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2. Annahme strafbarer Übernahmefahrlässigkeit
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Für ihre Annahme ist entscheidend die – notwendigerweise einzelfallabhängige – Feststellung, aber auch Eingrenzung einschlägiger Sorgfaltspflichten, so dass grundsätzlich auch die Frage nach einer zeitlichen Begrenzung fahrlässigen Verhaltens durch sachgerechtes Konturieren entsprechender Vorab-Pflichten aufgeworfen ist.[881] So wird im Falle einer ohne hinreichende Vorkenntnisse durchgeführten ärztlichen Operation angesichts der tatstrafrechtlichen Konzeption des StGB das Versäumen einer entsprechenden Vorlesung als Student anders als ein Nicht-Besuch einer einschlägigen Weiterbildungsveranstaltung im Vormonat oder das Unterlassen einer voroperativen Diagnostik nicht zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit führen können.[882]
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Für die Statuierung einschlägiger Sorgfaltspflichten kann auf den Ansatz zurückgegriffen werden, den überzeugend Stratenwerth[883] als Grundlage einer die verschiedenen Fallkonstellationen übergreifenden Lehre vom Vorverschulden allgemein dahingehend formuliert hat, dass strafrechtlich sanktionierte Pflichten rückläufig durchaus die Verpflichtung einschließen, einen Zustand zu bewahren oder herzustellen, in dem der Täter fähig ist, diese Pflichten zu erfüllen. Eine Herleitung dieser Sorgfaltspflichten aus den Verbotsvorschriften selbst (vorliegend also aus den §§ 222, 229 StGB) ist möglich, nämlich unter dem Aspekt einer Effektuierung dieser Vorschriften.[884] Der Annahme derartiger Verhaltenspflichten im Vorfeld einer Erfolgsbewirkung steht nicht entgegen, dass Strafvorschriften verhaltensleitend wirken sollen: So entfalten im Falle der Übernahmefahrlässigkeit (bspw. bei Durchführung einer Operation ohne hinreichende Voruntersuchung des Patienten oder Übernahme einer Behandlung, der der Täter mangels Sachkunde[885] oder sächlicher Ausstattung nicht gewachsen ist[886]) die §§ 222, 229 StGB in der Krise der „eigentlichen“ Tathandlung (also im Beispiel: bei Durchführung der Operation) für den Täter mangels persönlicher Fähigkeit zur Normbefolgung keine Güter des Patienten schützenden Verhaltensrichtlinien. Diese Vorgaben waren dem Täter im Vorfeld als Gebot zur Gefahrenminimierung[887] auferlegt („Du musst Deinen Patienten hinreichend untersuchen, wenn Du ihn morgen einer Operation unterziehen willst“). Der prospektive Täter steht also durch die pauschale Strafandrohung der §§ 222, 229 StGB bereits im Vorfeld der unmittelbaren Güterbedrohung in der (erst bei nachfolgendem Eintritt eines rechtlich missbilligten Erfolges relevanten) Pflicht, bei konkreten Anzeichen dafür, dass sein Verhalten Leib oder Leben des Patienten gefährden könnte, hinreichende Maßnahmen hiergegen zu treffen, also bspw. die Operation nicht oder nur nach hinreichender Diagnostik durchzuführen.[888] Eine derartige wie auch sonst beim Fahrlässigkeitsdelikt aus der Vorhersehbarkeit schadensträchtiger Kausalverläufe herzuleitende Verhaltensanleitung kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Freiheitsschutzes als zu unbestimmt eingestuft werden.[889]