Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 11

System / ClockedCounter / Update_567 / Takt_17.856.730

Оглавление

Dein Schlaf gehört dir!

Agitation der Oneironauten

Die leichten Bewegungen des in völliger Dunkelheit auf dem Wasser treibenden Körpers lösten leise Wellen aus, die sich an den würfelförmigen Ausstülpungen der Wände des schalltoten Raumes brachen. Die Citizen war völlig nackt. Lediglich ihre Kopfhaut war mit einem supraleitfähigen Gel überzogen, in das ein engmaschiges Netz von Elektroden eingebettet war, die Art und Intensität der Aktivitäten ihrer unterschiedlichen Hirnhemisphären ausforschten. Das 34,8 Grad warme Wasser entsprach exakt der Außentemperatur ihrer Haut und seine durch den Zusatz von Magnesiumsulfat erhöhte Dichte hielt sie völlig schwerelos in der Schwebe. Dergestalt von allen äußeren Sinnesreizen abgeschirmt hatte sich die Citizen ganz in ihre Innenwelten zurückgezogen.

Diese waren Gegenstand des Interesses einer Gruppe von Citizens, die auf ein Set von Monitoren blickten, die Aufschluss über das Geschehen im Inneren des SensoryDeprivationTanks gaben, der alle äußeren Sinnesreize ausschloss. Infrarotkameras übertrugen Lage und Bewegungen des Körpers und vor allem in Großaufnahme das Gesicht der Citizen, die auf der Salzwasserlösung schwebte: Ihre Züge waren völlig entspannt, lediglich die Augen unter den geschlossenen Lidern befanden sich in ständiger Bewegung. Die Kurven und Linien des Enzephalogramms, das die Elektroden auf ihrer Kopfhaut übermittelten, gaben die Aktivität ihrer Hirnhemisphären wieder. Auf einem Bildschirm überlagerten sich die Amplituden von Theta-, Alpha- und Betawellen in einem charakteristischen Muster. Ein untrüglicher Indikator dafür, dass die Synapsen ihres limbischen Systems mit höchster Intensität feuerten.

Die Citizen träumte tief. Dass sie sich, obwohl von allen Sinnesreizen abgeschottet, innerlich im Zustand höchsten Erlebens befand, zeigten auch ihr angestiegener Blutdruck, die unregelmäßige Atmung und der bis auf die Muskelringe um die Augen herabgesetzte Muskeltonus; ein Mechanismus, der den unwillkürlichen Impuls, geträumte Bewegungen körperlich umzusetzen, ins Leere laufen ließ und sie so vor Verletzungen schützte.

„Esther tritt jetzt in die fünfte REM-Phase ihres Schlafs ein“, bestätigte eine hochgewachsene Frau, die dem neben ihr stehenden Traumnovizen als Seherin Kassandra vorgestellt worden war. „Siehst du, wie ihre Augen unter geschlossenen Lidern Bewegungen und Abläufen folgen, die sie im Traum wahrnimmt? Sie durchlebt in der Regel 4 bis 6 solch intensiver Traumphasen, von denen jede jeweils etwas länger dauert, die fünfte im Mittel etwa 40 MinorTakte. Aber da wir weder exakt wissen, wie lange sie diesmal in REM5 bleibt, noch sicher davon ausgehen können, dass sie tatsächlich eine noch längere sechste Tieftraumphase erlebt, werden wir sie in 35 MinorTakten wecken. Unmittelbar aus dem REM-Schlaf erwachend, können wir uns nämlich am intensivsten an unsere Träume erinnern.“

„Warum träumt Esther im Tank und nicht in ihrem Bett?“

„In der REM-Phase schlafen wir nicht so fest wie im traumlosen Tiefschlaf, sind also prinzipiell störungsanfällig. Wir glauben, durch den Ausschluss aller äußeren Sinneseindrücke die Intensität des Traumerlebnisses steigern und beim Aufwachen im Tank eine besonders unverfälschte Traumerinnerung provozieren zu können. Deswegen nennen wir die Salzlake, auf der Esther treibt, auch ,Mne­mosyne‛. Mnemosyne hieß bei den alten Griechen, eines der vielen mythischen Völker vor dem Finalen Kataklysmus, ein Fluss, dessen Wasser die Erinnerung zurückbringen sollte.“

Auf die Wellenmuster auf dem Bildschirm deutend fuhr Kassandra fort: „Um dir zu vergegenwärtigen, was die einzelnen Kurven bedeuten, stelle dir das Bewusstsein und das Unbewusste einmal als die entgegengesetzten Punkte eines Kontinuums vor, das von Wellen unterschiedlicher Länge durchzogen wird. Je niedriger nun die Frequenz einer Hirnwelle, je länger sie also ist, umso eher weist sie auf eine Aktivität hin, die in den Zentren des Hirns angesiedelt ist, die unterbewusste oder unbewusste Inhalte verarbeiten. Je höher die Frequenz einer Hirnwelle, also je kürzer sie ist, umso mehr zeigt sie eine Aktivität des Wachbewusstseins oder einen Zustand höchster Konzentration oder Intensität an.

Hier nun haben wir viele lange Wellen mit relativ niedriger Frequenz ‒ Thetawellen. Die Kurven mit etwas höherer Frequenz sind Alphawellen und die ganz kurzen hochfrequenten, Betawellen.

Die Thetawellen signalisieren die Aktivität des persönlichen Unterbewusstseins und stehen auch für die Verarbeitung von Inhalten des überpersönlichen Unbewussten. Sie sind charakteristisch für die Phase tiefen Träumens, das sich vor allem in den Regionen des limbischen Systems und hier besonders in einer Amygdala genannten Hemisphäre abspielt. Neben dem Stammhirn ist das limbische System die tiefste und älteste Hirnschicht und von der Amygdala wird gesagt, dass hier der Ursprung der Emotionen liegt. Du kannst dir denken, dass das limbische System und die Amygdala beim Träumen besonders aktiv sind.

Dann sind da noch die Alphawellen. Sie können bei geschlossenen Augen im Zustand geistiger Entspanntheit gemessen werden. Sobald die Augen geöffnet sind, treten Betawellen an ihre Stelle, die charakteristisch für den Wachzustand sind. Dass wir hier bei der schlafenden Esther auch die hochfrequenten, kurzen Betawellen finden, ist ein Hinweis darauf, dass während des Träumens Eindrücke des Wachbewusstseins verarbeitet werden. Alphawellen sind ein ziemlich verlässlicher Indikator dafür, dass zwischen verschiedenen Hemisphären unseres Hirns ein besonders intensiver Austausch stattfindet. Die ihnen zugrundeliegende Aktivität sorgt etwa während des Träumens dafür, dass Trauminhalte vom limbischen System in die Großhirnrinde, den Neocortex wandern, wo sie abgespeichert und im Zustand des Wachbewusstseins erinnert werden können.

In der Phase des Tiefschlafs findet kein Austausch zwischen den Hirnregionen statt, der Tiefschlaf ist eine in sich geschlossene Sphäre. Wir vermuten, dass wir hier dem überpersönlichen Unbewussten am nächsten sind. Sollten wir im Tiefschlaf träumen, könnten wir uns nicht daran erinnern. Erinnerungsfähig sind Inhalte des Vor- und Unbewussten lediglich dann, wenn sie ins individuelle Un­terbewusste gespült werden, was dann in der REM-Phase die charakteristischen Thetawellen verursacht.

Gehen wir in der Aufzeichnung einmal in die Tiefschlafphase vor der jetzt aktuellen REM-Phase zurück. Siehst du? Keine zwischen den Hemisphären vermittelnden Alphawellen, also keine Erinnerung und statt der für das Träumen charakteristischen Thetawellen Wellen mit einem noch bedeutend längeren Ausschlag. Das sind Deltawellen, die in der Phase des vermutlich traumlosen Tiefschlafs produziert werden. Die weitläufigen Schwingungen der Deltawellen in den niedrigsten noch messbaren Frequenzen zeigen Aktivitäten in den Hemisphären unseres Hirns an, die Inhalte des überpersönlichen Unbewussten verarbeiten. Hier kommen gewissermaßen die Umfeld- und erlebnisbedingten kurzwelligen Ausschläge der Verarbeitung individueller Eindrücke des Einzelnen zum Stillstand und die Welle holt weit aus, um sich in die Unendlichkeit der stammesgeschichtlichen Phylogenese und das kollektive Unbewusste der Menschheit hinein zu verlängern.

Hier wollen wir hin, hier liegt der Ursprung der Traumsymbole, die wir erfassen wollen, um zu begreifen, was den Menschen ausmacht und welche Geschichte er hat. Wir glauben, dass die Analyse und bewusste Aneignung der Inhalte unserer Träume die Ödnis der Angebote der Wirtschaftssozialität des Systems durchbrechen und uns auf das für die Menschen Wesentliche zurückführen können.“

„Und um das zu verhindern, unterdrückt das System unsere Träume?“

„Genau das ist der Grund für die Integration des Morpheustrons in die MatchingEyes. Tagsüber überwacht es uns und nachts stiehlt es uns unsere Träume. Das Morpheustron bewahrt nicht unseren Schlaf, sondern unterdrückt unsere Träume. Genau genommen unterdrückt es nicht das Träumen, sondern verhindert, dass wir uns an unsere Träume erinnern. Was im Ergebnis aber auf das Gleiche herauskommt: Das System verhin­dert, dass wir bewusst zu unseren Ursprüngen zurückgelangen können.“

„Also träumen wir durchaus. Aber unsere Träume dringen nicht zu uns durch und ihre Botschaft bleibt uns so verschlossen?“

„Richtig. Du musst wissen, dass es für einen funktionsfähigen menschlichen Geist und Organismus unerlässlich ist zu träumen. Im Traum verarbeiten wir unsere Erlebnisse, deuten unsere Erfahrungen, wir lernen und festigen unser Wissen und unsere Fähigkeiten, wir bewältigen Unbewältigtes. Der Traum verhilft uns auf eine konstruktive und für uns förderliche Art und Weise zu dem zu werden, der wir sind und vor allem, zu dem zu werden, der wir sein wollen und wohl auch sein sollen. In den Zeiten vor dem Kataklysmus wusste man um diese Bedeutung des Schlafs und also des Traums. Da gab es beispielsweise Redewendungen wie: ,Das lerne ich doch im Schlaf.‛ Oder: ,Darüber muss ich noch einmal schlafen.‛ Dauernder Schlafentzug ist also letztendlich nicht nur deshalb tödlich, weil der Organismus nun einmal Ruhephasen braucht, um sich zu regenerieren, sondern auch, weil er verhindert, dass wir träumen können. Ein Mensch der nicht träumt, kann seine Erlebnisse nicht verarbeiten und bekommt irgendwann massive Probleme mit sich. Und da ihm der Zugang zu den überindividuellen Inhalten der Menschheitsentwicklung versperrt ist, irgendwann auch Probleme mit den anderen. Würde das System das Träumen unterdrücken, liefe es also Gefahr, jede Menge Psychopathen zu produzieren, die nicht in seinem Sinne funktionieren würden, da ihre Reaktionen höchst individuell und damit nicht mehr berechenbar wären. Das Verhalten eines Citizens, der nicht träumt, wäre nicht zu mitteln. Das Träumen als solches zu verhindern, wäre also für das System kontraproduktiv. Trotzdem aber schneidet es uns den Zugang zu unseren inneren Welten ab, indem es verhindert, dass wir uns an unsere Träume erinnern.

Wir können experimentell eindeutig nachweisen, dass das Morpheustron während des Traumschlafs gezielt diejenigen Regionen des Gehirns stört, die Alphawellen aussenden. Würden wir an Esthers MatchingEye jetzt das Morpheustron aktivieren, blieben exakt diese Wellen aus, ein Zeichen dafür, dass die vermittelnde Aktivität zwischen ihrem limbischen System, das ihre Träume evoziert und ihrem Neocortex, in dessen Sphäre die Träume bewusst verarbeitet werden, zum Erliegen gekommen ist. Esther würde sich nicht mehr an ihren Traum erinnern. So ergeht es allen Citizens, deren Morpheustron automatisch aktiviert wird, sobald sie einschlafen. Offensichtlich lässt das Morpheustron noch genügend Traumaktivität zu, dass wir unterbewusst unsere Erlebnisse verarbeiten und unsere Erfahrungen und unser Wissen festigen können, aber es nimmt uns jede Chance, uns an unsere Träume zu erinnern.

Du selbst bist der Gnade teilhaftig geworden, erfahren zu dürfen, wie überaus belebend und bereichernd es ist, den Abglanz eines Traumes festzuhalten und in den Tag hinüberzuretten, um den Eindrücken und Gefühlen nachzuspüren, die dir deine Traumgesichte im Schlaf vermittelt haben. Nur so erfährst du, wer du wirklich bist und was für einen Sinn es hat, ein Mensch zu sein. Wir dürfen uns nicht länger mit den vermeintlich freien Wahlen und den ach so gaußen Angeboten des Systems abspeisen lassen, sondern müssen dafür sorgen, dass auch möglichst viele andere diese Traumerfahrung machen können. Es gibt weitaus Tragenderes und Tieferes als die oberflächlichen, faden, öden und kurzzeitigen Befriedigungen des Systems. Genau deshalb fordern wir: Unser Schlaf und alles, was daraus erwachsen mag, gehört uns!“

„Und was genau macht ihr nun hier? Ihr legt euch reihum in den Tank, zeichnet die Gehirnaktivitäten während des Träumens auf und berichtet euch dann, was ihr geträumt habt?“

„Im Grunde genommen tun wir genau das, weil das ergänzend zum Studium des alten Kulturguts, zu dem wir Zugang haben, die einzige Art von strukturierter wissenschaftlicher Empirie ist, die wir mit unseren beschränkten Mitteln durchführen können und die uns sozusagen am eigenen Leib Aufschluss über die Träume geben kann. Unser Zugang zum Mysterium des Traums ist dabei ein sehr grobschlächtiger. Sicher lassen sich spezifische Phänomene bestimmten Hirnarealen zuordnen, doch arbeiten diese nicht isoliert voneinander, sondern sind in äußerst komplexer Weise mit anderen Hirnhemisphären verschaltet. Und wir sind weit davon entfernt, die vielschichtigen Wechselwirkungen dieses neuronalen Netzes zu verstehen. Wir träumen aber davon“, Kassandra lachte, „irgendwann einmal die Traumsymbole und ihre Bedeutungen zur Gänze erfasst zu haben und mit den dafür spezifischen Mustern von Hirnwellen abgleichen zu können. Aber dazu bräuchten wir Hunderttausende von Citizens als Probanden und weitaus mehr Rechenkapazität als das kleine Eckchen, das wir dem System abgerungen haben und ständig gegen seine SearchBots verteidigen müssen.“

Ein leiser Glockenton ertönte. „Es ist Zeit“, sagte jemand.

„Wir werden Esther jetzt aus ihrem Traum holen“, wandte sich Kassandra wieder an den Citizen. „Damit unterbrechen wir zwar vielleicht eine für sie wichtige Botschaft, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Nie sind die Bedingungen so günstig, möglichst viele Eindrücke aus einem Traum unverfälscht ins Wachbewusstsein hinüber gleiten zu lassen, als während des unmittelbaren Erwachens aus einer intensiven REM-Phase. Wir wecken die Probanden sehr behutsam über einen Zeitraum von 10 MinorTakten, damit möglichst wenig Sinneserfahrungen aus dem Wachbewusstsein auf sie einwirken, die die Traumempfindung überla­gern und damit schwächen können. Vor allem darf während und nach dem Aufwachen die Körperhaltung nicht verändert werden. Die Bedingungen im Tank bieten dafür die ideale Aufwachumgebung. Wir werden ihn also keinesfalls öffnen, sondern über Kamera und Micro agieren.“

Der Monitor, der die Ansicht aus dem Inneren des Tanks übertrug, zeigte, dass dort jetzt über dem Kopf der Träumenden ein rötliches Licht aufglomm. Die SoundSpheres übermittelten ein leises, tiefes Summen.

„Weil beim Aufwachen die Hirnwellen mit niedriger Frequenz allmählich von denen mit höherer Frequenz überlagert werden, spiegelt das Lichtspektrum, mit dem wir das Erwachen stimulieren, diese Tendenz wieder: Wir beginnen mit dem langwelligem Rot, gehen dann sukzessive zu Orange, Gelb, Grün und Blau über und enden mit dem kurzwelligem Violett. Das Gleiche gilt für die Klangabfolge: von dunklen zu hohen Tönen. Sobald Esther irgendwie reagiert, fahren wir Licht und Ton sofort wieder auf Null zurück.“

Nach Ablauf der 10 MinorTakte zeigte die Probandin im Tank keine Regung.

„Wenn jemand bei dieser Licht- und Tonstärke noch keine Anzeichen von Erwachen zeigt, erhöhen wir die Intensität nicht weiter. Ein Erwachen bei zu viel Licht und Ton wäre zu abrupt und wir liefen Gefahr, die Traumerinnerung zu vertreiben. Aber hier, siehst du, die Alpha- und Betawellen ihres Enzephalogramms nehmen zu. Es besteht also eine signifikante Tendenz zum Aufwachen. Wir fahren Licht und Ton runter und sprechen sie direkt an.“

„Esther, Esther – hörst du mich?“

„Mhm.“

„Da war etwas. Was war?

„Geträumt. Habe geträumt.“

„Wo warst du?“

„Nicht hier. Nicht in der Urb. Mitten. Innerst. Innerstes.“

„Das Innerste von was?“

„Irgendwie eingesponnen in ein warmes Gefühl. Gleichzeitig weit, uferlos, sich endlos erstreckend und doch warm, vertrauensvoll in sich zurückgebogen, geborgen. Bin süffig, gierig, süchtig danach, will, dass es nicht aufhört.“

„Was hast du gesehen?“

„Da war ein Innen, unregelmäßige Struktur, fremde Materialien, nicht hier: draußen. Flackerndes, unregelmäßiges Licht. Tiefe Schattentäler. Im Zentrum: Wärme, Hitze. Ein offenes Feuer. Qualm in den Augen. Stechender Geruch nach – nach Kräutern? Trotzdem Glück. Geborgen. Dann Gestalten. Bewegung. Rhythmus. Weite, wirbelnde Kleidung. Konturen verwischen. Keine Gesichter. Haare, lange Haare. Dann Stim­men. Bewegung. Rhythmus. Die Gestalten singen. Kann nicht verstehen. Möchte teilhaben. Dann Begreifen: ,Schonet die Schöpfung‛ singen sie. ,Schonet die Schöpfung‛.“

Dismatched: View und Brachvogel

Подняться наверх