreichtum an den Tag. Er war ihr von vorneherein ein Anwärter für die Entkeimung gewesen.

Leial blies in die Pfeife, die sie um den Hals hängen hatte, und bedeutete den Knablingen damit, dass die Übung nun beendet sei und sie ihre Kaninchen wieder aufnehmen konnten. Als die Knablinge, ihre Tiere auf dem Arm, dann vor ihr standen, fasste sie die Geschehnisse zusammen:

„Jeder von euch hat sein Fürsorgewesen nach seinem besten Vermögen und der ihn prägenden Gemütsart und Eigenheit behandelt. Darüber, ob ihr dabei die der Natur förderliche Besonnenheit habt walten lassen, mag diese selbst richten. Bringt nun eure Tiere in die Ställe zurück und widmet euch euren üblichen Obliegenheiten.“

Leial sah bewusst davon ab, den Knablingen, die Gewalt gegen ihre Fürsorgetiere geübt hatten, die Mondin zu lesen. Es würde ohnehin nichts ändern, denn der mannlingsche Geist war unbelehrbar. Die Knablinge würden die Folgen ihres mannlingschen Verhaltens noch früh genug zu spüren bekommen. Von den sieben Zöglingen ihrer Gruppe wollte sie fünf für die Entkeimung vorschlagen, allen voran Brachvogel, dessen völlig unberechenbares und viel zu selbstgefälliges Verhalten ihr schon lange ein Dorn im Auge war.

Am Abend saßen die Mütter im Versammlungshaus der Stätte zusammen und berieten darüber, wer von den Knablingen entkeimt und wer Zeugungsträger werden sollte. Sie hatten die Knablinge jetzt zweiundsiebzig Umläufe lang betreut und ihre Entwicklung vom völlig hilflosen Saugling bis zum eigenständig han­delnden Knabling begleitet. Die alltäglichen Abläufe und mannigfachen Übungen wie die heutige Betreuung der Fürsorgewesen auf nicht eingefriedeter Fläche hatten offenbar werden lassen, welches Herz in der Brust eines jeden Knablings schlug und welch Geistesart und Gesinnung er war. Es war absehbar geworden, welche Entwicklung er als ausgewachsener Mannling nehmen würde. Das seit unzähligen Generationen von Müttern überlieferte Mittel, Gemütern mit ausgeprägt mannlingscher Wesensart vorbeugend Einhalt zu gebieten, war die Entkeimung. Um hier wieder einmal eine weise Entscheidung zu treffen und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass keiner der Knablinge aus der Stätte der Aufzucht entlassen jemals die Kreisläufe der Natur durchbrechen würde, nahmen die Mütter sich gegenseitig bei der Hand und bildeten einen Kreis.

Ayiah war links neben Leial zu sitzen gekommen, deren kalte, leicht feuchte Hand sie widerwillig in der ihren hielt. Ayiah mochte Leial nicht und war sich sicher, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Die beiden jungen Frauen hatten vor drei Umläufen Luna ihr erstes Kind geschenkt und wie üblich waren ihnen diese direkt nach der Geburt abgenommen worden, ohne dass ihnen ihr Geschlecht offenbart worden war. So wie sich ein Kind im Leib der Mutter von deren Blut und Odem nährte, konnte auch eine einzelne Mutter nur überleben, wenn sie im Körper der großen Mutter ruhte, den die von Luna begnadete Gemeinschaft aller Frauen und Mütter bildete. In dem Moment, in dem die Nabelschnur durchtrennt wurde, ging die Frucht daher vom Leib der Mutter in den Körper der großen Mutter über und gehörte fortan der Gemeinschaft aller Mütter.

Während Ayiah sich noch immer mit jeder Handbreit ihrer Haut nach ihrer Leibesfrucht verzehrte und ihr Herz bei dem Gedanken schneller schlug, dass diese sich irgendwo hier in der Stätte der Aufzucht befinden konnte, schien Leial in keiner Weise unter der Trennung von ihrem Kind zu leiden. Sie war sich sicher, einer Kleinen Frau das Leben geschenkt zu haben, die wie alle weiblichen Nachkommen inzwischen zum Hort der Weisung gebracht worden war, wo sie – wie einstmals auch sie selbst – auf ihre Lenkungsaufgaben den Mannlingen gegenüber und die besondere Verantwortung der Frauen der Schöpfung gegenüber vorbereitet werden würde. Sie begegnete den ihr anvertrauten Knablingen mit größter Sachlichkeit und Strenge und kam sie daran, einem Saugling die Brust zu geben, erledigte sie das gewissenhaft und ohne jegliche Gefühlsregung. Ayiah dagegen betreute alle Sauglinge mit großer Fürsorge und Liebe, schließlich konnte jeder von ihnen ihre eigene Frucht sein und auch die Knablinge ihrer Gruppe behandelte sie mit nachsichtiger Einfühlsamkeit. Vielleicht war ja ihre Leibesfrucht, wenn es denn ein Knabling war, in etlichen Umläufen ebenfalls auf die Güte einer Mutter angewiesen.

Jede Entkeimung musste von der Mutter, die die Gruppe des entsprechenden Knablings führte, genau begründet werden und auch die anderen Mütter wurden dazu gehört. Die endgültige Entscheidung aber lag bei der Ältesten Mutter. In Leials Gruppe war der Anteil der für die Entkeimung vorgeschlagenen Zöglinge am höchsten. Brachvogel zu entkeimen war ihr ein persönliches Anliegen.

„Das ganze Sein dieses Knablings ist pure Hoffärtigkeit. Stets geht er seinen eigenen Weg und – Luna sei es geklagt – oft durchaus auch mit Erfolg. Er will sich nicht einfügen und sein Verhalten ist in keiner Weise einzuschätzen. Als ausgewachsener Mannling wird er nur schwer zu kontrollieren sein.“

„Wir alle kennen das unangepasste Verhalten dieses Knablings und unter dem Gesichtspunkt, dass wir ein beträchtliches Wagnis eingehen, wenn wir Zöglinge wie ihn zu Zeugungsträgern heranwachsen lassen, ist deine Rede schlagend, Leial“, erklärte die Älteste Mutter und sah dann fragend in die Runde der Mütter. „Hat zu dem Knabling Brachvogel noch jemand etwas zu sagen?“

Auch wenn ihre Stimme als Erstgebärende im Rat der Mütter noch kein großes Gewicht hatte, wollte Ayiah sich doch Gehör verschaffen. Sie war sich sicher, dass es nicht sinnvoll sein konnte, wenn jeder Knabling, der sich nicht reibungslos in die Kreisläufe des Horts einfügte, notwendig der Entkeimung anheimfiel. Galt es doch, die Klave in ihrer Nachkommenschaft mannigfaltig, vielgestalt und damit überlebensfähig zu halten. Schließlich weckten Zeugungsträger nicht nur das im Schoß der Mütter angelegte Leben von Knablingen, sondern auch das Leben kleiner Frauen und damit zukünftiger Mütter und Lenkerinnen. Würden nur die unauffälligen und angepassten Knablinge zu Zeugungsträgern ausersehen, wäre zwar der mannlingsche Widerstandsgeist gebrochen, aber die Vielfalt der Quelle der vererbten Anlagen, aus der die Klave ihren Nachwuchs schöpfte, würde über die Generationen hin langsam austrocknen und die Gemeinschaft allmählich der Fähigkeit verlustig gehen, aus der Fülle der Bahnen der natürlichen Kreisläufe Neues zu schöpfen, um so angesichts unvorhersehbarer Widerfahrnisse ihr Überleben zu sichern. Hierin lag ein Zwiespalt, dessen sich Ayiah nur zu bewusst war.

Würden die Menschen in allem den Kreisläufen der Natur folgen und sich ihnen gänzlich einpassen, könnten sie nur schwerlich überleben. Würden sie andererseits aber der Natur ungehemmt ihren Willen aufzwingen, wäre diese und damit auch der in sie eingebundene Mensch gefährdet. Es galt also ein empfindliches Gleichgewicht zu wahren.

Ayiah entzog Leial ihre linke Hand und stemmte sie in die Hüfte zum Zeichen, dass sie sich äußern wollte.

„Sprich, Ayiah“, sagte die Älteste Mutter

„Hat Brachvogel denn jemals Gewalt gegen andere, die Natur oder sein Fürsorgewesen ausgeübt?“, richtete sich Ayiah direkt an Leial.

Diese schüttelte den Kopf, denn das konnte sie nicht mit Fug behaupten und auch den übrigen Müttern war kein einziger derartiger Fall bekannt.

„Sein alleiniger Fehl ist also, dass er seinen eigenen Kopf hat und deshalb schwer einzugliedern ist“, fuhr Ayiah fort. „Ich glaube, wir werden in Zukunft solche Köpfe brauchen, um Missernten, den Launen der Witterung, den Wanderungen des Wildes, dem Beben der Erde und anderem Unbill wirkungsvoll begegnen zu können. Bedenkt, dass Zeugungsträger nicht nur Mannlinge, sondern auch Frauen im Schoße der Mütter wecken und wenn wir nur die im Körper trägen und im Geiste fügsamen Knablinge zu Zeugungsträgern reifen lassen, wird der Quell unserer Fortpflanzung von einem mächtigen, vielfältigen Strom zu einem kläglichen, einfältigen Rinnsal verkommen. Wir täten deshalb gut daran, Brachvogels Schambeutel nicht leer zu schlagen, sondern ihn zu einem Zeu­gungs­träger heranreifen zu lassen. Wohl aber sollten wir ein besonderes Augenmerk auf ihn haben, denn unstrittig liegt in ihm nicht nur eine Gunst des Schicksals, sondern auch eine Gefahr. Denn eine Güte des Geschicks scheint mir immer damit verbunden zu sein, dass aus ihr auch eine Gefahr erwachsen kann.“

„Mannlinge sind unbelehrbar und ihr ungebrochener Geist wird, wie uns die Geschichte wohl gelehrt hat, zu einer Gefahr für die Schöpfung“, ereiferte sich Leial. „Es ist eine gar arge Wirrnis, dass wir, um Nachkommen zu haben, auf Wesen wie die Mannlinge angewiesen sind. Würde Lunas reiner Geist walten, wäre es uns Frauen gegeben, untereinander Kinder zu zeugen.“

Die Älteste Mutter stützte ihr Kinn in die Hand und sann lange nach. „Für deine jungen Jahre spricht aus deinen Worten eine ungewöhnliche Weitsicht, Ayiah“, beschied sie dann. „Damit die Klave den Widernissen des Schicksals besser trotzen kann, scheint es mir tatsächlich ratsam, ein Wagnis einzugehen. So sei es denn, möge Brachvogel zu einem Zeugungsträger heranreifen.“

In den Mienen der Mütter spiegelte sich zu etwa gleichen Teilen Zustimmung und Ablehnung wider. Leial aber kniff die Lippen zusammen und sah Ayiah, die sie nach ihrer Rede wieder bei der Hand genommen hatte, um den Kreis zu schließen, hass­erfüllt an. Ayiah war klar, dass sie nun eine Verantwortung für diesen Knabling Brachvogel trug und es ihr auferlegt war, seinen weiteren Weg zu verfolgen.

Am nächsten Morgen fehlten in den Gruppen der älteren Zöglinge die meisten Gefährten und nur wenige Mütter waren zugegen. Auch Brachvogel vermisste seinen Freund Agror. Aus der Ferne ließ sich leise das dunkle Tönen vernehmen, das, auch wenn es einmal abebbte, den ganzen Tag immer wieder anhob.

Auch die nächste Zeit blieben die Knablinge verschwunden und als sie dann wieder auf den Plan traten, staksten sie mit ungelenken Schritten und steifen Beinen umher wie die Störche und hatten Schmerzen beim Sitzen.

„Was ist euch widerfahren?“ fragte Brachvogel seinen Freund.

„Da war ein großes, dunkles Gedröhn der Drehleiern, ich habe ein abscheuliches Gebräu zu trinken bekommen und dann haben die Mütter irgendetwas mit meinem Schambeutel angestellt. Ich habe große Pein durchlitten“, erwiderte dieser.

Mit dem wiederkehrenden Wechsel der Gestalt des sanften Gestirns und unter dem Ansturm immer weiterer Aufgaben und Prüfungen, denen die Mütter die Knablinge zunehmend aussetzten, geriet dieses Ereignis bald in Vergessenheit. Die Knablinge, die dem großen Gedröhn unmittelbar ausgeliefert waren und die, die es nur aus der Ferne gehört hatten, lebten zusammen wie ehedem und erfuhren durch die Mütter auch die gleiche Behandlung. Erst viel später würde sich herausstellen, dass die beiden Gruppen von Knablingen eine unterschiedliche körperliche Entwicklung nehmen sollten.

Brachvogel und Agrors Zeit in der Stätte der Aufzucht neigte sich allmählich ihrem Ende entgegen. Längst schon riefen sie die Mondin während der Abendbesinnung nicht mehr an wie die kleinen Milchkinder, sondern in der Art der großen Knablinge, die bald in das Leben in der Klave entlassen werden würden. Dazu nahmen sie die Haltung der Demut und Besonnenheit ein, knieten sich hin, drückten ihr Gesäß auf die Fußsohlen, senkten die Brust auf die Oberschenkel, führten die Arme seitlich nach hinten, legten die Handrücken neben die Füße und neigten die Stirn zur Erde. Dergestalt gekauert und auf die Erde hingegossen intonierten sie:

„Oh Große Luna!

Vertrauensvoll an die Erde geschmiegt,

verharren wir hier in tiefer Demut,

uns zu besinnen und in Einklang zu kommen

mit allem, was da lebt und west.

Und wenn wir uns dann erheben,

befleißigen wir uns nicht des aufrechten Ganges,

erhobenen Blickes und raumgreifenden Schrittes

die Erde zu zerstören, in grenzenloser Gier,

sondern, den Kopf besonnen gesenkt,

maßvoll vorwärts uns zu tasten,

uns nur zu nehmen, was wir notwendig brauchen,

das Leben zu hegen und die Dinge zu bewahren,

ganz so, als ob wir nicht auf Erden wandelten.

Damit wir uns nicht selbst zernichten,

wie zu Zeiten der Großen Verderbnis,

sondern in Einklang mit der Schöpfung leben,

immerdar.“

Dismatched: View und Brachvogel

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