Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 17

Sommersaat; erster Umlauf im fünfhundertfünfundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

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Lange hatte Ayiah mit sich gekämpft. Es war nicht ziemlich und ihrer, die sie den Pfad zur Wahl der künftigen Archontin angetreten hatte, nicht würdig. Doch konnte sie die Gedanken an den Mannling nicht aus ihrem Kopf verbannen. Es lag nun schon elf Umlaufzwölfe zurück, dass sie ihm in der Stätte der Aufzucht seinen Namen gegeben und gegen Leials dringendes Begehren seine Entkeimung verhindert hatte. Seitdem hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt und sie hatte als Rätin im Rund der Mütter sein Wachsen und Reifen verfolgt. Mit sieben Umlaufzwölfen aus der Stätte der Aufzucht entlassen, war der Knabling in die Frauschaft einer Mutter gekommen, die die ihr unterstellten Mannlinge nicht allzu sehr drangsalierte. Als Zeugungsträger war es ihm verwehrt, ein Gehilfling zu werden und bei einer Meisterin ein bestimmtes Handwerk zu erlernen. Sein Los war vielmehr das eines Springlings, der in stetem Wechsel simple, sich im Daseinszyklus ständig wiederholende Verrichtungen übernahm und darüber hi­naus den Frauen in den unterschiedlichsten Belangen zur Hand ging. Waren die Dinge doch so eingerichtet, dass es lediglich den in ihrem Temperament gedämpften Entkeimten gestattet war, besondere Kenntnisse zu erwerben und weiter reichende Handfertigkeiten auszubilden. Die schwer zu lenkenden, ihren zerstörerischen mannlingschen Trieben ausgelieferten Zeugungsträger dagegen wurden in allem kurz gehalten und durften nur harmlose Handlangertätigkeiten verrichten, auf dass ihnen ihr Können nicht ungezügelt zu Kopfe stieg und sie zu umstürzlerischen Umtrieben anregte.

Anfangs hatte Ayiah Brachvogels Aufwachsen aus einer Art Pflichtgefühl heraus verfolgt, weil sie, die sein Schicksal so grundlegend gewendet hatte, meinte, auch fürderhin für ihn Sorge tragen zu müssen. Als er dann in späteren Jahren immer mehr Arbeiten zugewiesen bekam, die größere Körperkraft erforderten, unter diesem Joch allmählich erstarkte und sich von einem dürren Knabling zu einem Jüngling zu wandeln begann, der einmal sehr wohlgestalt geraten würde, erwuchs in ihr zunehmend noch ein weiters Gefühl, das sie lange tief in ihrem Innern vor einer bewussten Betrachtung verborgen gehalten hatte.

Ayiahs Zeit in der Stätte der Aufzucht sollte ihre einzige gewesen sein. Die Umsicht, mit der sie damals wider die Entkeimung Brachvogels gesprochen hatte, hatte das Wohlgefallen der Großen Mutter und Archontin Idune gefunden und nach ihrer nächsten Mutterschaft war sie in den Hort der Weisung beschieden worden, um dort die Kleinen Frauen zu nähren und dabei mitzuwirken, sie auf ihre Verantwortung der Schöpfung gegenüber vorzubereiten. Während die Knablinge in der Stätte der Aufzucht lediglich darin gedrillt und geschliffen wurden, später als Mann­linge alle die Tätigkeiten verrichten zu können, die den Fortbestand der Klave sicherten und ihren Alltag aufrecht erhielten, wurden die Kleinen Frauen im Hort der Weisung in den Kult der Großen Mondin eingeführt und in allen Belangen unterwiesen, die ein der Mondin gefälliges und die Schöpfung schonendes Leben ausmachten. Neben einer grundlegenden Einsicht in die Funktionsweise und den Zusammenhang der wichtigsten Gewerke erwarben die Klei­nen Frauen vor allem auch erste Kenntnisse in Mannlings- und Lenkungskunde. Auch im Hort der Weisung tat sich Ayiah hervor und auch hier war ihr natürlicher Widerpart ihre Erzfeindin Leial, die ihr auf das Betreiben der Häuptin der Wächterinnen dorthin gefolgt war, nachdem sie ebenfalls ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte.

Leial vermaledeite alle Mannlinge als diejenigen, die der Welt einst die Verderbnis gebracht hatten und die sie ihr auch erneut bringen würden, nähme man sie nicht eisern hart an die Kandare. Sie haderte mit der Ordnung der Natur, die vorsah, dass solch unbedachte und dumpf triebbestimmte Kreaturen wie die Mannlinge benötigt wurden, um die erforderliche Nachkommenschaft der Klave hervorzubringen. Doch hatte sie der Klave die zwei Kinder geschenkt, die allen Müttern abverlangt wurden – sie war sich sicher, dass es Kleine Frauen waren – und nie wieder würde sie einen dieser gockelhaften Zeugungsträger an sich heranlassen müssen, die sich nicht entblödeten zu glauben, der bloße Umstand, dass ihnen der Inhalt ihrer Schambeutel gelassen worden war, mache sie zu etwas Besonderem. Leial hasste den Ritus der Empfängnis aus tiefster Seele und gezwungen zu sein, sich einer dieser Kreaturen zu öffnen, gehörte zu den ekelhaftesten und abstoßendsten Erfahrungen ihres Lebens.

Widerhall und Verständnis für ihre Denkweise und Gesinnung fand sie im Zirkel der Wächterinnen, deren eine sie geworden war. Der Zirkel war das Bollwerk der Klave gegen eine erneute Verderbnis. Hier hatten Jagdfrauen, die sich besonders ausgezeichnet hatten, ein argwöhnisches und unbestechliches Auge darauf, dass alle Riten und Regeln des Kultes der Großen Mondin eingehalten wurden. Ohne Aufschluss darüber zu haben, wie sich die Zumutung der Fortpflanzung anders gestalten ließe, teilten viele der Wächterinnen Leials empörten Groll auf alles, was mit dem Mannlingsgezücht zusammenhing.

Im Gegensatz zu Leial verunglimpfte Ayiah die Mannlinge nicht, sondern betrachtete sie als Mitgeschöpfe, die der naturgegebenen Weisung der Mütter anheimgestellt, ebenso Teil des ewigen Kreislaufs waren, wie die Frauen selbst. Ins Rund der Mütter berufen, den Kreis der Weisen Frauen um die Archontin, arbeitete sie daran, dass Frauen und Mannlinge gedeihlich miteinander auskamen. Aber nicht nur zwischen Frauen und Mannlingen gab es Spannungen, sondern auch zwischen Entkeimten und Zeugungsträgern, Gehilflingen und Springlingen, den mäch­tigen Großmeis­terinnen und Vorsteherinnen der Gewerke sowie den einzelnen Meisterinnen und selbst die Archontin führte mit der Häuptin der Wächterinnen lange Dispute darüber, was der Mondin gefällig war und was nicht. Dank ihrer ausgleichenden Natur gelang es Ayiah, viele Zwistigkeiten einvernehmlich zu entschärfen und im Laufe der Zeit war sie in den engsten Kreis um die Archontin aufgestiegen. Das Gewicht all ihrer Obliegenheiten hatte die Gedanken an den Mannling lange Zeit in den Hintergrund geschoben, doch eines Tages drängte Brachvogel wieder mit Macht in ihre Kreise.

Ayiah, deren Frauschaft am südlichen Wall unmittelbar neben dem die Lunagleiß begleitenden großen Fahrweg gelegen war, war auf dem Weg zum Hort der Beratung, als sie vor sich einer Gruppe von Springlingen ansichtig wurde, die wohl zum nächstgelegenen Rund der Kündung strebten, um dort nach Erledigung ihrer Arbeiten – es war noch früh am Tage – weitere Aufträge zu empfangen. Abgesondert von dem Trupp lauthals parlierender Springlinge schritt eine Gestalt, deren Umrisse ihr lange vertraut und doch seltsam fremd erschienen. Der hochgewachsene, hagere Mannling bewegte sich geschmeidig wie eine Haselnussgerte und sein Gang vermittelte eine eigenwillige und selbstgewisse Unabhängigkeit. Als würde er ihren Blick spüren, drehte er sich kurz um und wandte sich, als er niemand Bekannten entdeckte, wieder nach vorne. Es war Brachvogel. Lange hatte Ayiah ihn nicht gesehen und der kleine Knabling, den sie damals als zerrupftes Federwesen auf dem Unland der Gleiß in der Stätte der Aufzucht aufgelesen hatte, war zu einem gar stattlichen Mannling herangewachsen. Er musste jetzt siebzehn Umlaufzwölfe alt und damit fraubar geworden sein, sinnierte Ayiah. Sie verspürte ein Ziehen im Magen und hatte in der anschließenden Versammlung Mühe, dem anstehenden Belang die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken.

Der Hort der Beratung gehörte zu den wenigen aus Stein errichteten Gebäuden der Klave. Um die Sammlung der dort tagenden Mütter zu fördern, waren in seine kreisförmig angelegten Mauern keinerlei Fenster gebrochen, lediglich eine große Flügeltür öffnete sich zum zentralen Rund der Kündung hin. Wie alle Bauwerke, die höherem Zeremoniell dienten und in denen die Mütter zusammenkamen, um die Geschicke der Klave zu lenken, verfügte auch der Hort der Beratung über eine Aussparung im Sparrenwerk seines Daches, durch die sich der Raum in die Sphäre der Mondin hinein öffnen konnte. Sein Inneres wurde von einem runden Tisch beherrscht, an dem jetzt etwa dreißig Mütter Platz genommen hatten. Obwohl es recht kühl in dem Gemäuer war, loderte kein Feuer im Kamin und auch das dicke Filztuch über der Öffnung im Dach war beiseitegeschoben. Archontin Idune hatte die Erfahrung gemacht, dass es dem Zustandekommen schneller und tragfähiger Entscheidungen förderlich war, wenn die Teilnehmerinnen einer Entscheidungsrunde sich nicht allzu wohl fühlten.

„Liebe Mitmütter und Lenkerinnen“, eröffnete sie die Zusammenkunft. „Unsere Klave leidet unter einem Geschick, das dermaleinst in einigen Generationen ihren Fortbestand infrage stellen kann. Wir zählen jetzt etwa dreißigtausend Häupter und wenn man, wie ich es aus einer mich schon lange beschleichenden unguten Ahnung heraus in den letzten Umläufen getan habe, die Abstammungsbücher zu Rate zieht, wird offenbar, dass wir seit vielen Umlaufzwölfen einen ständig fortschreitenden Schwund der Nachkommenschaft zu beklagen haben. Seit ewigen Umläufen haben die Schamaninnen im Zyklus einer jeden Frau, die in die Mutterschaft geführt wurde, die Hohe Zeit der Fruchtbarkeit mondinnenklar bestimmen können und ein jedes Ritual der Empfängnis mündete auch in eine Schwangerschaft. Einfühlsamkeit und Gespür unserer geschätzten Schamaninnen haben nicht abgenommen“, die Archontin legte die rechte Hand auf die linke Brust und neigte ihr Haupt in Richtung einer Dreiergruppe von Frauen, auf deren Umhang über der linken Brust ein stilisiertes Symbol der Mondin gestickt war, „und doch hat sich, ebenfalls mit Blick auf die Abstammungsbücher, erwiesen, dass in heutigen Umläufen nur noch zwei von drei Akten der Empfängnis in eine Schwangerschaft münden. Demzufolge kommen nicht so viele Kinder zur Welt, wie für die Aufrechterhaltung eines gedeihlichen Wirtschaftens vonnöten sind. Der Blick in die Abstammungsbücher gibt ferner Aufschluss darüber, dass sich immer häufiger die Blutlinien von angehenden Müttern, mit denen der von ihnen bestellten Zeugungsträger kreuzen, diese Verbindung also nicht zustande kommen darf. Das ist das eine.

Das andere ist, das sich zwischen den Kleinen Frauen und den Knablingen, die zur Welt kommen, ein Ungleichgewicht anbahnt. Noch halten sich die Häupter von Frauen und Mannlingen in etwa die Waage, doch die sich nun abzeichnende Entwicklung gibt Anlass zu der Sorge, dass in einigen Umlaufzwölfen der Anteil der Knablinge, den der Kleinen Frauen übersteigen wird.“

Die Archontin blickte in die Runde. „Welchen Ratschluss, liebe Mitmütter und Lenkerinnen, wollen wir treffen?

Cyrilla, die Oberin der Schamaninnen, stemmte die linke Hand in die Hüfte zum Zeichen, dass sie das Wort ergreifen wollte.

„Sprich“, nickte ihr Idune zu.

„Es liegt zwar in unserer Macht, die Zeit der Fruchtbarkeit einer jeden Frau zu ermitteln, doch haben wir nicht in der Gewalt, das Geschlecht eines Kindes zu bestimmen, dies obliegt allein dem weisen Ratschluss der Mondin. Wenn es ihr gefällt, die Waagschale der zur Welt kommen­den Knablinge tiefer sinken und die der Kleinen Frauen höher steigen zu lassen, so müssen wir das demütig hinnehmen. Wir können uns nicht anmaßen zu wissen, was im empfindlichen und für uns unüberschaubaren Gefüge der Welt damit ausgeglichen und wieder ins Gleichgewicht gebracht wird.“

„Wohl gesprochen“, stimmten ihr die anderen zu.

Eilig winkelte da Leial, die mit anderen Wächterinnen ebenfalls an der Runde teilnahm, ihren linken Arm an: „Auch ich vermag kein Fehl daran zu erkennen, wenn die Klave über mehr Mannlinge als Frauen verfügt. Im Gegenteil: Die Mannlinge sind unsere Arbeitskräfte. Je mehr wir davon haben, desto besser. Je nachdem, in welchem Maße die Zahl der Köpfe der Mannlinge die der Häupter der Frauen überschreitet, scheinen wir allerdings gut beraten zu sein, die Zügel anzuziehen und die Mannlinge gestrenger zu überwachen und anzuweisen. Mich deucht ohnehin schon jetzt, dass sich etliche Mannlinge viel zu viel herausnehmen.“

„Um die Zahl der Geburten wieder anzuheben, könnten wir darauf hinarbeiten, dass Mütter, die schon ohne ungute Reibungen zwei Kindern das Leben geschenkt haben, noch ein weiteres in die Welt setzen,“, gab Mysia, eine der Schamaninnen zu bedenken, die als Hebamme schon viele Kinder zur Welt gebracht hatte.

„Vielleicht liegt es ja auch an den Zeugungsträgern und der mangelhaften Güte ihrer Säfte“, wandte Ferruma, die Eisenfrau ein, die als Vorsteherin des Gewerks der Schmiedinnen ebenfalls im Rund der Mütter saß. „Wie wäre es, in Zukunft weniger Knablinge zu entkeimen, um auf eine größere Fülle von Zeugungsträgern zurückgreifen zu können?“

„Dem pflichte ich unbedingt bei“, sprang ihr Ayiah zur Seite. „Bislang unterziehen wir zwei von drei Knablingen der Entkeimung. Wir sollten überlegen, ob wir nicht gut daran täten, jedem zweiten Knabling die Keimdrüsen zu lassen, um den Strom der Abstammungslinien unserer Klave zu verbreitern, der, so scheinen es die Aufzeichungen im Abstammungsbuch nahe zu legen, zu einem kläglichen Rinnsal zu verkommen droht.“

Ayiah erinnerte sich, ähnliche Rede schon damals in der Stätte der Aufzucht geführt zu haben, um die Entkeimung Brachvogels zu verhindern.

Und wieder war es Leial, die sich hitzig dagegenstemmte: „Da sei die grundgütige Mondin vor“, ereiferte sie sich, ohne das Wort erteilt bekommen zu haben. „Jedem zweiten Knabling die Keimdrüsen lassen? Die Sicherheit unserer Klave scheint dir nicht sehr am Herzen zu liegen Ayiah und vielleicht wärest du gar besser gleich als Mannling zur Welt gekommen. Bedenke: Jeder einzelne Zeugungsträger bringt ohne Hemmnis das verderbliche Erbe der Mannlinge in die Klave ein und wenn ihrer noch mehr werden, wächst die Gefahr, dass gefährliche Strömungen Raum greifen, ins für uns Frauen nicht mehr Bezwingbare.“

„Und du solltest einmal bedenken, dass auch du zu einem gewissen Teil von einem Zeugungsträger abstammst“, gab Ayiah spitz zurück, „und vielleicht wäre es jetzt etwas weiter und lichter in deinem Kopf, wenn deine Mutter damals aus einer größeren Anzahl von Zeugungsträgern hätte wählen können.“

„Liebe Schwestern“, beschwichtigte die Große Mutter, „mäßigt euch! Gerade im Rahmen dieser Unterredung sollten wir doch wie besonnene Frauen vorgehen und nicht wie hitzköpfige Mannlinge blindwütig um uns schlagen.“

So wogte der Disput noch des Längeren hin und her, wurde das Für und Wider möglicher Handlungsweisen erörtert, bis die Mütter schließlich mit Billigung der Archontin dahingehend gleichen Sinnes wurden, zweifachen Müttern im gebärfähigen Alter anheim zu stellen, noch ein drittes Kind zur Welt zu bringen.

Das Lager der Wächterinnen um Leial hatte es äußerst geschickt verstanden, bei den Frauen tiefsitzende Ängste vor dem Erstarken des mannlingschen Geistes zu schüren, so dass der Vorschlag, weniger Knablinge zu entkeimen, in keiner Weise tragfähig erschien.

„Gut Ding will Weile haben und unmittelbar besteht keinerlei Gefahr. Wir sollten uns also davor hüten, die Dinge in mannlingschem Ungestüm übers Knie zu brechen, sondern den Gedanken an eine dritte Geburt feinfühlig und behutsam unter die Mütter bringen und vielleicht auch darüber nachdenken, mit welchen Begünstigungen wir Müttern, die sich freiwillig dafür entschieden haben, ihren Einsatz für die Klave vergelten können“, beschied Archontin Idune schließlich und hob die Versammlung auf.

Die nächsten Tage führten Ayiah im Auftrage der Archontin weit in der Klave herum, um in Gesprächen mit den unterschiedlichsten Frauen auszuloten, wie sie dem Gedanken, dass jede Frau drei Kinder gebären solle, gegenüberstanden. Und immer wieder begegnete sie dabei Brachvogel, der als Springling an den unterschiedlichsten Orten eingesetzt wurde. Vermaledeit, gerade wenn sie sich diesen Jungmannling aus dem Kopf geschlagen hatte, lief er ihr wieder über den Weg. Sie musste sich allmählich eingestehen, dass ihr Interesse an ihm nicht länger aus Pflichtgefühl erwuchs, sondern gänzlich anderer Natur war.

Was an diesem Mannling wirkte nur so anziehend auf sie? Er war von schlanker, aufrechter Gestalt. Doch das waren viele andere Mannlinge auch. Auch an seinem Gesicht, mit den weit auseinander stehenden Augen, der leicht schiefen Nase und dem Grübchen am Kinn war durchaus nichts Besonderes. Warum also zog sie gerade dieser Mannling in seinen Bann?

Es war seine ungezwungene Art sich zu bewegen. Es war der offene und direkte Blick seiner grünen Augen, der dem ihren nicht auswich und nicht wie der anderer Mannlinge unstet umherirrte oder sich senkte, sobald eine Frau sie ansprach. Brachvogels Blick war nicht trotzig, wie der der Rebellen, die es in den Reihen der Mannlinge auch gegeben hatte, sondern arglos und natürlich und schien ein wenig träumerisch verloren, so als würden für ihn die Verhältnisse, dass die Mannlinge den Frauen untertan waren, nicht gelten. Ja, immer wenn sie – mit deutlich wachsenden Wohlgefallen – Brachvogel sah, war es, als würde sie einer Frau in der Gestalt eines Mannlings begegnen, einem Wesen, das sich seines Wertes und seiner Stellung bewusst war und sich nicht so verschlossen gab oder duckmäuserisch gebärdete wie die anderen Mannlinge. Auch haftete Brachvogel eine selbstgewisse Eigenständigkeit an. Selten sah sie ihn mitten im Pulk der andern Mannlinge. Offenbar blieb er lieber für sich, als sich mit den anderen gemein zu machen. In diesem Wesenszug fühlte sich Ayiah ihm verwandt, die ebenfalls nicht vorbehaltlos die von den anderen Frauen ausgetretenen Wege beschritt, sondern sich in den meisten Belangen ihren eigenen Pfad ins Dickicht der Zukunft bahnte.

Der Mannling ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und sie erkannte, regelrecht besessen von ihm zu sein. Und ganz allmählich konnte sie sich auch nicht länger der Einsicht entziehen, dass die Gefühle, mit denen sie das Abbild seiner Erscheinung und seines Wesens in ihrem Inneren immer und immer wieder umrundete und abtastete, begehrlicher und wollüstiger Natur waren. Dies stürzte sie in tiefe Verwirrung. Was ging nur mit ihr vor? Ganz unabhängig davon, wie ihr seltsames Gelüst in der Gemeinschaft der Frauen und Mütter zu beurteilen war, musste sie vor allem sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen.

Bis auf die von Leial so beklagte unumgängliche Notwendigkeit, sich im Akt der Empfängnis mit den Körpern von Zeugungsträgern zu vereinen, gab es keinerlei geschlechtliche Beziehungen zwischen Frauen und Mannlingen. Ihre Wollust lebten die Frauen unter ihresgleichen aus und was die Mannlinge trieben, wollte Ayiah gar nicht erst wissen. Es hieß, dass der größte Teil der Mannlinge als Entkeimte ohnehin keinen Trieb verspürte. Wie alle Kleinen Frauen war auch sie einst am Ende ihrer Zeit im Hort der Weisung von einer älteren Frau in die körperliche Liebe eingeführt worden und auch ihre Jungfräulichkeit hatte sie später durch die Hand einer Frau verloren. Zwar hatte sie im Laufe der Zeit zu wechselnden Gespielinnen Beziehungen unterhalten, doch dabei nie besondere Lust empfunden, so dass das Geschlechtliche in ihrem Leben nur geringes Gewicht einnahm. Ayiah wünschte sich eine Vertraute ihrer Seele, mit der auch sie dem Taumel der Sinne würde frönen können, doch war es nie bis dahin gediehen. Umso befremdlicher dünkte sie die jetzt nicht mehr zu leugnende Gewissheit, diesen Mannling Brachvogel auf eine Art und Weise zu begehren, die allen Regeln des Lebens in der Klave Hohn sprach.

Nächtens träumte ihr, mit Brachvogel auf ihrem Lager zu liegen, von ihm umschlungen zu werden und ihrerseits ihn zu umschlingen und wachte morgens völlig zerschlagen und mit feuchtem Geschlecht auf. Tagsüber konnte sie sich nur mühsam sammeln, um ihre Sache in Disputen und Wortgefechten zu vertreten. Sie ertappte sich dabei, ihm nachzustellen und auf ihren Gängen in der Klave die Wege zu beschreiten, auf denen sie ihm vielleicht begegnen würde.

So konnte, so durfte es nicht mehr weitergehen. Wie aber war das zu heilen? Vielleicht würde ja das nur in ihrem Innern genährte Gespinst an Vorstellungen der Realität nicht standhalten und Brachvogel sich im näheren Umgang als ganz gemeiner Mannling erweisen? Doch da der Umgang zwischen Frauen und Mannlingen strengstens geregelt war und sich aufseiten der Frauen gewöhnlich darauf beschränkte, Weisungen und Befehle zu erteilen und aufseiten der Mannlinge darauf, diese zu empfangen und entsprechenden Rapport zu geben, war es undenkbar, einen Mannling anzusprechen, der weder in ihrer Frauschaft hauste noch dessen Weisungsfrau sie war. So sah sie hier keine Möglichkeit, ihr Bild von Brachvogel an der Realität zu messen.

In ihrer Not und Verwirrung fasste Ayiah einen aberwitzigen Plan, sich diesen Brachvogel ein für alle Mal auszutreiben: Sie würde ihre wollüstigen Fantasien in die Tat umsetzen und ihrer unziemlichen Neigung zu dem Mannling durch die Probe aufs Exempel ein Ende machen. Vorausgesetzt, die Blutslinien im Buch der Abstammung standen dem nicht entgegen, war es das verbriefte Recht einer jeden angehenden Mutter, für den Akt der Empfängnis einen ganz bestimmten Mannling zu bestellen. Sie, Ayiah, würde ein drittes Kind zur Welt bringen und als ihren Zeugungsträger würde sie Brachvogel wählen. Zwar galt es als ungewöhnlich, mit 29 Umlaufzwölfen noch ein Kind zu bekommen, doch war sie noch nicht zu alt für eine letzte Schwangerschaft. Im Gegensatz zu Leial beurteilte sie das Ritual der Empfängnis völlig nüchtern. Für die beiden vergangenen Male hatte sie aufs Geratewohl geziemend ansehnliche Mannlinge gewählt, die sie jetzt, sollten sie ihr über den Weg laufen, nicht wiedererkennen würde. Und auch während des Aktes hatte sie nichts empfunden, das ihr noch vor Augen stünde.

Ayiah glaubte fest daran, dass die Riten, Gebote und Lehren der Klave dem Wohl der gesamten Schöpfung dienten, Frau und Mannling, Tier und Pflanze, Berg und Tal, Feld und Wald, Fluss und Weiher. In diesem Geiste war es auch ihr Bestreben, der alten Großen Mutter Idune ins Amt der Archontin zu folgen. Sie war daher überzeugt davon, dass die im Rahmen der heiligen Riten einzig geduldete geschlechtliche Begegnung zwischen Frau und Mannling zu vollziehen, sie von ihrer Verirrung befreien und Brachvogel der verhängnisvollen Anziehungskraft berauben würde, die er auf sie ausübte. So wäre sie von ihren Flausen geheilt und konnte zudem hoffen, durch ihr Beispiel, als erste Mutter ein drittes Kind zur Welt zu bringen, ihren Aufstieg zum Amt der Archontin zu beflü­geln.

Es benötigte seine Zeit, einen Akt der Empfängnis auf den Weg zu bringen und Ayiah musste sich sputen, damit nicht eine andere Mutter vor ihr mit einem dritten Kind von sich reden machte. Sobald es ihre mannigfachen Pflichten erlaubten, suchte sie die Hüterin der Blutlinien, Sanguine, auf. Die uralte Frau, die seit urdenklichen Zeiten darüber wachte, dass das Blut der Einwohnerschaft der Klave nicht durch allzu enge Abstammungsherkünfte verdorben wurde, öffnete ihr die Tür zu ihrer Hütte und wedelte mit zittrigen Händen in der Luft zum Zeichen, dass sie eintreten möge.

„Was ist dein Begehr?“, fragte sie.

„Ich bin willens, der Klave ein Kind zu schenken“, antwortete Ayiah.

„Wer bist du?“

„Ayiah, empfangen in der Gnade der Mondin am zweiten Tage des dritten Umlaufs im fünfhundertsechsunddreißigsten Umlaufzwölft.“

Um die Abstammungsherkünfte nachvollziehen zu können, war es üblich, den Tag eines jeden Aktes der Empfängnis zu verzeichnen. Sollte der Ritus nicht in eine Schwangerschaft münden oder die Leibesfrucht vor der Zeit oder unter der Geburt zu Schaden kommen und ihren Eintritt in die Welt nicht überleben, wurde der Eintrag mit einem entsprechenden Vermerk wieder gelöscht.

„Ayiah“, wiederholte die alte Frau und musterte sie eingehend. „Du bist eine von denen, die als Anwärterinnen auf das Amt der Archontin gehandelt werden. Wen bestellst du als deinen Zeugungsträger?“

„Den just fraubar gewordenen Jungmannling Brachvogel, Springling in der Frauschaft von Lignumera, der Holzfrau, mutmaßlich empfangen im fünfhundertachtundvierzigsten Umlaufzwölft.“

Mit einiger Mühe hob Sanguine einen dickleibigen Folianten von einem Wandbrett und wuchtete ihn auf einen Tisch, der mitten in der Hütte stand.

„Hier sind sämtliche Blutlinien der Klave seit ihren Anfängen in den ersten Umläufen nach der Großen Verderbnis verzeichnet“, verkündete sie, benetzte den rechten Zeigefinger mit der Zunge und begann zu blättern. „Hm, Brachvogel, Brachvogel“, grummelte sie, „kann ihn hier nicht finden, deinen Brachvogel.“

Richtig, das konnte sie wirklich nicht, wurde Ayiah plötzlich klar. Den Namen Brachvogel, bei dem es dann irgendwie geblieben war, hatte er ja von ihr bekommen. Wie war doch gleich sein ursprünglicher Name gewesen? Eniroi? Da Brachvogel nicht zu ihren eigenen Zöglingen gehört hatte, war sie sich nicht völlig sicher, meinte sich jedoch an etliche Anlässe zu erinnern, als laute Eniroi-Rufe erschollen waren, weil der eigenwillige Knabling die Stätte der Aufzucht wieder einmal in helle Aufregung versetzt hatte.

„Eniroi“, sagte Ayiah. „Mein Zeugungsträger wird zwar Brachvogel gerufen, aber sein eigentlicher Name lautet Eniroi.“

„Eniroi“, murmelte Sanguine gedehnt und blätterte durch etliche Seiten. „Da haben wir ihn ja. Empfangen am zwölften Tage im zweiten Umlauf des fünfhundertachtundvierzigsten Umlaufzwölfts. Und nun zu dir, Ayiah. Zweiter Tag des dritten Umlaufs im fünfhundertsechsunddreißigsten Umlaufzwölft?“

„Ganz recht“, bestätigte Ayiah. Trotz der Hinfälligkeit ihres Körpers verfügte die Alte offenbar über ein tadelloses Gedächtnis.

Sanguine bündelte einen Packen Seiten, legte ihn um und schlug an anderer Stelle des Abstammungsbuches nach. „Wie ich sehe, hast du schon zwei Kindern das Leben geschenkt und damit deine Pflicht der Klave gegenüber erfüllt. Überdies bist du nahe daran, die Kräfte der Natur herauszufordern, in einem Körper von neunundzwanzig Umlaufzwölfen ein wohlgestaltetes Kind heranwachsen zu lassen. Natürlich sind mir die Hintergründe deines Ansinnens wohl bekannt, war es doch die alte Sanguine, die die Archontin darauf auf­merksam gemacht hat, dass schon lange nicht mehr aus jedem Empfängnisritual ein Kind erwächst und dass es eng wird mit den Zeugungsträgern. Hat das Rund der Mütter also beschlossen, dass ab jetzt jede Frau drei Abkömmlinge empfangen kann. Allerdings kann ich mich bei dir des Eindrucks nicht erwehren, dass da mehr dahintersteckt.“

Sie zwinkerte Ayiah listig zu.

„Du hast nicht etwa vor, als eine der Bewerberinnen für das Amt der Archontin als gutes Vorbild voranzugehen und dir so die Bahn zu Erlangung der Würde der Großen Mutter zu ebnen?“

„Ich sehe es als meine Plicht ...“

„Lass gut sein Kindchen“, winkte Sanguine ab, „die Ränke der hohen Staatskunst zu beurteilen ist meine Sache nicht. Es wird allerdings seine Zeit dauern, bis ich alle Verzweigungen und Verästelungen der Blutlinien zwischen dir und diesem Brachvogel geprüft habe. Komm in zwei Tagen wieder, dann kann ich dir sagen, ob du mit ihm reines Blut zuwege bringen kannst oder nicht.“

Es focht Ayiah nicht an, dass Sanguine ihr politisches Kalkül unterstellte. Mit ein und derselben Handlung mehrere unterschiedliche Absichten zu verfolgen, schien ihr eher ein Gebot der Klugheit denn schändlich zu sein.

Nach zwei Tagen fand sie sich erneut bei der Hüterin der Blutlinien ein, um Gewissheit zu erlangen.

„Ah, Kindchen, da bist du ja wieder“, hieß Sanguine sie willkommen. „Der Plan der Großen Mutter Idune scheint aufzugehen, denn inzwischen haben schon etliche weitere Mütter ihre Absicht bekundet, ein drittes Kind zu empfangen. Mögen diese unsere Klave bereichern und ihr reiche Frucht und Segen bringen. Was dich angeht, so habe ich deine Herkunftslinien und die des Brachvogel-Eniroi gewissenhaft nachgezogen und geprüft. Nirgendwo verlaufen sie dicht nebeneinander oder berühren und überkreuzen sich gar. Die Gefahr, dass du durch die Vereinigung mit diesem Zeugungsträger verdorbenes Blut in die Klave einbringst, kann also mit Sicherheit ausgeschlossen werden.“

Ayiahs Wunsch und Wille war es, ihr Ritual der Empfängnis in einer Nacht zu begehen, in der die Mondin als volles Rund am Himmel stand. Waren doch die Frauen besonders angesehen, deren Mondblutung genau dann einsetzte, wenn die Lichtgestalt Lunas eine kaum wahrnehmbare Sichel einnahm, und die den Zeitpunkt ihrer höchsten Fruchtbarkeit erklommen, wenn auch die Mondin ihre volle Gestalt erreicht hatte. Es war dies eines der mannigfachen Wunder der Natur, dass der Zyklus der Frauen in etwa so lange dauerte wie ein Umlauf der Großen Mondin. Maßgeblich hieraus leiteten die Frauen den Anspruch ihrer Wei­sungs­befugnis den Mannlingen gegenüber ab, deren geradliniges Dasein ohne jegliche Übereinstimmung mit dem Himmelsgestirn verlief.

Da der Zyklus der meisten Frauen um ein kleines länger oder kürzer währte als ein Umlauf der Mondin, kam es immer wieder zu Verschiebungen und auch Ayiahs Kreislauf der Fruchtbarkeit verlief gegenwärtig etwas versetzt, doch wusste sie sich Mittel und Wege, ihn genau in die Bahn der Mondin münden zu lassen. Ihres Wissens konnten sich bisher nur wenige Archontinnen rühmen, eine Empfängnis genau zur Gestalt der vollen Mondin eingeleitet zu haben. Das musste ihr unbedingt auch gelingen. Denn selbst wenn eine andere Frau vor ihr einen dritten Abkömmling empfangen sollte, so würde dies mutmaßlich nicht unbedingt in einer Nacht der vollen Mondin geschehen. Gerade nahm Lunas Rund wieder ab und Ayiah würde den Rest des Umlaufs dazu nutzen, ihren Zyklus auf den der Mondin einzustimmen. Auf dem Höhepunkt des nächsten Umlaufs sollte dann ihre Empfängnis stattfinden.

In dieser und allen folgenden Nächten suchte Ayiah den Einfluss des milden Nachtgestirns. Selbst bei Regen, wenn nur der Himmel einigermaßen klar war, stahl sie sich aus ihrer Frauschaft und stieg auf einen Felsen am Ufer der Lunagleiß, der seit Frauengedenken dafür stand, auf seiner abgeflachten Krone ruhenden Müttern eine besonders eindrückliche Verbindung mit der Mondin zu schaffen. Dort niedergelassen entblößte sie, entschlossen der Kälte trotzend, ihre Leibesmitte und bot sich, ihr Becken wölbend, den Strahlen der Mondin dar. Dabei konzentrierte sie sich auf die Stimmen und Rhythmen ihres Blutes und ihre ganze Wahrnehmung verdichtete sich auf das Leuchten über ihr. Immer, wenn sie so einige Zeit verharrt hatte, vermeinte sie in sich eine Kraft zu spüren, die sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete und ihn zu einer weltumspannenden Schwingung dehnte, deren Vibration und Tönen sie mit dem Gestirn in einen vollendeten Einklang brachte. Ayiah war sich nicht sicher, ob die Zeit bis zum nächsten Umlauf ausreichen würde, ihren Zyklus auf die Mondin hin aus­zu­richten.

Tatsächlich aber spürte sie, wie der Fluss ihres Blutes genau dann einsetzte, als Luna sich anschickte, den neuen Umlauf zu beginnen.

Die Zeit der Blutung war geheiligt in der Klave. Ohne Blut gab es kein Leben und indem Frauen regelmäßig einmal im Umlauf einen Teil ihres Lebenssaftes aus ihrem Körper entließen, erwies sich, dass ihr Organismus der Natur geöffnet war. Anders als die Mannlinge, die ihr Blut selbstbezüglich horteten und immer bei sich behielten, standen Frauen in stetem Austausch mit allem, was sie umgab und waren bereit, für die Gaben, die sie empfingen, auch etwas zurückzugeben.

Wie viele Frauen zog sich Ayiah auch diesmal während der Zeit ihrer Blutung aus dem emsigen Getriebe der Klave zurück und besuchte die abgesonderten Räumlichkeiten im Hort der Weisheit, um sich dort unter der Anleitung der Schamaninnen achtsam zu sammeln und innere Einkehr zu halten. In dem besonderen Zustand der Gnade, in den sie nun eingetreten war, widmete sie sich der kontemplativen Versenkung in die Kreisläufe des Lebens, sowie dem Fertigen von Kultgegenständen, die im Ritus der Mondin eine besondere Bedeutung hatten. Erbrachte dies auch keine greifbaren Erkenntnisse, so ging Ayiah doch jedes Mal in der Überzeugung erstarkt aus den Übungen hervor, dass der Mensch gut daran tat, die natürliche Ordnung der Welt nicht zu stören und diesbezüglich das Zusammenleben von Frauen und Mannlingen in der Klave im Grunde wohl eingerichtet war. Ihre Kontrahentin Leial dagegen hatte keinerlei Vertrauen in die Wohlgeordnetheit der Dinge. Ginge es nach ihrem Will­len, würden die Mannlinge wie niederes Herdenvieh gehalten, um der Gefahr einer neuerlichen Verderbnis vorzubeugen. Leials ganzes Bestreben richtete sich darauf, Häuptin der Wächterinnen zu werden und Ayiah war sich bewusst, dass sie noch manche Fehde mit ihr auszutragen hätte, sollte ihr das gelingen und sie selbst Idune in das Amt der Archontion nachfolgen.

Gerade hatte Ayiah im Kreise der anderen Frauen, die ihre Mondblutung begangen, eine Betrachtung zum Verhältnis von „Erde und Äther“ abgeschlossen – sie hatten sich darein vertieft, wie Pflanzen durch ihre Wurzeln Wasser und Nährstoffe aus der Erde zogen und über ihre Blätter Licht und Odem aus dem Äther empfingen – als Mysia, die als Schamanin die Übung begleitet hatte, an sie herantrat.

Die Schamaninnen der Klave unterhielten besonders ausgezeichnete Be­ziehungen zur Mondin, die den Umgang der übrigen Frauen mit dem milden Gestirn an Innigkeit und Eindrücklichkeit bei weitem übertrafen. Stete rituelle Übung und eine strenge Zucht ihrer Lebensweise schärften ihnen Geist und Sinne, so dass ihnen ihre in die Allnatur ausgespannte Seelengestimmtheit Eingebungen und Gesichte zuteilwerden ließ. Sie legten Ort und Ausrichtung von Bauten fest und bestimmten über die Anlage von Äckern und Feldern. Sie geboten über die Töne und Klänge der Drehleiern, die die Mannlinge den Frauen zu Willen werden ließen. Mittels Kräutertränken und eines Suds aus bestimmten Pilzen versetzten sie sich in Ekstasen des Geistes und des Leibes, die sie für Botschaften empfänglich machten, die mit bloßen Alltagssinnen nicht zu fühlen und zu erkennen waren. Einige übermäßig begnadete unter ihnen waren sogar befähigt, ihre Seelen von ihrer leiblichen Hülle zu trennen, sie sich aufschwingen zu lassen und auf weite Reisen in die Vergangenheit und gar in noch kommende Zeiten zu schicken. Die Einsichten und Erkenntnisse, die sie von solchen Reisen mitbrachten, bildeten oft den willkommenen Hintergrund für Entscheidungen, die das Rund der Mütter im Hort der Beratung traf, die Geschicke der Klave zu lenken.

Neben diesen tiefen und weit reichenden Belangen großer Tragweite waren die Schamaninnen auch die Heilkundigen und Hebammen der Klave. Sie besaßen eine umfassende Kenntnis der Kräfte von Pflanzen und Kräutern sowie der Wechselwirkungen der Organe des menschlichen Körpers und bewahrten dieses Wissen als streng gehütetes Geheimnis, das sie von Generation zu Generation weitergaben, damit es nicht in falsche Hände geriet.

„Sanguine hat uns von deinem Begehr unterrichtet, ein Kind zu empfangen“, sagte Mysia. „Auch wenn dein Alter dafür schon recht fortgeschritten ist, haben wir dagegen nichts einzuwenden und auch die Blut­linien stehen dem ja nicht zuwider. Wann möchtest du, dass der Ritus stattfindet?“

„Wenn es zu bewerkstelligen ist, noch in diesem Umlauf“, entgegnete Ayiah.

„Du hast dich zu Beginn des Umlaufs zur Kontemplation zurückgezogen und wir haben jetzt den dritten Tag. Wie lange dauert deine Blutung für gewöhnlich?“

„Vier bis fünf Tage.“

„Dann verfüge dich doch bitte jeweils zur Dämmerung des vierten und zweiten Tages vor der Nacht der vollen Mondin in den Hort der Empfängnis, auf dass wir die rechte Zeit bestimmen mögen.“ Mysia reichte Ayiah ein Beutelchen. „Ich gebe dir hier eine Mischung von Kräutern mit, die du am Morgen dieser Tage aufbrühst und so heiß, wie dir eben möglich, zu dir nimmst.“

Am nächsten Tag ebbte Ayiahs Blutung ab und sie verließ den Rückzugsort, ging wieder ihren üblichen Obliegenheiten nach und versuchte, jeden Gedanken an den Mannling aus ihrem Kopf zu verbannen.

Am ersten der von Mysia ausgewiesenen Tage trank sie morgens den Kräutersud, dampfend, dass er ihr die Kehle versengte, und fand sich abends im Hort der Empfängnis ein. Die Stätte war oberhalb des großen Runds der Kündung und Versammlung unmittelbar an der Flanke der Fernwarte gelegen. Hier verliefen mehrere Brüche und Spalten im Fels, die das in der Tiefe der Erde strömende Wasser preisgaben, das in hölzerne Rinnen geleitet, die acht über der Erde errichteten Auffangbecken speiste, die in der Klave verteilt waren. Galt es schon als Ackerfrevel, die Erde zum Pflügen mehr als geziemend zu ritzen, so war es gänzlich wider die Schöpfung, raumgreifend und steil in ihre Eingeweide zu dringen und so waren die natürlichen Spalten am Hort der Empfängnis die einzigen Brunnen der Klave. Der größte und ergiebigste Durchlass war ausgemauert und darüber, aus festen Steinen geschichtet, der Hort der Empfängnis errichtet worden. Genau über dem Brunnen befand sich die Öffnung im Dach, durch die sich untere und obere Sphäre ungehindert miteinander verbinden konnten. Der Boden war nicht mit Steinplatten ausgelegt, sondern bestand aus nackter, gestampfter Erde, in die längs der Mauern vier Feuerstellen eingelassen waren, die die vier Himmelsrichtungen wiesen.

Jedes neue Leben erwuchs aus einer einzigartigen Verbindung der vier Kräfte Feuer, Erde, Wasser und Luft, und die Frauen bildeten das Gefäß, in dem diese Verbindung unter der Gnade der Mondin in Fleisch und Blut Gestalt annahm. Der Beitrag, den die Mannlinge dabei leisteten, war zwar unverzichtbar, aber nicht weiter Gegenstand der Überlegungen der Frauen.

„Erde und Äther“ dachte Ayiah, als sie den Raum betrat und ihren Blick von der unergründlichen Schwärze des Brunnens in den abendlichen Himmel erhob. Ein Kind zu empfangen, war für sie bislang ein mystischer Akt gewesen, der von spirituellen Gefühlen begleitet war. Der Gedanke, dass dies mit körperlicher Wollust verbunden sein konnte, war ihr nie gekommen. Und doch wollte sie hier binnen weniger Tage ihrer Fleischeslust nachgeben, um fürderhin nicht mehr von ihr gepeinigt zu werden und sich und ihre Eignung für das Amt, das sie anstrebte, nicht länger in Frage stellen zu müssen. In welch schier aberwitzige Lage hatte sie sich da sehenden Auges begeben? Doch nun konnte sie nicht mehr zurück. Ihr Ersuchen um Empfängnis war längst offiziell und es war auch allseits bekannt, dass sie Brachvogel zu ihrem Zeugungsträger bestellt hatte. Diesen jetzt noch auszutau­schen, war nicht möglich. Sie musste also tun, was zu tun war und jetzt dabei helfen, den genauen Zeitpunkt des Ritus zu bestimmen.

Neben dem Brunnen stand Mysia und machte sich an einem Tisch mit gläsernen Phiolen und Schälchen zu schaffen. Ayiah trat hinzu und begrüßte die Hebamme.

„Nun wollen wir sehen, wann du bereit bist, neues Leben zu empfangen“, sagte Mysia. „Hast du den Trank aus den Kräutern, die ich dir gab, bereitet und zu dir genommen?“

Ayiah nickte und Mysia bat sie sodann, etwas von dem Schleim aus ihrem Geschlecht zu Tage zu fördern, der sich gewöhnlich etwa ein Umlaufviertel nach dem Verebben ihrer Blutung bildete. Ayiah griff unter ihr Gewand, lüpfte ihre Schambinde, führte einen Finger in sich ein und bewegte ihn hin und her, dass etwas davon haften bleibe. Als sie den Finger wieder hervorzog, war dessen Spitze von einem klumpig, trüb-gelblichen Sekret bedeckt.

„Berühre einmal mit dem Daumen die Kuppe deines Zeigefingers“, sagte Mysia.

Ayiah führte Daumen und Zeigefinger zusammen, doch der Schleim bleib zäh an ihrem Zeigefinger haften. Mysia ergriff ihn und tunkte ihn in ein kristallenes Schälchen mit einer hellroten Flüssigkeit. Dann nahm sie einen hölzernen Spatel und strich den Schleim vom Finger. Ayiah beobachtete, wie er sich zu kleinen Kügelchen ballte, die am Boden des Schälchens liegen blieben und nach einiger Zeit eine hellrote Färbung annahmen.

„Das ist gut“, urteilte Mysia. „Dein Körper öffnet sich allmählich, so dass die Elemente, die neues Leben schaffen, sich anschicken, in dich eindringen zu können. In zwei Tagen sehen wir weiter.“

Als Ayiah Mysia das nächste Mal aufsuchte, war ihr Schleim glasklar und durchscheinend wie rohes Eiweiß, spielte ins Rötliche und zog zwi­schen Daumen und Zeigefinger lange Fäden. In einem Schälchen mit blauer Flüssigkeit bildete er zunächst eng zusammenhängende Schlieren, die sich immer weiter ausbreiteten und sich dann, ohne die Farbe anzunehmen, völlig auflösten.“

„Das scheint sehr gut“, sagte Mysia. „Aber lass uns zur Sicherheit noch eine weitere Probe nehmen.“ Sie wies auf eine flache Schüssel mit trübem Inhalt unbestimmter Farbe.

Diesmal verteilte sich der Schleim wie die Eisdecke auf einem Gewässer und ging auch nach längerer Zeit keine Verbindung mit der Flüssigkeit ein.

„Das ist sehr gut“, beschied Mysia. „Du wirst die Zeit deiner höchsten Fruchtbarkeit genau in zwei Tagen zur Nacht der vollen Mondin erreichen. Wenn das kein gutes Omen ist. Finde dich dann also in der vierten Stunde nach ihrem Aufgang wieder hier ein, damit wir deine Empfängnis begehen können.“

Ayiah lächelte. So uneins sie mit sich und ihren Gefühlen auch sein mochte, war es ihr doch binnen kürzester Zeit gelungen, den Rhythmus ihres Körpers auf den der Mondin einzuschwingen. Sie war jetzt zuversichtlicher gestimmt und würde den Ritus der Empfängnis einfach auf sich zukommen lassen. Was auch immer sie dabei empfinden sollte, zumindest würde ihr ein unter der vollen Mondin empfangenes drittes Kind den Weg ins Amt der Archontin ebnen.

Zur vierten Stunde der Nacht der vollkommenen Luna war Ayiah auf dem Weg zum Hort der Empfängnis, als ihr Leial begegnete und ihr einen Blick zuwarf, der zwischen Verachtung und gespielt zur Schau getragener Belustigung lag. Natürlich hatten inzwischen alle maßgebenden Frauen von Ayiahs Ansinnen erfahren und fast schien es, als hätte ihre Erzfeindin sie abgepasst, um ihr noch eine Beleidigung mit auf den Weg zu geben.

„Nun, meine Fruchtbarste, begibst du dich auf den Tummelplatz der Zeugungsträger? Wen willst du eigentlich damit beeindrucken? Wenn du hoffst, durch den Widersinn, in deinem Alter zum dritten Mal für einen dieser aufgeblasenen Gockel die Beine zu spreizen, das Rund der Mütter von deinen Qualitäten für das Amt der Archontin überzeugen zu können, gehst du gar gründlich fehl. Um diese Klave zu lenken, bedarf es anderer Fähigkeiten und vor allem einer anderen Gesinnung. Welche das ist, werde ich die Mütter hoffentlich noch lehren. – Und wenn ich mit dem Dornenkranz schreiten müsste, würde ich keines dieser widerwärtigen Tiere mehr an mich heranlassen“, knirschte sie noch, sich abwendend, zwischen den Zähnen.

Ayiah würdigte sie keiner Antwort und ging weiter.

Und hier ruhte sie nun, rücklings ausgebreitet auf dem Lager im Hort der Em­pfängnis und wartete bebenden Herzens. Links von sich verspürte sie, wie feucht und modrig die Kälte aus dem Brunnen kroch. Zu ihrer Rechten öffnete die Hitze eines der Feuer, die rings um die Mauern entfacht worden waren, die Poren ihrer Haut und sie fühlte die blanken Tropfen zwischen ihren Brüsten herunter rinnen. Unter ihr widerhallte der Lehmboden dumpf von den Schritten der Schamaninnen, die noch letzte Verrichtungen vornahmen. Über ihr erschloss sich die unendliche Weite des Himmels der vollen Mondin, deren Präsenz sie durch die Öffnung des Daches deutlich zu spüren vermeinte.

Ayiahs Gefühle schwankten zwischen bewusster Abwehr und unterschwellig ziehender Erwartung. Ihr Plan war völlig widersinnig. Was tun, sollte sie Lust empfinden? Sie würde das Gegenteil von dem bewirken, was sie gedacht hatte und sich zumindest in Gedanken noch enger an Brachvogel binden. Doch gab es kein Zurück. Alles war gerichtet. Die Schamaninnen hatten sie entkleidet und in weite Tücher gehüllt, die auch ihr Gesicht bedeckten. Sie hatten ihr das Geschlecht mit Öl gesalbt, auf dass keine schädliche Reibung entstehe. Mühsam übte sie sich in Geduld.

Da betrat jemand den Hort. Das musste er sein. Sie vernahm das Rascheln eines zu Boden fallenden Kittels. Wasser plätscherte in einer Schüssel. Eine Drehleier setzte ihren Sang ein. Eine Besinnung wurde vorgetragen. Dann spürte sie, wie er vor sie hintrat. Nur mit äußerster Willensanstrengung widerstand sie dem Drang, sich das Tuch vom Gesicht zu reißen und ihm in die Augen zu blicken. Sie verharrte, um endlich auf das leise Geheiß einer Schamanin ihre Schenkel zu öffnen und sich vor Erregung bebend seinen Blicken preiszugeben.

Dismatched: View und Brachvogel

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