Читать книгу Grundlagen des Strafverfahrensrechts - Bernhard Kramer - Страница 10
1.Strafprozessordnung
Оглавление6Primäre Rechtsquelle des Strafverfahrensrechts ist die Strafprozessordnung (StPO) in der Bekanntmachung vom 7.4.198731. Hinzugekommen sind seit 1987 zahlreiche bedeutsame Veränderungen einzelner Vorschriften, wozu gehören: das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.199232, das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.199433, das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG 99) vom 2.8.200034, das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004, das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen vom 21.12.200735, das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.200936, die Gesetze zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren37 und zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom selben Tag38 sowie zuletzt die Gesetze zur Modernisierung des Strafverfahrens und zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 12.12.2019. Die modernen gesetzgeberischen Tendenzen sind charakterisiert durch eine ständige Aufweichung des Legalitätsprinzips39, Schaffung zahlreicher neuartiger Einzelbestimmungen zur Regelung kriminalistischer Vorgehensweisen (z. T. unter Berufung auf Vorgaben des BVerfG im Volkszählungsurteil40), Erweiterung verdeckter Ermittlungsmethoden, Ausbau des strafprozessualen Opferschutzes sowie – dies allerdings noch eher in Rechtsprechung und Lehre – einer eigenartig schleichenden Anpassung an Vorstellungen des angelsächsischen Rechtskreises, wie die Stichworte „deal“ (Verständigung, Absprache), Kronzeuge, Beweisverwertungsverbote („fruits of the poisinous tree“-Doktrin, Miranda41) erkennen lassen. Besonders besorgniserregend ist die Entwicklung in Richtung des amerikanischen Parteiprozesses in Strafsachen, welche sich in einem veränderten Rollenverständnis von Staatsanwälten niederschlägt.
7Gleichwohl ist die Grundstruktur der RStPO vom 1.2.1877 (am 1.10.1879 in Kraft getreten) bisher erhalten geblieben, obwohl es im politischen Raum nicht an Stimmen fehlt, die einen radikalen Umbau fordern. Die StPO hat bereits zahlreiche Verfassungslagen in Deutschland überdauert; ausgerechnet das Strafverfahren als „Seismograph der Staatsverfassung“ zu bezeichnen42, trifft daher nur bedingt zu. Selbstverständlich aber ist, dass Novellierungen der StPO den jeweiligen Zeitgeist reflektieren und dass das Grundgesetz als höherrangiges Recht intensiv in das Strafverfahren hineinwirkt. Die StPO enthält demnach im Wesentlichen vorkonstitutionelles Recht43. Obwohl etwas ungenau als Strafprozess-„Ordnung“ bezeichnet, stellt sie ein formelles Gesetz dar. Sie ist das Ergebnis einer viele Jahrhunderte währenden Rechtsentwicklung, die im Ausgangspunkt (Gerichtsentscheidung durch die Volksversammlung, sog. Thing) keinen Unterschied zwischen Straf- und Zivilprozess machte. Rudiment dieses Parteiverfahrens ist die Privatklage in §§ 374 ff. Im ausgehenden 15. Jahrhundert setzte in Deutschland die Rezeption des mittelalterlich-italienischen Rechts ein; diese fand ihren Niederschlag in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina von 1532). Das Privatklageverfahren trat nunmehr in den Hintergrund; Strafverfolgung wurde mehr und mehr als Aufgabe staatlicher Instanzen erkannt. Offizialprinzip (d. h. das Strafverfahren wird von Amts wegen eingeleitet und betrieben) und Instruktionsmaxime (Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen ohne Bindung an Anträge) sind inzwischen die StPO beherrschende Grundsätze geworden. Demgegenüber hat die StPO radikal mit dem Beweisrecht der Constitutio Criminalis Carolina und des auf ihr beruhenden gemeinrechtlichen deutschen Strafprozessrechts gebrochen: galten dort formale Beweisregeln (z. B. Beweis nur durch zwei einwandfreie Zeugen oder Geständnis), herrscht nunmehr nach § 261 der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Die StPO beruht vor allem auf dem Gedankengut der Aufklärung, die sich für die Abschaffung des Inquisitionsprozesses aussprach, den die Folter und die Identität von Ankläger und Richter kennzeichneten. Französischen Vorbildern folgend überträgt sie die Aufgabe der Strafverfolgung bis zur Anklageerhebung und dann die der Urteilsfindung zwei unabhängigen staatlichen Funktionsträgern, nämlich der Staatsanwaltschaft (StA) und dem Gericht, so dass nach §§ 155, 264 Gegenstand der gerichtlichen Urteilsfindung nur die in der Anklage der StA bezeichnete Tat sein kann (Akkusationsprinzip)44.
Die StPO stellte 1877 einen wesentlichen weiteren Schritt zur Rechtseinheit nach dem kurz zuvor in Kraft getretenen StGB dar. Indes wurde die Kodifikation des Strafprozessrechts nach der Reichsgründung 1870/71 nicht einfach aus dem Boden gestampft. Als ein maßgeblicher Vorläufer kann das preussische „Gesetz betreffend das Verfahren in den beim Kammergericht und dem Kriminalgericht in Berlin zu führenden Untersuchungen“ vom 17.7.1846 betrachtet werden. Mit diesem Gesetz bereits – von König Friedrich Wilhelm IV. erlassen und durch Vorarbeiten des preussischen Justizministers v. Savigny wesentlich geprägt – wurde in Preussen der Inquisitionsprozess abgelöst und das Anklageprinzip eingeführt. Die Fortentwicklung dieses grundlegenden Gesetzeswerkes in verschiedenen StPO-Entwürfen mündete in die StPO des Norddeutschen Bundes, welche schließlich die Grundlage der RStPO von 1877 bildete und teilweise schon wortgleiche Formulierungen von Bestimmungen enthielt, die noch heute gelten45.
8Will man den Aufbau der StPO durchleuchten, so lässt sich zunächst eine Gliederung in acht Bücher feststellen, die sich wiederum in Abschnitte unterteilen. Das erste Buch enthält die allgemeinen („vor die Klammer gezogenen“) Vorschriften, die grundsätzlich für sämtliche Verfahrenszüge gelten. Es finden sich hier Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit der Gerichte, die Verteidigung und die Gewinnung von Beweismitteln. Das zweite Buch betrifft das Verfahren im ersten Rechtszug, wobei der erste und zweite Abschnitt vor allen Dingen die Staatsanwaltschaft ansprechen. Sie enthalten nämlich die Regelung des Vorverfahrens (Ermittlungsverfahrens). Die sonstigen Abschnitte des zweiten Buches wenden sich insbesondere an den Richter, denn sie umfassen die Voraussetzungen und den Ablauf des Hauptverfahrens. Das dritte Buch ist für den Beschuldigten und den Verteidiger von größter Bedeutung, denn es behandelt Vorschriften über die Einlegung von Rechtsmitteln. Das vierte Buch spricht den Verurteilten an, wenn er eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen will. Das fünfte Buch betrifft die Beteiligung des Verletzten am Verfahren. Das sechste Buch legt die Besonderheiten bestimmter Verfahrensarten (z. B. Strafbefehlsverfahren) fest. Das siebente Buch wendet sich wiederum an den Verurteilten und an die Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde, denn es regelt die Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens. Durch das StVÄG 99 ist ein achtes Buch hinzu gekommen, welches in Erfüllung der Vorgaben des Volkszählungsurteils des BVerfG die Rechtsgrundlagen für Auskunftserteilungen an nicht am Verfahren beteiligten Stellen und Personen sowie für die Dateien der Strafverfolgungsbehörden zum Gegenstand hat.
In unserem Ausgangsfall ist die Strafprozessordnung als Rechtsquelle einschlägig, denn sie sieht in § 153 Abs. 1 StPO die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens durch die StA vor, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Diese Voraussetzungen ließen sich nach dem Sachverhalt des Ausgangsfalls bejahen. Aus der StPO ergibt sich also die Rechtswidrigkeit der Einstellung nicht.