Читать книгу Dismatched: View und Brachvogel - Bernd Boden - Страница 14
System / ClockedCounter / Update_567 / Takt_19.870.261
Оглавление„Geckos kleben löst die Traumerinnerung.“
unbekannter Oneironaut
Eng mit dem Gesicht zur Wand ihres Hexagons hin gekauert hockte die Citizen, das linke Bein ausgestreckt und das rechte unter ihrem Gesäß angewinkelt, hinter einer Ecke ihres ManagingDesks; einem der beiden toten Winkel, die nicht vollständig von ihrem MatchingEye eingesehen werden konnten. Vergaußt, sie hasste es, sich derart zu verrenken, aber es war nötig, denn so waren Hinterkopf, linkes Bein und linke Schulter gut sichtbar und solange die Kameralinsen ihres Eyes nicht mehr als 70 Prozent ihrer Körpermasse aus dem Focus verloren, würde kein Alarm ausgelöst werden. Ihre rechte Seite aber war verdeckt und in der gewölbten linken Hand fast verborgen umklammerte sie ein kleines Gadget, das sie mit der rechten hektisch bearbeitete.
Lalic4j8 oder Esther, wie sie in Kreisen der Oneironauten genannt wurde, bereitete sich auf ihren ersten Außeneinsatz vor. Das Gadget, das sie in der Linken barg, war ein DreamKey, eine HackWare, mittels derer sie ihr Drittes Auge auf Traumzeit umstellen würde. Über entsprechend segmentierte und manipulierte Kopien von automatisch aufgenommenen Recordings der MatchingEyes war es den Oneironauten gelungen, sich einen Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen sie von den omnipotenten Agenten des Systems unbeobachtet agieren konnten: die Traumzeit. Sie hatten für jeden „Nauten“ ein umfangreiches und äußerst aufwändig gestaltetes Set von Fake-Schleifen entwickelt, die in sein Eye eingelesen werden konnten und ihn, während er einer subversiven Tätigkeit nachging, in unverfänglichen Situationen zeigten. Neben Modulen, die auf der üblichen Alltagsroutine des jeweiligen Nauten aufbauten, gab es auch etliche, RedAlertFakes genannte Settings, die eingesetzt werden konnten, um in kritischen Situationen der individuellen Überwachung eines MatchingEyes zu entkommen.
In der Regel provozierte es einen Alarm und den sofortigen Zugriff des Systems auf den Echttaktspeicher eines Eyes, der den synchronen Stream der Aufzeichnung enthielt, wenn die im Blutkreislauf der Citizens zirkulierenden Nanobots eine sprunghafte Veränderung ihres Körperstatus meldeten. Und da die Aktionen der Oneironauten meist mit aus dem Mittel fallenden Ortswechseln und hoher innerer Anspannung und Aufregung verbunden waren, manipulierte der Traumzeit-Hack neben dem Recording auch das GeoTracking und die Körperstatusdaten.
Esther, die inzwischen derart aufgeregt war, dass sie neben ihrem hämmernden Puls förmlich zu spüren vermeinte, wie auch ihr Blutdruck kontinuierlich anstieg, war sich sicher, dass sie jetzt unausweichlich einen Alarm ausgelöst hätte, würden ihre Körperstatusdaten nicht durch den Hack künstlich unterhalb einer unbedenklichen Schwelle gehalten. Um einen Alarm zu verhindern, hatte sie wohlweislich auch schon lange im Vorfeld, bevor sie ihren DreamKey zur Hand genommen hatte, damit begonnen, ihre Nervosität mit speziellen Atemtechniken einzudämmen.
Sie musste ihre Aktion im Rahmen eines großzügig gepufferten Zeitfensters planen, das zwischen den RetrievalPoints lag, an denen das System die für die dauerhafte Archivierung bestimmten Daten aus dem Zwischenspeicher ihres Eye abrief; Takt 43.200 und 86.400. Da das System alle seine stationären und mobilen Agenten als unmittelbare organische Verlängerung der eigenen Hardware betrachtete, liefen die Eyes in der Zeit zwischen den RetrievalPoints völlig autonom. An den RetrievalPoints aber wurde ein Sicherheitsstatus gezogen und dazu ein Monitoring sämtlicher in die Software eines Eyes implementierten Parameter vorgenommen. Es war nahezu unmöglich, eine Fake-Schleife über einen solchen Abfragepunkt hinweg aufrecht zu halten, ohne dass der Hack entdeckt werden würde. Esthers Aktion sollte Takt 72.000 starten und maximal 3 MacroTakte dauern; sie würde also genügend Takt haben, bis das System am nächsten RetrievalPoint die zu archivierenden Daten von ihrem Eye abzog.
Sie konnte aber nicht einfach voraussetzungslos eine Fake-Schleife einspielen, sondern musste dazu vielfach äußerst knifflige Übergangs- und Anschlussstellen einnehmen, um die Schnittstellen, an denen der Fake beginnen und enden sollte, mit dem automatischen Recording ihres Eyes zu synchronisieren. Je nahtloser Fake und Recording ineinander übergingen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Fake nicht aufflog. Aus diesem Grund begann und endete jede Fake-Sequenz mit einem statischen Setting, das die bewegungslose Esther isoliert von anderen Citizens vor einem Hintergrund zeigte, der sich nicht veränderte. Die Position, die sie dazu jeweils als Anschlussstelle während des automatischen Recordings einnahm, musste mit den Einstellungen des jeweiligen Fakes deckungsgleich sein.
In Bezug auf Sequenzen, die in ihrem Hexagon spielten, war die Erstellung solch eines passenden Kongruenzsettings kein Problem. Wollte sie dagegen ihr Eye außerhalb ihrer 6 Wände zu einem Ausflug in die Traumzeit überreden, war dies schon schwieriger. Das Andocken einer Fake-Schleife an ein Außensetting war immer dann erforderlich, wenn sie zu einer Aktion auf einem weiter entfernten Ground aufbrach oder zu einer Traumsitzung im Refugium der Oneironauten eingeladen war, das in den Katakomben unter GroundZero lag. Es war in jedem Fall sicherer, die Dauer einer Fake-Schleife so kurz wie möglich zu halten. Auf dem Weg zu einer Traumsitzung fuhr sie also zunächst unter den wachsamen Augen ihres Eyes zu einer auf GroundOne gelegenen Station der AntiGrav, die sich dadurch auszeichnete, über mehrere tote Winkel zu verfügen, in deren Schutz sie ihren DreamKey entsprechend der aktuell vorgefundenen Situation programmieren konnte. Wenn sie dann eine geeignete Ausgangsposition einnahm, an der sie das Recording ihres Eyes auf eine Fake-Schleife umstellen konnte – beispielsweise eine Shoppingtour, die just an dieser Station der „Grav“ begann –, musste sie darauf achten, dass weder andere Citizens noch der Stream eines InfluenceBoards oder hinter ihr dahingleitende Cabs in den Focus ihres Eyes gerieten. Um hier den richtigen Moment abzupassen, war es erforderlich, ständig den Überblick zu behalten und dann blitzschnell zu reagieren. Zu ihrem großen Bedauern hatte Esther schon so manche Sitzung ausfallen lassen müssen, weil sich mindergauß keine passende Gelegenheit ergeben hatte, ihre Position entsprechend freizustellen. Alle Fake-Schleifen endeten immer in ihrem Hexagon, so dass zumindest hier keine Schwierigkeit bestand, den Fake wieder in das normale Recording zu überführen.
Da ihre aktuelle Aktion sie nicht so weit weg führen würde, startete sie die dafür erforderliche Traumzeit von ihrem Hexagon aus und wählte eine Szene, die sie auf ihrem RestBoard liegend zeigte, während sie Musik hörte und daran anschließend dokumentierte, wie sie noch etwas Housekeeping erledigte, sich danach in ihrer Nasszelle mit einer üppigen Ganzkörperaquamassage für ihre Ruhephase fertig machte und sich dann auf ihr RestBoard legte. Der Fake lief exakt 3 MacroTakte, so dass sie sich gegen Takt 82.800 wieder in ihrem Hexagon einfinden musste. Den Beginn der Schlafsequenz würde sie zeitlich auch noch etwas strecken können, so dass sie noch einen Puffer hatte, sollte ihr etwas dazwischenkommen und ihre Aktion länger als geplant dauern.
Nachdem Esther ihren DreamKey entsprechend programmiert hatte, verbarg sie ihn so in ihrem Suit, dass sie den Startbutton durch den Stoff hindurch ertasten und betätigen konnte und arbeitete sich wieder hinter ihrem ManagingDesk hervor. Dann fuhr sie ihr RestBoard aus, legte sich rücklings ausgestreckt flach darauf und positionierte die linke Hand direkt an dem Button ihres DreamKeys. Diese Körperhaltung entsprach genau dem Eingangssetting der Fake-Schleife, die sie gewählt hatte. Per VoiceResponse schaltete sie ihre SoundSpheres ein und wählte den Anfang von „We all march to the Middle“, das dann auch in ihrer Fake-Schleife einsetzen würde.
Im Grunde aber war ihr die Musik völlig egal. Im Grunde war auch ihr Leben unter dem MatchingEye völlig egal: ein Fake. In ihrem Job – sie war JuniorAdvisor bei einem der Betreiber der groundgebundenen AntiGrav – im OmniNet und den MatchingSessions verhielt sie sich wie eine Citizen, die begeistert Angebote wahrnahm und ihre Wahlmöglichkeiten nach allen Maßgaben ihres BuyingGuards voll ausschöpfte. Sie verkörperte die exakte abstrakte Mitte einer völlig ebenmäßigen Gaußkurve auf zwei Beinen: Sie war immer, im Rahmen einer jeden Wahl, einer jeden Kategorisierung und zu jedem Takt absolut und zu 100 Prozent gemittelt. Ihr wirkliches Leben aber spielte sich in der Traumzeit ab.
Jetzt dreimal tief durchatmen und dann vorsichtig, so, als würde sie sich kratzen, den Button ihres DreamKeys drücken. Ein leichtes Vibrieren bestätigte ihr, dass ihr Hack geglückt war: Traumzeit! Es hatte immer etwas aufregend Befreiendes, dem alles durchdringenden Blick des Dritten Auges entronnen zu sein. Im Grunde genommen konnte sie jetzt alles tun, was sie nur wollte, ohne befürchten zu müssen, reglementiert und von ihren sogenannten Mates in die zermürbende Routine eines MatchingLoops gezwungen zu werden, um wieder „gemittelt“ zu sein. Aber natürlich wäre es völlig verfehlt, die Traumzeit für irgendwelche mindergaußen Aktionen zu nutzen, dazu war sie den Oneironauten und allem, was sie mit dem Erlebnis des Träumens verband, viel zu sehr verbunden und verpflichtet. Denn nicht die Überlistung der Eyes und die Einleitung der technischen Traumzeit war es, worum es wirklich ging, sondern um das Träumen als solches. Ihr ganzes Bestreben drehte sich um das, was die Traumzeit an der Erfüllung naiver Neugier, grenzenlosen Hoffnungen, ziehenden Sehnsüchten, an neuem Erleben, tiefem Empfinden und ja – überwältigenden Träumen – bereithalten mochte.
Sie erinnerte sich noch sehr eindrücklich daran, wie es gewesen war, als sie zum ersten Mal die Erfahrung gemacht hatte zu träumen. Irgendwie war sie damals schon lange von dem deprimierenden und verflachenden Gefühl niedergedrückt worden, dass sich ihr Leben in einer endlosen Schleife der immer gleichen Routinen erschöpfte. Alles und jedes war berechnet, vorherbestimmt und absehbar. Ihr ganzes Leben war gemäß den Anträgen des Systems durchgetaktet und von den Mittelungen der Agency of SocialTechnology und den MatchingLoops ihrer Mates fixiert wie die auf Nadeln gespießten Urinsekten in ihren durchsichtigen ConservationBoxes, die sie einmal bei einem Besuch im AnimalDrom gesehen hatte. Jeder Tag begann auf die gleiche Weise, verlief auf die gleiche Weise und endete auf die gleiche Weise. Die wenigen Veränderungen, die sie erlebt hatte, zeichneten sich schon, lange bevor sie eintraten, mit exakt quantifizierbarer Eintretenswahrscheinlichkeit und Sicherheit ab, so dass sie sich, wenn sie dann gemäß sämtlicher Anträge des Systems und nach allen Regeln der Agency gemittelt umgesetzt waren, nicht nach etwas Neuem anfühlten, sondern nur als fade Fortsetzung der üblichen Routine. Es war, als liefen die im Mittel erwartbaren 95 MajorTakte ihres Lebens wie auf einem schnurgraden String der AntiGrav reibungs- und ereignislos ihrem gemittelten und erwartbaren Ende entgegen. An diesem Gefühl konnten auch die megagaußen Events und die stetige Flut von Produktinnovationen und neuen Services nichts ändern, die ihre Mates taktauf und taktab im OmniNet diskutierten, kategorisierten, wählten und rankten.
Doch eines Morgens war sie erwacht und hatte die Ahnung von etwas völlig anderem in sich gespürt. Sie war nicht wie sonst vom Sinuston ihres Morpheustrons aus ihrer Ruhephase gerissen worden, sondern irgendwie allmählich von selber aus dem Schlaf in den Tag geglitten. Neben der Tatsache, dass ihr „Tron“ offensichtlich einen Defekt hatte und der völlig ungewohnten Befürchtung, vielleicht zu spät zum Job zu kommen, drängte sich ihr da noch etwas anderes auf. Was war da? Was streckte da aus dem Schlaf völlig unbekannte Fühler nach ihr aus? Sie sprang nicht wie gewohnt gleich auf, sondern rührte sich nicht, blieb einfach liegen und spürte intensiv nach. Zunächst nahm sie nur Äußerliches wahr: Das Gewicht ihres ausgestreckten Körpers auf dem RestBoard. Die Decke, die etwas über ihren aufgerichteten Zehen spannte. Ein leichtes Jucken an der Nase, aber nicht so stark, dass sie sich hätte kratzen müssen. Das Licht, das schräg durch das Bullauge ihres Hexagons fiel. Allmählich drang sie tiefer. Da war die sachte Empfindung von etwas, dass sie während ihrer Ruhephase erlebt hatte. Wie konnte das sein? Sie hatte nur wie immer auf ihrem Board gelegen und ihre sieben MacroTakte dauernde Entspannungsphase durchgeführt, um ihre Ressourcen für den nächsten Tag wieder aufzuladen. Nicht mehr und nicht weniger. Da war sonst nie etwas. Doch heute war es anders.
Domescraperhoch war sie in der Luft gewabert. Über eine Landschaft geschwebt. Über Berge, Täler, Flüsse und mit Wäldern bestandene Ebenen, die es so in der Urb nicht gab. War gemächlich in unterschiedliche Höhen mäandriert. Hatte windbrausende Geschwindigkeit aufgenommen, bis die Konturen der Welt unter ihr verschwammen. Sich verlangsamt, bis die Luft zu einem leichten Säuseln wurde und sich jedes Detail unter ihr scharf stellte. Ganz wie es ihr beliebte. Ein grenzenloses Glücksgefühl war in ihr aufgestiegen. Sie durfte aber nicht zu hoch fliegen. Einen bestimmten Abstand zum Untergrund nicht überschreiten. Sonst hätte es sie weggerissen. Das taxierende Spiel mit der Gefahr der Grenze rief ein unbekanntes, prickelndes Kitzeln in ihrem Bauch hervor. Als sie sich lustvoll zwischen Höhen und Tiefen eingeschwungen hatte, fühlte sie, wie sie sich im schwerelosen Dahingleiten auflöste. In der unbekannten Landschaft, die unter ihr vorbeizog. In der Bläue des unendlichen Himmels, die sie trug. Und doch war sie völlig auf den innersten Kern ihres Selbst konzentriert gewesen.
So sehr sie auch versucht hatte, das Empfinden festzuhalten, verblasste es allmählich vor der Folie des sich unabwendbar aufdrängenden Alltags und sie war unendlich traurig, dieses unglaubliche Gefühl zu verlieren. Doch gelang es ihr, einen Abglanz davon festzuhalten und in ihren Tag hinüberzuretten.
In den nächsten Takten hatte sie dann immer wieder solche Erlebnisse und war völlig von diesen Zuständen vereinnahmt worden. Je mehr sie lernte, ihre Erfahrungen zu konkretisieren und sich bewusst zu machen, desto mehr schienen sie ihr einen Ausweg aus der endlosen Tristesse ihres Alltags zu bieten.
Was genau es mit dem Träumen auf sich hatte, sollte sie erst viel später von den Oneironauten erfahren. Vorerst hatte sie das, dem sie nach so mancher Ruhephase nachspürte, für sich als „aus dem Takt gefallen sein“ bezeichnet.
Nachdem sie ihr Eye unschädlich gemacht hatte, rollte sich Esther ihre EmptyFace-Maske über Kopf und Gesicht und zupfte sie solange zurecht, bis sie an Ohren, Augen, Nase und Mund richtig anlag. Die Iris ihrer auffallend grünen Augen verbarg sie hinter dem Hypergel grauer Kontaktlinsen. Zwar spannte die Latexhülle zunächst unangenehm auf ihrem Schädel, doch ertrug sie dieses Gefühl von Enge und Abgeschnürtsein in der Hoffnung, sich frei bewegen zu können, ohne erkannt zu werden. Sobald die Gesichtsfolie Körpertemperatur angenommen hatte, würde sich das ohnehin geben. Die Maske war auf der Grundlage der übereinstimmenden Merkmale der MimikScans hunderter Citizens entwickelt worden, so dass ihr Ausdruck so glatt und nichtssagend war, als wäre ihre Trägerin unsichtbar. Wahrscheinlich würde sich niemand an sie erinnern, auch wenn er ihr stundenlang gegenübergesessen hätte. Hier wurde Mittelung eingesetzt, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, pflegte Kassandra, die Seherin ihrer Sektion der Oneironauten, zu sagen.
Als Esther aus ihrem Hexagon in den CircuitWalk ihres Habitats trat, endete das Gefühl der Freiheit abrupt, das sie nach der Deaktivierung ihres Eyes überkommen hatte. Sie konnte die Linsen der überall montierten stationären Aufnahmeeinheiten, der in den Gängen zirkulierenden mobilen Drohnen und der MatchingEyes, die über den Köpfen der anderen Citizens schwebten, wie zudringliche Blicke, die ihren Körper abtasteten, fast körperlich spüren. Sie war hoch nervös. In dem abgeschirmten Refugium der Nauten in der Mnemosyne-Lösung im Tank zu liegen und seine Träume zu analysieren, war etwas völlig anderes, als in aller Öffentlichkeit gegen das System aktiv zu werden. Sie war die allgegenwärtige Beobachtung und Überwachung so gewohnt, dass sie sich nur schwer vorstellen konnte, direkt unter den Augen des Systems MorpheustronDisrupter zu positionieren.
Auf dem Weg zum Lift kam ihr einer ihrer FirstMates entgegen, Greve2m8, mit dem sie die UniqueSchool besucht hatte und dessen Hexagon ein Stück den CircuitWalk hinunter lag. Wie sie während der Mittelungen der letzten MatchingSessions erfahren hatte, war Greve seit Neuestem Anhänger des RhythmClimbing, eines von CreativeClimb.Inc. massiv auf allen Kanälen des OmniNet forcierten neuen Trends. Hier erklomm man zum Takt eigens kompilierter Klangfolgen Kletterwände und gruppierte sich dabei mit weiteren Climbern zu Teams, die jeweils synchron die Bewegungen anderer Teams widerspiegelten. Das Ganze gipfelte dann in einer symmetrisch schwingenden Aufwärtsbewegung der Teams aller Beteiligten. Mit dem ihm eigenen Sendungsbewusstsein für seine Marken wurde Greve nicht müde, seinen Mates die MovingPics der so entstehenden LevitationChoreografien zu promoten, um neue Anhänger für seine aktuelle Obsession zu werben. Im Gegensatz zu Esthers SocialScore war der seine kein Fake, denn Greve setzte voll auf die Empfehlungen seines BuyingGuards und folgte den aktuell gaußen Marketing-Trends wie ein MatchingEye seinem Citizen, ohne dabei zu merken, dass der absolut ultimative Thrill ständig immer wieder aufs Neue versprochen wurde. Im Grunde schien das eigentlich auch sonst niemand zu bemerken.
Greve kam von seinem Job als DataAggregator bei der MatchingAdministration und würde wohl gleich wieder zu einer ClimbingSession aufbrechen. Wahrscheinlich kam sie, um den Schein zu wahren, nicht darum herum, sich demnächst ebenfalls an einer dementsprechenden Kletterwand abzustrampeln. Da sie ihrem Mate jetzt nicht mehr ausweichen konnte, wollte sie ihn schon grüßen und wie immer ihren unverbindlichen Smalltalk abspulen, der unter Beweis stellen würde, in welch hohem Grad sie gemittelt war und interessiert an allen aktuellen Trends teilnahm und natürlich auch die gaußen Moves seiner RhythmClimbings verfolgte, als ihr die leichte Spannung auf ihrer Gesichtshaut ins Bewusstsein rief, dass sie ja ihre Maske trug. Greve ging an ihr vorbei, als wäre sie unsichtbar. Esther atmete auf. Ganz offensichtlich erfüllte ihre Gesichtsfolie ihren Zweck und es würde schon alles gut gehen. Etwas zuversichtlicher betrat sie den Lift, der sie nach kurzer Fahrt in das Basement ihres Habitats entließ. Es war exakt Takt 72.000.
Auf dem MainWalk zwischen den Habitaten herrschte Feierabendstimmung. In den Kuppeln der Domes war die Abendanimation angebrochen und die über ihr auf den Strings der AntiGrav dicht an dicht dahinschwebenden Cabs kurvten lange Lichtschleifen in den künstlichen Himmel. Die spiegelnden Fassaden der umliegenden Habitate, OfficeTower und ShoppingCenter strahlten in antiseptisch klaren Komplementärfarben. Über der in der Mitte des Grounds ragenden Dependance von Pear.Inc. kreiste das dreidimensionale SculptureLogo in Form einer riesigen Birne, über die in weithin sichtbarer Schrift ständig wechselnde Werbebotschaften liefen. Andere Anbieter mit geringerer Marktmacht mussten sich damit begnügen, ihre Werbung auf flachen Boards zu streamen, die Esther deswegen aber als nicht weniger aufdringlich empfand, weil sie überall ihr Blickfeld infiltrierten. Immerhin sah sie ab und an auch die Botschaft der Oneironauten aufblitzen: „Dein Schlaf gehört dir!“ Sie war dankbar, dass die Beschallung mit Entspannungsmusik, die den rekreativen Flow der Citizens anregen sollte, gerade ausgesetzt hatte.
Den olfaktorischen Angeboten der Hersteller von BodyCare-Produkten konnte sie dagegen nicht entgehen. Den gesamten Walk entlang waren SmellJets angebracht, die je nachdem, welche Gruppe von Citizens gerade an ihnen vorbeizog, die zu ihrem gemittelten Einkaufsprofil passenden Düfte emittierten. Sobald die nächste Gruppe nahte, wurde der aktuelle Geruch neutralisiert und von einem neuen überlagert. Da Esther nicht wie alle anderen in einer Gruppe, sondern alleine unterwegs war, registrierten die Sensoren der Jets sie als nicht kaufkräftig genug, und sie schwamm in einer Wolke ständig wechselnder penetranter Gerüche.
Die Citizens, die zu Fuß oder in Pulks von Hovern den MainWalk bevölkerten, strebten zu den MarketingEvents, den PromoShows der HoloCines, in die SensualCaves, die GameMiles, die BodyPower-Center oder in eines der zahlreichen LoveGyms, die auf dem JoyCircle des Grounds lagen. Die aktuell gaußen Farben, Outfits, Gadgets und Accessoires wurden zur Schau getragen. Direkt vor Esther produzierte sich eine Gestalt in den grellsten CoatingColours, die dort, wo sie direkt auf der Haut auflagen, je nach Veränderung des Hautwiderstands anders changierten. Und mit freier Haut geizte die Citizen nicht; wahrscheinlich war sie auf dem Weg in ein LoveGym. An beiden Handgelenken trug sie AeroFlats, die sie synchron bediente. Da Esther aus ihrem Blickwinkel die Projektionsfläche der Flats nicht wahrnehmen konnte, sah es aus, als tippe die Citizen mit beiden Händen in der leeren Luft herum.
Sie entdeckte etliche SecurityCorps in ihren charakteristischen grauen Carbonharnischen in der Menge. Sie hatte weder gesehen noch davon gehört, dass ein SecCorp jemals seinen Paralysator eingesetzt hätte, doch gewiss gab es eine vom Board of PredictiveProfiling auf der Basis welcher Parameter auch immer ausgewiesene Korrelation, dass pro Menge X Citizens in Feierabendlaune ein ganz bestimmter Prozentsatz von Y SecCorps zu patrouillieren hatte. Und wahrscheinlich war dieser Prozentsatz auf der nach oben offenen Sicherheitsskala eher zu hoch als zu niedrig angesetzt.
Die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, drehten sich um neue und alte Marken, neue und alte Trends und darum, ob der Relaunch ehemaliger Kulttrends wohl greifen würde. Es wurde heftig darüber diskutiert, wann welcher Anbieter welche Innovation auf den Markt bringen könnte oder würde. Es ging darum, wer, was schon angetestet oder länger in Gebrauch hatte und wer, wem, was empfehlen konnte. Es ging darum, ob das eigene Psychogramm oder der Kauftrend seiner SocialUnit mit bestimmten Produkten oder Services kompatibel war und was die BuyingGuards dazu zu sagen hatten. Und natürlich ging es um die Abweichungen von Mates, die einem MatchingLoop unterzogen worden waren.
„Kennt ihr Mea7y2? Der ServiceTrend ihrer SocialUnit geht signifikant in Richtung Convenience-Food. Die rühren in ihrer Küche keinen Finger, bestellen sich alles fertig ins Habitat. Übrigens soll da PleasureMeal.Inc. gauße Sachen haben. Die erwärmen sich, nachdem du die Folie aufgerissen hast, durch die Zufuhr von Sauerstoff von selbst. Aber egal. Jedenfalls fing diese Mea auf einmal an, selber Sachen zu kochen. Also ich hätte das ja nicht essen wollen. Und was soll das überhaupt? Entweder ich bin in einer Unit, die kocht oder in einer, die Fertiggerichte mag. Und wenn man unterschiedliche Fertiggerichte mag, ist das ja auch in Ordnung. Produktvielfalt soll ja sein. Aber so was? Wie will die je mit ihrem BuyingGuard klarkommen und durch eine einigermaßen stringente Einkaufsbiografie ihr Psychogramm optimieren, wenn sie gegen den Trend der eigenen Unit angeht und sich in solch grundlegenden Merkmalsausprägungen nicht mit ihren Mates matcht?“
Esther wandte sich ab. Sie konnte und wollte das alles nicht mehr hören. Früher war es auch für sie megagauß gewesen, völlig in dieser kurzlebigen und oberflächlichen Welt des Marketing im künstlichen Kosmos der Produkte aufzugehen. Doch nach ihrem ersten Traum war sie immer öfter „aus dem Takt gefallen.“ Was geschah mit ihr? Woher kamen diese Bilder, Gefühle, Eingebungen, Eindrücke und Gesichte, die sie stärker berührten als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hatte? Je intensiver sie die verlockenden Verheißungen ihre Träume umschmeichelten, desto eindrücklicher setzte sich die Ahnung in ihr fest, hier aus völlig unbekannten Tiefen von etwas berührt zu werden, das sie weiter bringen würde, als sämtliche gaußen Trends, Produktinnovationen und lebenserleichternden Services zusammen. Die Jagd von Innovation zu Innovation glich immer mehr einem auf Hochtouren betriebenen Leerlauf. Als sich die Erfahrung des Träumens dann verstetigte und es ihr gelungen war, ihre Traumbilder bewusst festzuhalten und mit ihrem Alltag zu kontrastieren, war in ihr die Erkenntnis gereift, dass ihr Bestreben, immer im signifikanten Trend ihrer SocialUnit mit zu schwimmen, ihr zwar ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelte, sie letztlich aber dazu verurteilte, auf der Stelle zu treten. Die Mittelung nahm ihr nicht nur die Verantwortung, eigenständig zu sich selbst zu finden, sondern verstellte ihr ganz grundsätzlich den Weg dazu.
Diese Einsicht ging mit einer existentiellen Verunsicherung einher. Da sie mit niemandem über ihre Träume und die Irritationen, die sie in ihr auslösten, reden konnte, fühlte sie sich zunehmend getrieben, Votings abzugeben, Wahlen zu treffen und Kategorisierungen vorzunehmen, die von ihrem bisherigen Verhalten und vom Mittel ihrer SocialUnit abwichen. Immer öfter wurde sie von ihren Mates in MatchingLoops eingebunden und ehe sie sich versah, drohte sie völlig abzudriften, ohne jedoch den neuen Weg, den ihr ihre Träume zu weisen schienen, konkret beschreiten zu können.
In dieser Situation waren die Oneironauten an sie herangetreten und sie war glücklich gewesen, endlich eine Orientierung gefunden zu haben und hatte sich, mit allem, was ihr noch geblieben war, auf die Vision der Traumzeit eingelassen.
Neben dem Träumen und der nun von berufener Seite angeleiteten Beschäftigung mit ihren Gesichten erfuhr Esthers Leben durch die Oneironauten eine weitere Bereicherung: Bücher lesen! Die ihr von den Oneironauten zugänglich gemachten alten Bücher aus der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus zu lesen, erwies sich als pure Wonne für ihr vom Marketing schaler Angebote ausgetrocknetes Herz. Die Botschaften, die ihr längst vergangene Menschen ins Hirn raunten, deren Schicksal noch nicht dem unerbittlichen, alles Lebenswerte verdrängenden Systemtakt überantwortet war, erschlossen ihr Welten, die denen, derer sie im Traum teilhaftig wurde, in nichts nachstanden. Esthers bevorzugte Fake-Schleifen in die Traumzeit waren Auszeiten des Lesens und sie arbeitete nun bewusst daran, ihrem Gefühl, „aus dem Takt gefallen zu sein“, eine konstruktive Richtung zu geben. Wenn sie las oder wie die antike Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, im Refugium der Oneironauten der gleichnamigen Salzwasserlösung des Traumtanks entstieg – „etwas entsteigen“, auch so ein Wort, das sie im Lesen kennen gelernt hatte – erfuhr sie Dinge über sich und das Leben, die ihr unter dem Diktat der Mittelung nie zugänglich geworden wären.
Wie betonte Kassandra immer:
„Das stählerne Gehäuse hundertprozentiger Berechenbarkeit und Sicherheit betrügt uns um jede Möglichkeit herauszufinden, wer wir wirklich sind und vor allem, wer wir sein könnten. Die Mittelung stutzt unser Potential auf konfektionierbare Normgrößen zurück und die allgegenwärtige Beobachtung durch die Agenten des Systems legt sich wie Mehltau über unser Leben. Erst Träume zu träumen und Bücher zu lesen öffnet uns die Pforten zu unserem wahren Sein.“
Die ersten Generationen von Citizens in den Anfängen der Urb hatten noch Bücher gekannt und sie hatten auch geträumt und sich an ihre Träume erinnert. Mit zunehmendem Erstarken des Systems aber war irgendwann der Punkt erreicht, an dem die meisten Bücher den systematischen Cleanings zum Opfer gefallen waren und die damals noch nicht mit den MatchingEyes verschmolzenen Morpheustrone die Erinnerungen an die nächtlichen Träume flächendeckend abgeschnitten hatten. Einige Generationen weiter hätte der bei weitem überwiegende Teil der Citizens auf die Frage, was sie gerade lasen oder ob und was sie letzte Nacht geträumt hatten, mit völligem Unverständnis reagiert.
Doch waren das Träumen und seine Symbole viel zu tief im evolutionären Erbe und dem kollektiven Unbewussten der Menschen verwurzelt, als dass sie innerhalb weniger Generationen unter dem Takt des Systems hätten ausgerottet werden können. Und so konnten die Morpheustrone nicht das Träumen als solches verhindern, sondern lediglich die Alphawellen stören, die zwischen den unbewussten und bewussten Hirnarealen der Träumenden vermittelten, und so einen undurchsichtigen Firnis über die Träume legen, der die morgendliche Erinnerung daran verblassen ließ. Diesen Firnis zu zerreißen, hatten sich die Oneironauten zur Aufgabe gemacht.
Citizens, die sich am System vorbei mit dem beschäftigten, was sozial nicht erwünscht und unter dem Systemtakt nicht möglich war, hatte es natürlich immer schon gegeben und es ließ sich im Detail nicht mehr nachvollziehen, wann und wie die Gruppierung der Traumschiffer konkret entstanden war. Lange Zeit waren die Oneironauten lediglich ein mehr oder weniger loser Zusammenschluss von Citizens gewesen, die unter welchen Umständen auch immer, Bücher gefunden und gelesen hatten oder den Manipulationen der Morpheustrone nicht erlegen waren und sich an ihre Träume erinnern konnten. Es gab Citizens, die im Kreise weniger eingeweihter Mates mit ihren Traum- und Leseerlebnissen kokettierten, für die ein Traum oder ein Buch aber letztlich ein Angebot unter vielen war, das ihnen nicht mehr bedeutete als ein Besuch in den SensualCaves oder im LoveGym. Es waren aber auch echte Outcasts darunter, die sich, völlig fasziniert von der neuen Welt, die sich ihnen da erschloss, gänzlich vom System losgesagt, ihr MatchingEye deaktiviert hatten und als Solisten dauerhaft in den Untergrund abgetaucht waren.
Mit der unaufhaltsam fortschreitenden Entfremdung der Menschen von ihren Ursprüngen war in diesen Kreisen dann zunehmend das gesellschaftliche Potential von Büchern und Träumen in den Focus geraten und allmählich hatten sich die Oneironauten zu einem organisierten Widerstand gegen das System, die Überwachung und die Mittelung formiert. Tief unter der Sohle von GroundZero, der natürlichen geologischen Basis, auf der die gigantischen Pylone gründeten, die die 32 Grounds der Urb trugen, in den Tunneln, Gängen, Röhren und Kavernen uralter Versorgungs- und Ableitungssysteme, war das Refugium entstanden, von dem aus die Oneironauten ihren Widerstand planten und umsetzten.
An Esthers Aktivität in den Reihen der „Nauten“ war indes nichts Umstürzlerisches. Sie war es gewohnt, allnächtlich mit ihrem DreamKey die Funktion ihres „Trons“ zu überlagern, so dass sie sich an ihre Träume erinnern würde. Sie war es gewohnt, Bücher zu lesen. Sie wollte ihre tiefe Freude am Träumen und Lesen und die Fülle der Möglichkeiten, die sich ihr darüber eröffneten, an andere Citizens weitergeben. Sie wollte diesen Erfahrungen, die ihr der Schlüssel für eine sinnvolle Begründung ihrer Existenz zu sein schienen, nicht im Geheimen nachgehen müssen, sondern sie offen mit anderen Citizens teilen können. Vergaußt, was könnte nicht alles daraus erwachsen, wenn nicht mehr das Mittel, sondern jeder sein eigener Maßstab wäre? Wie würde es sein, wenn dann wie in Träumen und Büchern das Leben nicht mehr berechenbar wäre? Eine Vorstellung, die sie gleichermaßen ängstigte wie faszinierte. Letztlich aber hatte sie nichts zu verlieren. Seit sie Bücher las und sich an ihre Träume erinnerte, war ein Leben unter dem Takt des Systems nicht mehr lebenswert. Je mehr Citizens aus dem Takt fielen, umso besser konnten die Dinge nur werden. Und genau diesen Zweck verfolgte ihre aktuelle Aktion.
Esther war auf ihrem Ground eine Sektion zugeteilt worden, in der MorpheustronDisrupter positioniert wurden, die ihrerseits die Strahlung der Trone überlagerten und unschädlich machten. Damit sie unentdeckt blieben, waren Stärke und Reichweite der Disrupter eng begrenzt, doch würde sich in ihrem Einflussbereich, einem Radius von etwa 300 Meter, ein hoher Prozentsatz von Citizens an ihre Träume erinnern.
Die Disrupter waren so flüchtig wie die Träume selbst. Jeden Abend brachten wechselnde Nauten ihre Saat aus, die sich bis zum Morgen selbst zerstörte. Eine in jeden Disrupter eingekapselte Säure fraß sich innerhalb der Einsatzzeit von 8 MacroTakten durch eine Membran und löste die Elektronik restlos auf; zurück bleib nur eine unverdächtige Kunststoffhülle, wie sie für die Verpackung vieler EnergizerPops üblich war. Dabei störten die Disrupter nicht die Funktion der Morpheustrone, denn das hätte sofort einen Alert ausgelöst, sondern überlagerten lediglich deren Wellen, die verhinderten, dass sich die Citizens an ihre Träume erinnerten.
Strategie der Oneironauten war es, möglichst viele Citizens durch dauerhafte Traumerlebnisse derart zu irritieren und in MatchingLoops zu treiben, dass möglichst viele SocialUnits destabilisiert wurden. War hier dann eine kritische Masse von Dismatchten erreicht, die sich bewusst für einen DreamKey entschieden hatten, war das die Basis, um das System und seine Agenten lahm zu legen. Doch vorerst blieb das lediglich eine kühne Vision.
„Es gibt Träume, die uns in der Nacht widerfahren und über die Maßen staunen lassen. Diese begründen die Hoffnung auf ein besseres, menschengerechteres Leben. Und es gibt Träume, die den Stoff von Visionen bilden, die wir wahr werden lassen müssen, um auf diesem Fundament eine neue Gesellschaft zu errichten“, waren die Worte Kassandras.
Noch aber waren die Zellen aktiver Oneironauten dünn gesät und die Kapazitäten, die erforderlichen, immer größeren Mengen von Disruptern herzustellen, nahezu ausgeschöpft.
Wegen der geringen Reichweite musste Esther, um einen möglichst großen Einflussbereich abzudecken – und das wollte und sollte sie auch – viele Disrupter ausbringen. Die 50 Störeinheiten von der Größe einer Energizerpille, die sie mit sich führte, würden es etwa 2.500 Citizens ermöglichen, sich morgens über ihre Träume zu wundern. Um statistisch auffällige Häufungen von verändertem Verhalten innerhalb eines zusammenhängenden Gebietes zu vermeiden, wurden die Disrupter in zufallsbestimmten, weit auseinander liegenden Sektionen positioniert. Sie hatte also eine große Runde vor sich.
Damit ihr Weg nicht auf direkter Linie zurückverfolgt werden konnte, entfernte Esther sich langsam von ihrem Hexagon, wechselte ständig die Richtung, tauchte immer wieder in Gruppen von Citizens unter und fuhr dann eine Strecke mit der AntiGrav etwa in die Mitte ihres Operationsgebietes. Von hier ging sie sternförmig vor und arbeitete systematisch Cluster von Gebieten ab, die auf möglichst kurzem Wege zu Fuß, mit dem Hover oder der „Grav“ erreichbar waren. Auf dem CircuitWalk eines Habitats konnte sie mit wenigen Disruptern möglichst viele Citizens, die einander Face-to-Face kannten und zu einem hohen Prozentsatz sogar Mates ein und derselben SocialUnit waren, direkt in ihren Hexagons erreichen. Die Habitate waren die Hotspots, die Inkubatoren der Wandlung von der System- in die Traumzeit. In Geschäfts- oder Bürovierteln – viele Citizens übernachteten regelmäßig an ihrem Arbeitsplatz – war die Trefferquote dagegen geringer. Aber auch hier war die Streuung einer gewissen Quote von Disruptern sinnvoll, denn die Citizens, die nach einem langen Arbeitstag ihre knappe Ruhephase in einer der am Arbeitsplatz zur Verfügung stehenden NappingCells verbrachten, würden die Saat der Träume punktuell in sämtliche Bereiche des Grounds oder gar in die gesamte Urb tragen. Hier lag das Zufallsmoment der Wandlung, von dem sich die Oneironauten mit der Zeit eine exponentielle Weitung ihrer Aktivitäten versprachen.
Esther konnte ihre Disrupter nicht einfach irgendwo auslegen. Zu groß war die Gefahr, von einer Kamera erfasst oder einem Citizen beobachtet zu werden. Und würde ein Disrupter entdeckt, bevor er sich selbst zerstört hatte, musste das Untersuchungen nach sich ziehen, die die Oneironauten gefährden konnten. Deshalb waren die Disrupter auf molekularer Ebene nanotechnisch mit einer Haft- und Mimikryschicht ausgestattet. So hielten sie auf jedem Untergrund, nahmen Farbe und Textur jeder Oberfläche an und konnten mit einer knappen Handbewegung überall dort angebracht werden, wo sie nicht auffielen. Zwar waren sämtliche Oberflächen der Urb antiseptisch glatt und wiesen weder Simse noch Überkragungen auf, doch gab es an den Anschlusstellen von Verblendungen und Deckplatten immer wieder Dehnungsfugen, Ritzen und Spalten, in die die Oneironauten ihre Saat säen konnten.
Nachdem ein „Naut“ einmal im AnimalDrom beobachtet hatte, wie äonenalte Echsen, die, wie ihnen wohl vorgegeben war, auch den Finalen Kataklysmus überlebt hatten, senkrecht die Wände ihres Biotops hoch liefen und sich dabei der Farbe des jeweiligen Untergrundes anpassten, hatte sich für das Ausbringen von Disruptern der Begriff „Geckos Kleben“ eingebürgert. Und selbst die dumpfen Reptilienhirne der prähistorischen Echsen mochten Botschaften bergen, die der erstarrten Citizenship der Urb hilfreich sein konnten, die Fesseln von Mittelung und Marketing zu sprengen.
Mit einem Kreisumfang von 1.500 Metern bog sich jetzt vor Esther der gigantische Circuit des Wohnbereichs der School of PoliticalIndoctrination, an den die Hexagons von etwa 300 Anwärtern für eine Stelle bei der gleichnamigen Authority grenzten. Um psychologisch besser vereinnahmt werden zu können, wohnten diese in dem gleichen Gebäude, in dem sie auch trainiert und geschult wurden. Inzwischen hatte Esther erfolgreich 39 „Geckos“ für ihr nächtliches Treiben freigesetzt, sich beruhigt und würde wohl auch ohne die Fake-Schleife, die in ihrem Dritten Auge lief, keinen Alarm mehr auslösen. Sie war fast ausgelassener Stimmung: „Wohlan denn ... “ – das war eine Floskel, die sie in einem der alten Bücher gelesen hatte – „Geckos Kleben!“ Ihre kleinen Tierchen würden schon dafür sorgen, dass die angehenden „PolitIndocs“ morgen früh etwas zum Staunen hatten, das sie vielleicht von ihrem vorgezeichneten Weg abbrachte.
„In den Zeiten vor der Übernahme des Taktes durch das System konnten die Menschen ihres Lebens nie sicher sein.“
„Die Sicherheit aller dominiert die Freiheit Einzelner.“
„Berechenbarkeit bedeutet Sicherheit und Wohlstand durch stetigen Fortschritt. – Unberechenbarkeit bedeutet Bedrohung und Verelendung durch lähmenden Stillstand.“
„Hoher Innovationsdruck und steter Konsum sichern die Grundlagen unserer Citizenship.“
Mit den BadPastLessons, die die Urb im Lichte einer düsteren und bedrohlichen Vergangenheit als die beste aller Welten erscheinen ließen, und ihren rund um den Takt auf die InfluenceBoards gestreamten Indoctrinations, hämmerte die Authority die ideologische Grundlage für den Primat der Sicherheit durch Berechenbarkeit und Mittelung in die Köpfe der Citizens. Im Verbund mit der Agency of SocialTechnology war sie die mächtigste und einflussreichste Organisation der Urb. Gerade die zukünftigen „PolitIndocs“ verdienten es also, in ihrem Glauben an die Sinnhaftigkeit der Mittelung erschüttert zu werden.
Die waagerecht hinter einer Lichtleiste verlaufenden Anschlussfugen der Innenverkleidung des Circuits boten Esther eine gute Möglichkeit, ihre Disrupter anzubringen. Sie fischte einen Gecko aus ihrer Tasche und wischte dann wie beiläufig über den oberhalb der Lichtleiste angebrachten Handlauf, wobei sie ihr Tierchen von der flachen Hand verdeckt in die Fuge darunter drückte. Keiner der zahlreichen Citizens, die den Circuit bevölkerten, um das Habitat zu verlassen und sich auf dem JoyCircle des Grounds zu vergnügen oder in den höher gelegenen Stockwerken des IndoctrinationTowers eines der nächtlichen ImpressiveSeminare zu besuchen, schenkte ihr Beachtung und soweit sie aus dem Augenwinkel heraus beurteilen konnte, fokussierte sich auch keiner der oft aufdringlich näher rückenden mobilen Agenten des Systems auf sie. Am Morgen würde die Säure neben der Elektronik auch die Adhäsions- und Mimikryschicht der Disrupter zerstören, die Hülle herunterfallen und wie achtlos weg geworfener Abfall wirken. Den Rest würden die CleaningBots erledigen. Ausgezeichnet, ja, so würde es gehen!
Würde sie im Bereich der Einlassöffnung jedes fünfzigsten Hexagons einen Disrupter positionieren, hätte sie den gesamten Circuit abgedeckt und maximal 300 Citizens erreicht, die als zukünftige Member der Authority eine maßgebende Rolle in der Urb spielen würden. Im besten Fall wären die, denen Esthers Tierchen Träume zugewispert hatten, derart irritiert, dass sie diese Stelle gar nicht erst antreten würden. Es war mittlerweile schon Takt 79.450 und zu Fuß würde die Runde zu lange dauern. Esther wollte ihre Fake-Schleife nicht überdehnen und schwang sich auf einen Skater, um den Circuit zügig abzuarbeiten. Ohne Zwischenfall hatte sie ihre Traumfracht bald ausgebracht und verließ die School of PoliticalIndoctrination.
Ihr letzter Job war die Repräsentanz von Pear.Inc. Während alle Citizens in der Regel zu den CircuitWalks der Wohnbereiche von Habitaten freien Zugang hatten und es hier also relativ einfach war, Traumsporen zu säen, bestand bei den meisten Büro- und Geschäftsgebäuden das Problem, sich über einen RetinaScan authentifizieren zu müssen. Ganz besonders galt das für Pear.Inc. Aber die Mitarbeiter des führenden Technologieanbieters waren natürlich auch ein besonders lohnendes Ziel für die Infiltration durch Träume. Im Prinzip verfügten die Oneironauten durchaus über das technische Know-how und auch die entsprechenden Ressourcen, das retinale Pigmentepithel des Auges jedes beliebigen Citizens nachzubilden. Aber das Risiko, dann im Gebäude auffällig zu werden, war nicht tragbar. Und einen Pear-Mitarbeiter selbst für die Traumzeit zu gewinnen, war den Nauten bislang noch nicht gelungen.
Esther stand mitten auf dem PearSquare und ließ die Szenerie auf sich wirken. Links von ihr lagen Store und Showrooms, rechts die Verwaltung und vor ihr ragte ihr Ziel, die Entwicklungszentrale. Der dicht mit Citizens besetzte Platz wurde von der Projektion einer transparenten Filigrankuppel überspannt, – „Nur Pear hat die Kuppel unter dem Dome“ – auf deren Scheitelpunkt sich die riesige Birne drehte, deren ständig wechselnde Anzeigen stroboskopartig bunte Lichtsprengsel auf die Menge warfen. Die Fassade des Entwicklungsgebäudes konnte sie nicht erreichen, da es, wie eine der alten Burgen aus ihren Büchern, von einem breiten Gürtel aus Feuchtbiotopen umgeben war, die den üppigen Bewuchs aus GreenwallCrawlern, die die Wände überwucherten, mit Nährstoffen versorgten. Der einzige Zugang führte über zwei Viadukte, an deren Geländer sie ihre Geckos hätte platzieren können, wenn da nicht die Wachleute gewesen wären, die jeden, der sich den Übergängen auch nur näherte, argwöhnisch abcheckten.
Um im Falle einer Entdeckung den Schaden zu begrenzen, war das Netz der Oneironauten dezentral organisiert. Jeder Naut hatte lediglich einen einzigen Kontakt zu jemandem, von dem er Weisungen erhielt und mit Equipment ausgestattet wurde, agierte aber ansonsten isoliert und unabhängig von anderen Nauten auf der gleichen Ebene. Das Fehlen allgemeiner Regularien und Einsatzpläne gestaltete die Operationen für den Einzelnen zwar aufwändiger, hatte aber den immensen Vorteil, dass kein einheitliches Muster zu erkennen war. Schließlich war die Identifikation von Mustern der Schlüssel für Berechenbarkeit und Mittelung, Mustererkennung im Grunde Sinn und Zweck des Systems. Würden sich vor den Linsen und Sensoren seiner Agenten auf bestimmten Georastern innerhalb bestimmter Taktfenster Dinge abspielen, die signifikante und kohärente Verlaufsmuster aufweisen und aus den bekannten und als unbedenklich eingestuften Settings heraus stechen würden, wäre eine Entdeckung lediglich eine Frage des Taktes.
Esther war also völlig auf sich allein gestellt und musste sich etwas einfallen lassen. Obwohl morgen Abend schon wieder ein anderer Naut bereitstände, der es vielleicht besser wusste, durfte sie es auf gar keinen Fall darauf ankommen lassen, dass Pear auch nur eine einzige Nacht von der Traumfährte wich. Pear war Technologieführer, unvorstellbar, welche Möglichkeiten sich den Nauten erschließen würden, wenn es gelänge, auch nur einen einzigen der HighPotentials, die hier im Entwicklungszentrum arbeiteten – und hoffentlich auch in den NappingCells übernachteten – auf ihre Seite zu ziehen. Forschung und Entwicklung von Pear standen schon seit mehreren TeraTakten im Focus der Nauten und für alle Operationen galt Kassandras Leitsatz: „Nur steter Traum weitet und differenziert das Mittel.“ Esther musste ihre Disrupter auch unter diesen ungünstigen Umständen unbedingt positionieren, um die Kontinuität der Traumerlebnisse aufrecht zu erhalten. Wo aber sollte sie hier ihre letzten 5 Tierchen nur unterbringen?
Sie blickte über den Platz. Sie konnte ihre Geckos kaum am Rand des Feuchtbiotops aussetzen, das um das Entwicklungsgebäude herumlief. Aber halt, da gab es eine Reihe von WasteBoxen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren. Die würden erst am Morgen geleert und wenn sie jede dritte mit ihrer Traumsaat befrachtete, hätte sie genau die richtigen Distanzen, um die gesamte Front abzudecken. Langsam schlenderte sie auf die erste Box zu, griff in die Tasche und ließ mit einer gleitenden und selbstverständlichen Bewegung einen Disrupter hineinfallen. Sie ging wieder zurück in Richtung Platzmitte und näherte sich Kurven und Schleifen schlagend der nächsten Box, um auch hier eine Pille zu versenken. Da sie verhindern wollte, dass ihre Route nachverfolgt werden konnte, ging sie zunächst wieder über den Platz, schlenderte in einem der Showrooms herum und steuerte erst dann eine weitere Box an. Als sie hier den drittletzten Gecko hatte springen lassen, bemerkte sie die verwunderten Blicke eines Citizens, der sie offensichtlich beobachtet hatte. War ihre Maske verrutscht? Sie startete die Spiegelfunktion ihres AeroFlats. Nein, offensichtlich nicht. War es vielleicht ungewöhnlich, einen einzelnen EnergizerPop zu entsorgen? Würde jemand tatsächlich deswegen extra zu einer Waste-Box gehen? Vielleicht war es glaubwürdiger und realistischer, so etwas zusammen mit anderem Abfall wegzuschmeißen. Sie kramte in ihren Taschen. Was hatte sie dabei, das sie wegwerfen konnte? Einen abgelaufenen Chip fürs HoloCine. Einen angebissenen VulcanoBagel, den sie unterwegs gekauft und halb gegessen hatte, um sich den Anschein zu geben, ihre Freetime in vollen Zügen zu genießen. Extra scharf gewürztes Fingerfood war gerade gauß. Wer sich während des Verzehrs dieser Dinger am längsten dagegen wehren konnte, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat und das Wasser aus den Augen lief, hatte gewonnen. „Wein ihm keine Träne nach. Kauf gleich einen Neuen!“ Was ihr dagegen die Tränen in die Augen trieb, war der völlig unsinnige Aufwand, mit der das Merchandising rund um die „Produktwelten“ dieser VulcanoBurger betrieben wurde. Ein gebrauchtes Reinigungstuch. Ein defektes Multifunktionstool. Ein Stick für ... Sie hatte vergessen, wofür. Sie knüllte alles mit dem Gecko in einer Hand zusammen. Den fettigen Burger balancierte sie ganz oben.
Gerade als sie die Ladung in die Box werfen wollte, spürte sie mehr als dass sie es sah, wie der Strahl eines LaserPointers vor ihr die Luft zerschnitt und mitten auf ihrer Brust endete.
„Halt! Die Citizen da an der WasteBox mit dem angebissenen Bagel auf der Hand“, ertönte die elektronisch verstärkte Stimme eines SecCorp.
Esther erstarrte, die Hand mit dem Abfall direkt über der Box. Jetzt war alles vorbei. Sollte sie die Ladung einfach fallen lassen? Das hatte keinen Zweck. Sie war aufgeflogen. Durch eine Gasse von Citizens kam der SecCorp unaufhaltsam näher, wie das in ihren Büchern so oft beschworene Schicksal, und baute sich, zwei Köpfe größer als sie, in seinem Carbonharnisch vor ihr auf: „Zeig mal her!“
Vergaußt, er wusste genau, wonach er suchen musste. Sie war ihm nicht wegen ihres Verhaltens aufgefallen, als sie vielleicht doch zu unglaubwürdig um die WasteBoxen herumgestrichen war. Er musste von den Disruptern wissen. Man hatte sie schon auf ihrer gesamten Tour observiert und jetzt die Falle zuschnappen lassen. Nicht nur sie, sondern die gesamte Organisation der Oneironauten war gefährdet. Esther streckte ihre zitternde Hand aus. Der Corp zog eine Kugel Formschaum aus der Tasche, die sich zu einem Tablett dehnte und arrangierte die Dinge darauf, allen Blicken ausgeliefert den Gecko in der Mitte.
Jetzt lag es an ihr. Sie musste unter allen Umständen die anderen schützen und durfte selbst das Wenige, das sie wusste, nicht preisgeben. Bei dem Gedanken, schlimmstenfalls auf die LetheKapsel beißen zu müssen, die sie während eines Einsatzes unter ihrer Zunge trug, brach ihr der kalte Schweiß aus. Vor etlichen MajorTakten, als sie völlig niedergeschlagen im belanglosen Einerlei ihrer Tage unterzugehen drohte, hätte sie dergleichen wahrscheinlich phlegmatisch hingenommen. Aber jetzt, wo sie in den Reihen der Oneironauten aktiv an Veränderungen arbeitete und auf eine menschenwürdigere Zukunft hoffte, versetzte sie die Vorstellung, die Ebene wechseln zu müssen, in abgrundtiefe Panik. Sie wollte nicht ins völlig Ungewisse, sondern hier, exakt auf dieser Ebene dazu beitragen, eine bessere Zukunft zu verwirklichen, die ihr paradoxerweise jetzt, da sie vielleicht für sie nie eintreten würde, zum Greifen nahe schien. Esther brach der kalte Schweiß aus und obwohl die Membran ihrer Maske atmungsaktiv war, hatte sie das Gefühl, als würde sie auf ihrem Gesicht herumschwimmen und sämtliche Konturen verwischen. Sie schloss die Augen.
„Diese Mischfraktion wirst du doch wohl nicht in einer Box für organische Abfälle entsorgen wollen?“, dröhnte der Corp mit didaktischem Impetus, um für alle Umstehenden ein abschreckendes Beispiel zu inszenieren.
Gütiger Gauß, das hatte sie völlig übersehen. „Organic Waste only“ stand auf der Box. Irgendwie war das komisch. Tragikomisch. Tragödie, Komödie, Tragikomödie, memorierte sie, plötzlich völlig ruhig und unbeteiligt, die Theatergattungen, über die sie in einem der Bücher gelesen hatte. Bei dem Versuch, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken, stieg ihr bittere Galle hoch. Wenn in der Urb auch alles Verhalten gemittelt wurde, so wurde doch der Abfall im Rahmen des ZeroWaste-Kreislaufs strengstens differenziert, um rückstandslos recycelt werden zu können.
„Natürlich nicht“, presste sie hervor. „Ich war wohl ganz in Gedanken. Danke für deinen Hinweis.“
„Dann achte darauf, dass du in Zukunft deinen Abfall richtig entsorgst“, mahnte der Corp, schüttete das Zeug in ihre Hand zurück und ballte das Formschaumtablett wieder zu einem Klumpen zusammen. „Es ist unerlässlich für die Rohstoffversorgung unserer Urb, dass alle Citizens verantwortlich mit ihrem Abfall umgehen.“
Schon halb abgewendet, warf er noch einen abschließenden Blick auf den angebissenen Bagel, den sie nun einzeln in der Linken hielt und grinste sie dann an: „Ist er zu scharf, bist du zu stumpf.“
Die Ansammlung von Citizens, die sich um die Szene gebildet hatte, zerstreute sich allmählich.
„Statt hier mittelungstreue Citizens wegen solcher Belanglosigkeiten zu belästigen, sollte die Administration lieber mal dafür sorgen, dass nicht sämtliche InfluenceBoards ständig mit diesem mindergaußen ,Dein Schlaf gehört dir‛ überflutet werden, von dem niemand weiß, wer oder was dahinter steckt“, sagte jemand.
„Vielleicht ist das ja eine groß angelegte Kampagne und irgendwann, Taataa, wird der Schleier gelüftet: ein neues RestBoard mit einer speziellen Abschottungsfunktion oder so was“, meinte ein anderer.
Esther war, als wäre etwas von ihr genommen, das sie niedergedrückt und begonnen hatte, jede ihrer Körperzellen einzeln zu zermalmen und in das Gefühl von Dankbarkeit und Erleichterung, noch einmal davongekommen zu sein, mischte sich nun auch Freude. Offensichtlich zog die Botschaft der Oneironauten allmählich immer weitere Kreise. Einen solch abrupten Stimmungswechsel von abgrundtiefer Verzweiflung zu freudiger Erregung hatte sie noch nie erlebt. Waren das die Gefühlsumschwünge, die sie im Traum gespürt und von denen sie gelesen hatte? War das das Leben in Freiheit, in dem man nie wissen konnte, was das Schicksal für einen im nächsten Moment bereithielt? In ihrer aktuellen Verfassung sah sie sich außerstande zu entscheiden, ob es nicht besser war, nur davon zu träumen, als es tatsächlich zu erleben.
Aber darüber konnte sie sich auch später noch Gedanken machen. Zunächst musste sie ihre Tour so gut wie möglich zu Ende bringen. Pflichtschuldigst verstaute sie ihren anorganischen Abfall wieder in der Tasche und behielt nur den Gecko in der hohlen Hand. Als wolle sie dem Vulcano doch noch eine Chance geben, nahm sie ihn wie zum Abbeißen in beide Hände, drückte den Gecko in die Teigmasse und ließ sie dann in die WasteBox fallen. War die trendige Backware also doch noch zu etwas gut gewesen.
Ein Disrupter war noch übrig. Sollte sie ihn noch platzieren? Besser nicht. Sie war auffällig geworden und unter diesen Umständen würde sie damit nur ein unnötiges Risiko eingehen. Außerdem fehlte ihr, wie sie jetzt auf einmal merkte, als sie mit weichen Knien über den PearSquare stakste, schlicht die Kraft für eine weitere Aktion. Sie würde zurück in ihr Hexagon fahren.
Als sie endlich in der Sicherheit des vertrauten Raumes angekommen war und ihre Anspannung langsam nachließ, fiel ihr Erlebnis noch einmal mit geballter Wucht über sie her. Anders als zu träumen und zu lesen fand die aktiv betriebene Traumzeit, in der die Oneironauten die Verhältnisse ändern wollten, nicht in einer entrückten Sphäre statt. Sie war real und jederzeit konnte etwas passieren, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Hatte sie sich statt der sterilen Wahlmöglichkeiten, die ihr das System antrug und nur scheinbare Freiheit versprachen, nicht wirkliche Chancen gewünscht? Wollte sie nicht Routine, Berechenbarkeit und Absehbarkeit durchbrechen, um in ihrem Leben einen Sinn zu finden, der nicht vom System und dem Marketing der Anbieter vorkonfektioniert war? Heute hatte sie am eigenen Leib erfahren, dass Freiheit und Schicksal nicht nur die Enge in offene Horizonte weiten und neue Möglichkeiten erschließen, sondern offensichtlich auch zur Bedrohung werden konnten. Unvorhersehbares auszuhalten, war wohl der Preis der Freiheit, aus der Sinn und wahres Glück erwuchsen. Darauf musste sie sich jetzt einstellen. Wenn sie bei den Oneironauten bleiben wollte, und dass würde sie, wie ihr jetzt klar wurde, auch um diesen Preis, war zukünftig nichts mehr sicher für sie.
Mit diesen Gedanken arrangierte Esther schließlich ihr RestBoard entsprechend der Schlafsequenz, mit der sie ihre Fake-Schleife beenden würde – Farbe, Muster und Anordnung der Blankets mussten „anschlussfähig“ sein – positionierte sich ebenfalls in der Anschlussposition und wechselte mit einem Druck auf ihren DreamKey von der Traumzeit in die Taktzeit und überlagerte damit auch die Strahlung ihres Morpheustrons – „sich selbst den Gecko machen“, nannte sie das. Sie war neugierig, ob und wie sich ihr Erlebnis in ihren Träumen niederschlagen würde, lag dann aber noch so lange wach, dass sie bezweifelte, überhaupt einschlafen zu können.