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2.Aussageverweigerungsrecht
Оглавление29Der Kaufmann K. wird in einer detaillierten Anzeige des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Bezug auf eine Auszubildende verdächtigt. Auf Vorladung zur „Verantwortlichen Vernehmung“ erscheint K. bei der Polizei und wird dort von der Vernehmungsbeamtin V. zum Tatgeschehen befragt, wobei V. in ihrer Empörung vergisst, den K. über sein Aussageverweigerungsrecht zu belehren. K. lässt sich zum Tatgeschehen ein. Danach belehrt die V. den K. nach § 163a Abs. 4 unter Hinweis auf sein Aussageverweigerungsrecht (Schaubild S. 30, 24). K. wiederholt seine bisherige Aussage. K. räumt in der Vernehmung zahlreiche Umstände ein, die ihn schwer belasten. Als gegen ihn Anklage erhoben wird, wird K. bewusst, dass er einen Fehler gemacht hat. In der Hauptverhandlung weigert sich K. standhaft, irgendwelche Fragen des Richters zu beantworten.
30Aus § 243 Abs. 5 S. 1 ergibt sich, dass es dem Angeklagten freisteht, sich zur Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Dieses Aussageverweigerungsrecht entspricht dem allgemein der Strafprozessordnung zugrunde liegenden Grundsatz, dass niemand gezwungen werden könne, aktiv an einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren mitzuwirken (nemo tenetur se ipsum accusare)47. Ausgenommen davon ist lediglich die Verpflichtung des Beschuldigten, zu seiner Person Angaben zu machen, die seiner Identifizierung dienen. Nur zur Sache darf er schweigen. Weigert sich der Angeklagte, Angaben zur Person zu machen, so begeht er eine Ordnungswidrigkeit nach § 111 OWiG. Fragen nach dem Lebensweg, Vorstrafen und den Einkommensverhältnissen dienen nicht mehr seiner Identifizierung und fallen daher als Angaben zur Sache bereits unter das Aussageverweigerungsrecht (Aussage zur Sache i. w. S.)48. Im vorliegenden Fall wäre K. also verpflichtet, dem Richter Angaben zu seinen Geburtsdaten, zum Namen, Wohnort usw. zu machen. Äußerungen zu seinem Beruf könnten vorliegend jedoch schon Auswirkungen auf die Feststellung des Tatgeschehens haben und fallen bereits unter das Aussageverweigerungsrecht, das K. als Angeklagtem zusteht. Für den K. nachteilige Schlüsse aus seinem Schweigen darf der Richter nicht ziehen. Würde das Schweigen des Angeklagten als Indiz für seine Täterschaft gewertet werden, wäre ein faktischer Zwang zur Aussage ausgeübt, der dem Gesetzeswillen widerspricht49.
Der Sinn des Aussageverweigerungsrechts liegt darin, dass es in einem rechtsstaatlichen Verfahren mit der Menschenwürde unvereinbar erscheint, auf einen Beschuldigten im Strafverfahren Zwang zur Herbeiführung von Aussagen auszuüben. Die Erfahrungen aus dem Inquisitionsprozess, wo eine aktive Mitwirkung des Beschuldigten verlangt wurde, zeigen auch die Zwecklosigkeit einer solchen Rechtspflicht im Streben um die Wahrheit. Ein Beschuldigter, der seine Verurteilung fürchtet, wird sich – ungeachtet etwaiger Aussagepflichten – weigern, diesen nachzukommen oder die Unwahrheit sagen. Erzwingbar ist eine solche Rechtspflicht des Beschuldigten mit Ordnungs- und Beugemitteln faktisch nicht; Bemühungen dahin eskalieren letztlich bis zur Anwendung der Folter, welche die logische Konsequenz des Inquisitionsprozesses im Kalkül des Beschuldigten zwischen zu erwartender Strafe und Beugemittel bildete. Denjenigen, gegen den das Strafverfahren betrieben wird, den Beschuldigten also, in demselben Verfahren zur aktiven Mitwirkung zu zwingen, ist nicht nur sinnlos, es respektiert auch nicht seine Subjektstellung im Prozess als Verfahrensbeteiligter, sondern drückt eine Betrachtung als bloßes Objekt der Wahrheitsfindung aus und verstößt damit gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG). Auch vor dem Hintergrund des nach Art. 6 MRK garantierten fairen Verfahrens sieht es der EGMR als Sinn des Aussageverweigerungsrechts an, den Angeklagten vor unzulässigem Zwang durch die Behörden zu schützen und damit gleichzeitig dazu beizutragen, Fehlurteile zu vermeiden50. Das Aussageverweigerungsrecht ist eine Facette des allgemeinen Passivitätsprinzips, das für das Verhalten des Beschuldigten im Strafverfahren gilt und auch in anderen Zusammenhängen anerkannt ist51. Daher wird auch das Aussageverweigerungsrecht – im Gegensatz zum Zeugnis- (§§ 52, 53) und Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55) nicht etwa konstitutiv durch positivrechtliche Bestimmungen begründet; die StPO setzt es vielmehr als Teil des ungeschriebenen Passivitätsprinzips einfach voraus. Bezeichnend ist, dass die §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4, 243 Abs. 5 S. 1 nur Hinweispflichten regeln, aber das Recht selbst nicht begründen.
Als irreführend ist die These zu betrachten, die Aufgabe des Aussageverweigerungsrechts bestehe darin, den Beschuldigten vor Selbstbelastung zu schützen52. Dieser verbreitete Irrtum beruht teilweise auf verkürzten Formulierungen aus höchstrichterlichen Urteilen; teilweise auch auf unzulässiger Übertragung des Modells des angloamerikanischen Strafverfahrens, der in den Formen eines Parteiprozesses abläuft und in dem in der Tat die „Selbstbelastung“ als systemfremd erscheint. Im deutschen Strafprozess dagegen ist die Selbstbelastung als solche wertneutral; eventuell kann sie gar in der Form des Geständnisses bei der Strafzumessung honoriert werden53. Manche Eingriffsmaßnahmen – wie die Telefonüberwachung – enthalten zwangsläufig Elemente der Selbstbelastung, ohne dass dies den Prinzipien des Strafprozesses und der Verfassung zuwiderliefe54. Jedenfalls stellt das Aussageverweigerungsrecht nicht etwa auf inhaltliche Aspekte wie die Gefahr der Belastung ab, sondern resultiert aus der formalen Verfahrensrolle des Beschuldigten, mit welcher inhaltlichen Tendenz auch immer davon Gebrauch gemacht wird. Das Recht steht dem Beschuldigten daher nicht nur zu, wenn er sich belasten, sondern ebenso wenn er sich durch eine Aussage entlasten könnte, was in der Praxis gar nicht so selten aus den verschiedensten Motivationslagen heraus auch vorkommt. Es erstreckt sich auch auf Taten von Mitbeschuldigten, an denen der das Aussageverweigerungsrecht ausübende Beschuldigte gar nicht beteiligt war55.
Insofern reicht das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten nach der StPO einerseits weiter als der vom BVerfG als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts nach 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG angesehene Grundsatz, dass „niemand gezwungen werden könne, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung liefern zu müssen“56. Andererseits muss auch die Rechtsprechung des BVerfG zu diesem nemo-tenetur-Prinzip im rechten Licht gesehen werden: nicht die Selbstbelastung als solche verbietet die Verfassung, sondern nur die Ausübung von darauf abzielenden Zwangs im Rahmen einer Aussage. Daher besteht auch kein Widerspruch zwischen dem auf die formale Verfahrensrolle abstellenden Aussageverweigerungsrecht nach der StPO und der materiell interpretierten verfassungsrechtlichen Freiheit vor Selbstbezichtigung. Auch das BVerfG hat die im Hörfallen-Beschluss vom BGH zu Recht gezogenen Grenzen eines Schutzes vor Selbstbelastung bestätigt und die dagegen vorgebrachten Einwendungen aus Grundrechtsnormen für unsubstantiiert erachtet57. Daher muss auch die neuere Rechtsprechung des BGH, die vereinzelt den Begriff der „Selbstbelastung“ verwendet58, richtig gesehen werden: es geht nicht um die Vermeidung der Selbstbelastung als solcher, sondern um die Verhinderung eines darauf abzielenden Aussagezwangs.
30aEs fragt sich daher, ob nicht die Aussagen, die K. bereits vor der Polizei gemacht hat, in der Hauptverhandlung berücksichtigt werden können. Es wäre daran zu denken, das von V. aufgenommene Vernehmungsprotokoll in der Hauptverhandlung zu verlesen. Dies scheitert jedoch daran, dass nach § 254 nur richterliche Protokolle über Erklärungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung verlesen werden dürfen, polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Vernehmungsprotokolle folglich nicht59. Hier liegt nur ein polizeiliches Vernehmungsprotokoll vor. Es käme jedoch eine Vernehmung der V. als Zeugin in der Hauptverhandlung in Betracht, die eine Aussage über den Inhalt der seinerzeit von ihr durchgeführten Vernehmung machen könnte. V. würde praktisch als Zeuge vom Hörensagen aussagen, eine Rechtsfigur, die dem deutschen Strafverfahren anders als dem angelsächsischen Recht nicht fremd ist60. Daher wäre gegen eine Aussage der V. als Zeugin vom Hörensagen grundsätzlich nichts einzuwenden. Die Aussage des Zeugen vom Hörensagen stellt auch keine Umgehung des Aussageverweigerungsrechts dar, da dessen Sinn sich darin erschöpft, einen Aussagezwang zu vermeiden. Aus § 252 ergibt sich, dass nur die nachträgliche Ausübung eines Zeugnisverweigerungsrechts in der Hauptverhandlung zur Nichtverwertbarkeit früherer Angaben eines Zeugen führt. In Bezug auf das Aussageverweigerungsrecht des Angeklagten enthält das Gesetz keine entsprechende Regelung. Im vorliegenden Fall könnte sich jedoch eine Besonderheit daraus ergeben, dass die V. bei ihrer Vernehmung zunächst die in § 136 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 163a Abs. 4 S. 2 vorgeschriebene Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten, das diesem bereits im Vorverfahren zusteht, unterlassen hatte.
31Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht über das Aussageverweigerungsrecht waren lange Zeit zwischen Rechtsprechung und h. L. heftig umstritten. Als sicher galt nur, dass sich bei bewusster Vorspiegelung einer Aussagepflicht gegenüber dem Beschuldigten ein Beweisverwertungsverbot aus § 136a Abs. 3 (Täuschung) ergibt und dass die unterlassene Belehrung des Angeklagten in der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 4) die Revision begründet61; für andere Fälle (z. B. Belehrung im Vorverfahren vergessen oder rechtsirrtümlich nicht erteilt) lehnte die ständige Rechtsprechung des BGH ein Verwertungsverbot ab, während die Lehre ganz überwiegend dieses reklamierte62. Dem Drängen des Schrifttums gab schließlich der 5. Strafsenat des BGH in einem Beschluss vom 27.2.1992 nach und nimmt seitdem ebenfalls ein Beweisverwertungsverbot bei objektiver Verletzung der Belehrungsvorschriften an, auch wenn der Beamte nicht bewusst gegen die Vorschrift verstoßen haben sollte63. Dieser Beschluss lässt sich in seiner grundlegenden Bedeutung durchaus mit seinem Vorbild, der berühmten Miranda-Entscheidung des Supreme Court der USA, vergleichen64.
Die Kernaussagen des Beschlusses des 5. Strafsenats lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die Verletzung der Belehrungspflichten über das Aussageverweigerungsrecht – auch im Vorverfahren (§§ 136 Abs. 1 S. 2; 163a Abs. 4) – zieht grundsätzlich ein Beweisverwertungsverbot nach sich, aus welchen Gründen auch immer die Belehrung unterblieb. Der Beweis des Verstoßes unterliegt dem Freibeweis und nicht dem Grundsatz in dubio pro reo; bleibt unklar, ob belehrt wurde, darf der Richter vom Nicht-Vorliegen des Verstoßes ausgehen. 2. Der Beschuldigte ist von Gesetzes wegen ohne Rücksicht darauf zu belehren, ob er seine Rechte tatsächlich kennt. Ein Beweisverwertungsverbot ist jedoch bei unterbliebener Belehrung dann abzulehnen, wenn er erweislich sein Recht gekannt hat. Ob dies der Fall war, ist eine Frage des Einzelfalls; es darf nicht allgemein und auch nicht bestimmten Personengruppen (z. B. Vorbestraften) oder Berufsgruppen (z. B. Juristen) unterstellt werden, sie hätten Kenntnis des Rechts gehabt. Nur bei in Gegenwart ihres Verteidigers aussagenden Beschuldigten kann dieses generell angenommen werden. 3. Der Verstoß kann nachträglich geheilt werden, indem der verteidigte Angeklagte später in der Hauptverhandlung der Verwertung seiner früheren Aussage ausdrücklich zustimmt. Als Zustimmung gilt auch das Unterlassen eines Widerspruchs des Verteidigers gegen die Verwertung, der nur bis zu dem in § 257 genannten Zeitpunkt (Befragung des Angeklagten nach einer Beweiserhebung, ob er dazu etwas zu erklären habe) erhoben werden kann (sog. Widerspruchslösung). Die wirksame Zustimmung des unverteidigten Beschuldigten selbst setzt voraus, dass dieser nicht nur nachträglich eine korrekte Beschuldigtenbelehrung nach §§ 136, 163a Abs. 4 erfährt, wie sie ihm eigentlich von vornherein hätte erteilt werden müssen, sondern dass er zusätzlich auf die Unverwertbarkeit seiner bisherigen Aussage ohne seine Zustimmung (sog. qualifizierte Belehrung) hingewiesen wird.
Durch die Entscheidung unberührt bleibt die Frage, ob und wann die Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht zu erfolgen hat; an der Abgrenzung zwischen erster Vernehmung des Beschuldigten und „informatorischer Befragung“ des Verdächtigen hat sich nichts geändert; sie erlangt nur wegen der Konsequenz des Verwertungsverbots neuartige praktische Bedeutung65. Der Beschluss geht vom formellen Beschuldigtenbegriff aus; ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht liegt daher nur dann vor, wenn der Vernehmungsbeamte tatsächlich eine Person als zureichend verdächtig angesehen und sie somit zum Beschuldigten gemacht hat. Das Beweisverwertungsverbot greift aber nicht schon ein, wenn sich infolge einer ex post-Betrachtung ergibt, dass der Beamte aufgrund der objektiven Verdachtslage eigentlich den Verdächtigen bereits hätte zum Beschuldigten machen müssen, gleichwohl aber den zureichenden Tatverdacht nicht erkannt hat. Es ist daher falsch, dem Beschluss zu entnehmen, das Beweisverwertungsverbot greife ein, wenn ein Richter später feststellt, dass seiner Meinung nach bereits zum Zeitpunkt der Vernehmung im Vorverfahren gegen die vernommene Person ein konkretisierter Anfangsverdacht vorgelegen habe, diese aber nicht belehrt worden sei. Maßgeblich ist vielmehr die subjektive Vorstellung des Vernehmungsbeamten von dem Verdachtsgrad. Die ursprünglich offen gelassene Frage, ob das Beweisverwertungsverbot auch zugunsten anderer Beschuldigter als dem nicht belehrten gilt, wird inzwischen von der Rechtsprechung und h. L. verneint66. Dagegen ist die Übertragung der Grundsätze von BGHSt 38, 214 auf das Bußgeldverfahren zu bejahen67.
Im Fall müsste nach der BGH-Rechtsprechung für die erste Einlassung des K. ein Beweisverwertungsverbot angenommen werden, denn V. hätte den K. als Beschuldigten nach § 163a Abs. 4 belehren müssen. Das Verfahren wird gegen ihn aufgrund eines konkreten durch Anzeige begründeten Verdachts betrieben. Es handelte sich um die erste („verantwortliche“) Vernehmung als Beschuldigter. Unerheblich ist, dass V. die Belehrungspflicht nicht bewusst missachtete, sondern nur vergaß. Allerdings ergäbe sich kein Verwertungsverbot, wenn bereits in der schriftlichen Ladung alle nach § 163a Abs. 4 vorgeschriebenen Mitteilungen und Hinweise enthalten gewesen sein sollten, insbesondere die bestimmte Bezeichnung der Tat und der Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht, was aber meist nicht vollständig erfolgt.
32Eine Würdigung des Beschlusses vom 27.2.1992 kommt nicht daran vorbei, anzuerkennen, dass dieser rechtsfortbildenden Charakter besitzt und sich die Praxis einhellig darauf eingestellt hat. Zahlreiche Folgeentscheidungen sind ergangen68. Auch wenn der Beschluss ganz überwiegend begrüßt worden ist, wirft er doch schwerwiegende methodische und praktische Probleme auf. Die Argumentation des Senats läuft darauf hinaus, dass sich Beweisverwertungsverbote aufgrund einer umfassenden Abwägung zwischen dem Gewicht und der Bedeutung der Norm, gegen die verstoßen worden ist, mit dem Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege ergäben; der Hinweispflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 über das Aussageverweigerungsrecht wird vom Senat der Vorrang vor dem Strafverfolgungsinteresse eingeräumt. Die axiomatische Begründung des Beweisverwertungsverbots bei Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung mit einer Güterabwägung verfehlt eine methodisch gebotene, strikt an Sinn und Zweck der Regelung angelehnte Auslegung der betroffenen Regelung69. Der generalisierende Charakter des behaupteten Beweisverwertungsverbots – denn die Güterabwägung wird nicht etwa im Einzelfall vorgenommen, sondern ihr Ergebnis gilt für alle Fälle der Verletzung der Belehrungspflicht über das Aussageverweigerungsrecht ohne Rücksicht auf die Höhe des jeweiligen Strafanspruchs – zeigt an, dass der BGH letztlich an die Stelle des Gesetzgebers getreten ist.
32aEiner speziellen Kritik ist die Widerspruchslösung ausgesetzt, durch die der Senat den in der Praxis der Instanzgerichte weitgehend in Vergessenheit geratenen § 257 mit einer für den Angeklagten schicksalhaften Bedeutung wiederentdeckt hat. Die Fiktion einer unausgesprochenen Zustimmung zur Verwertung durch den Verteidiger lässt sich weder aus einer Gesetzesvorschrift noch aus dem vermuteten tatsächlichen Willen eines Verteidigers ableiten. Sie führt im Ergebnis dazu, dass sich die Rechtsstellung des Beschuldigten per saldo eher verschlechtert hat, da er in diesem Zusammenhang für die Fehler seines Verteidigers einzustehen hat. Es ist schon eine merkwürdige Vorstellung von Gerechtigkeit, wenn der anwaltliche „Sekundenschlaf“ zu im Wortsinne lebenslänglichen Konsequenzen für den Mandanten führen kann70. Statt sich aber hinsichtlich der Widerspruchlösung zu korrigieren, hat der BGH diese Lehre in den Folgejahren lebhaft ausgebaut und verlangt nunmehr, dass nicht nur schlicht „Widerspruch“ erklärt wird, sondern dass dieser auch noch aus dem Stegreif spezifiziert und protokollreif begründet wird71. Außerdem wurde die Widerspruchslösung auf ganz andere Beweissituationen als der fehlerhaften Beschuldigtenbelehrung erstreckt wie z. B. bei Beweisverwertungsverboten für Zufallserkenntnisse bei einer TKÜ72. Andererseits soll die Widerspruchslösung aber auch nicht bei allen Beweisverwertungsverboten gelten73. Für die Unterscheidung, wann sie gelten solle und wann nicht, fehlt es bislang an einem gesicherten Kriterium.
32bFür seine zweite polizeiliche Einlassung, in welcher K. nach Belehrung gem. § 163a Abs. 4 die verfänglichen Angaben aus seiner ersten Vernehmung wiederholt, greift die bisherige Begründung eines Verwertungsverbots an sich nicht ein, denn die Belehrung mit dem gesetzlich vorgesehenen Inhalt ist ihr ja vorausgegangen. Allerdings dürfte einleuchten, dass der juristische Laie sich sagen wird, dass eine Ausübung des Aussageverweigerungsrechts zum jetzigen Zeitpunkt zwecklos ist, da er sich ja bereits zuvor verraten hat. Daher macht in solchen Fällen die gesetzliche Belehrung praktisch nur Sinn, wenn sie mit dem Hinweis angereichert wird, dass ohne Zustimmung des Beschuldigten seine bisherige Aussage einem Beweisverwertungsverbot unterliegt. Die Rechtsprechung verlangt in diesem Sinne eine qualifizierte Belehrung74. Das gilt auch in solchen alltäglichen Vernehmungssituationen, in denen ein Kriminalbeamter mit einem zur verantwortlichen Vernehmung geladenen Beschuldigten erst einmal ein „entspanntes“ Vorgespräch ohne Belehrung führt, bevor er anschließend zur förmlichen Vernehmung mit Belehrung und Protokollierung schreitet. Unterbleibt die qualifizierte Belehrung wie im Ausgangsfall bei der zweiten polizeilichen Vernehmung des K. liegt nach Auffassung der Rechtsprechung ein weiterer Belehrungsfehler vor. Bei unbefangener Betrachtung sollte man daher annehmen, dass damit ohne weiteres auch die zweite Aussage unverwertbar wäre. Dies sieht der BGH aber differenzierter. Der Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung hat nicht dasselbe Gewicht wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2; deshalb ist in einem solchen Fall die Verwertbarkeit der weiteren Aussagen nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung durch Abwägung im Einzelfall zu ermitteln75. Dies bedeutet vor allem, dass es im Gegensatz zu der ansonsten gebotenen pauschalen Betrachtung darauf ankommt, um welches Delikt es im konkreten Fall geht. Während bei Kapitaldelikten meist die Einzelfallabwägung zugunsten der Verwertbarkeit ausfallen dürfte, ist dies bei einem Delikt wie dem hier vorliegenden sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB), der als Vergehenstatbestand nur eine durchschnittliche Strafandrohung von bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe vorsieht, eher zu verneinen. Im Ergebnis führt hier die Einzelfallabwägung also zum Vorrang der Justizförmigkeit, sodass die zweite Aussage unverwertbar ist. Diese wichtige Fortentwicklung der Rechtsprechung ist vom BGH seitdem mehrfach bestätigt worden76, sodass man inzwischen schon von einer gefestigten Linie der Rechtsprechung ausgehen kann.
33(Fortsetzung des Falls Rn. 29) K. erklärt in der Hauptverhandlung nach Belehrung über sein Aussageverweigerungsrecht, er sei nach eingehender Überlegung nunmehr doch zur Aussage bereit. Er beantwortet eine Vielzahl von Fragen, die sein Unternehmen und das Verhältnis zu seinen Angestellten betreffen. Als der Staatsanwalt die Frage an K. richtet, ob er sich mit seiner Auszubildenden auch privat getroffen habe, äußert K., er habe sich die Sache überlegt und wolle jetzt von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen. Nunmehr redet der Vorsitzende dem K. ins Gewissen, „er solle doch reinen Tisch machen“ und die Aussageverweigerung noch einmal zurückziehen. K. aber bleibt stur und macht keine weiteren Angaben.
34K. braucht die Frage des Staatsanwaltes nicht zu beantworten, er darf von dem Aussageverweigerungsrecht auch zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt Gebrauch machen, ohne dass ein zuvor erklärter Verzicht bindend wäre. Es ergibt sich nun aber die Frage, ob die Verweigerung der Antwort auf die gezielte Frage des Staatsanwalts als Indiz gegen den K. gewertet werden darf. Macht der Beschuldigte bzw. der Angeklagte in vollem Umfange von seinem Aussageverweigerungsrecht zur Sache Gebrauch, kann ihm die Wahrnehmung dieses ihm gesetzlich zustehenden Rechts nicht zum Nachteil gereichen77. Sonst wäre er de facto doch zur Aussage gezwungen, um den nachteiligen Folgen zu entgehen. Hier jedoch sagt K. zum Teil aus, zum Teil verweigert er die Aussage. In solchen Fällen des partiellen Schweigens ist es erlaubt, nachteilige Schlüsse zu ziehen, denn der Angeklagte macht sich mit seiner teilweisen Aussage selbst zum Beweismittel78. Das von ihm einmal Gesagte bleibt verwertbar, auch in seiner Lückenhaftigkeit. Die Beurteilung, ob partielles Schweigen vorliegt, darf nicht formalistisch erfolgen. So ist von der umfassenden Ausübung des Aussageverweigerungsrechts auszugehen, wenn der Beschuldigte nicht zum eigentlichen Tatgeschehen, sondern nur zu Randfragen Angaben macht oder in einer allgemein gehaltenen Erklärung seine Täterschaft pauschal bestreitet79. Jedoch war das Vorgehen des Vorsitzenden, der versucht hat, den K. doch noch zu einem Verzicht auf sein Aussageverweigerungsrecht zu bewegen, rechtlich zu beanstanden. Das Schweigerecht zumindest der unverteidigten Beschuldigten darf nicht dadurch missachtet werden, dass beständig auf verschiedenen Wegen versucht wird, ihn doch noch zu Angaben in der Sache zu bringen80. Anders wäre es nur dann, wenn neue Informationen bekannt wurden, eine neue prozessuale Situation eingetreten ist oder eine gewisse Zeitspanne verstrichen ist, in der sich die Auffassung des Beschuldigten geändert haben könnte. Im vorliegenden Fall hatte das fehlerhafte Verhalten des Vorsitzenden aber keine Auswirkungen.
35A. ist des unerlaubten Entfernens vom Unfallort angeklagt. Er hat in allen Phasen des Strafverfahrens umfassend von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Die Anklage stützt den hinreichenden Tatverdacht daher allein auf die bei der Kfz-Haftpflichtversicherung des A. beschlagnahmte Schadensanzeige des A., in welcher der A. gegenüber der Versicherung den Unfallhergang geschildert und mitgeteilt hatte, er habe das Unfallfahrzeug gesteuert.
36A. war gemäß § 31 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) gegenüber der Versicherung verpflichtet, an der Sachaufklärung mitzuwirken und auch eigenes strafrechtliches Fehlverhalten zu offenbaren, sofern dieses für den Eintritt des Versicherungsfalls ursächlich war, um nicht den Versicherungsschutz – wenigstens teilweise – zu verlieren. Auf ein „Aussageverweigerungsrecht“ kann er sich gegenüber der Versicherung nicht berufen, denn dieses Recht beruht auf der StPO und gilt nämlich nicht in anderen Rechtsgebieten, wo es einen Beschuldigten nicht gibt. Das Aussageverweigerungsrecht ist spezifisch strafverfahrensrechtlicher Natur; es knüpft als Teilaspekt des Passivitätsprinzips an die formale Beschuldigtenstellung an. Es stellt sich höchstens die Frage, ob die Freiheit vor Selbstbezichtigungszwang (nemo tenetur se ipsum accusare) als verfassungsrechtliches Prinzip allgemeine Gültigkeit in allen Rechtsbereichen beansprucht und dort zu beachten ist. Das BVerfG hatte die Frage vor Jahren auf dem Gebiet des Konkursrechts zu entscheiden, wo der sog. Gemeinschuldner nach §§ 75, 100, 101 Abs. 2 KO a. F. notfalls durch Beugehaft dazu angehalten werden konnte, gegenüber dem Konkursgericht eigene Straftaten im Vorfeld der Konkursanmeldung anzugeben81. Überzeugend hat dort das BVerfG eine umfassende Freiheit vor Selbstbezichtigungszwang verneint. Die Rechtsordnung kenne kein ausnahmsloses Gebot, dass niemand zu Auskünften oder sonstigen Handlungen gezwungen werden darf, mit denen er selbst eine strafbare Handlung offenbaren müsste; dem GG sei ein solcher Verfassungsgrundsatz nicht zu entnehmen82. Ein von der Rechtsordnung auferlegter Zwang zur umfassenden Auskunftserteilung unter Einschluss strafrechtlicher Selbstbezichtigung ist gar nicht so selten83; z. B. muss der Steuerpflichtige nach der Abgabenordnung auch dann besteuerungsrelevante Sachverhalte dem Finanzamt offenbaren, wenn er damit eine eigene Straftat preisgibt (§ 93 AO)84; nach dem Volkszählungsgesetz mussten bezüglich der Wohnverhältnisse auch Sachverhalte mitgeteilt werden, wonach bußgeldbewehrte Verstöße gegen melderechtliche Bestimmungen vorlagen85.
Wenngleich die Pflicht zur strafrechtlichen Selbstbezichtigung verfassungsgemäß ist, so ist sie doch nicht verfassungsrechtlich irrelevant. Es berührt sehr wohl die Würde des Menschen, einem Zwang zur aktiven Schaffung der Voraussetzungen der eigenen Verurteilung zu unterliegen. Diesen Konflikt löst das BVerfG im Gemeinschuldner-Beschluss dadurch, dass die in nicht-sanktionsrechtlichen Verfahren unter Zwang zustande gekommenen Selbstbezichtigungen bezüglich einer Straftat nicht zweckentfremdet und nicht in einem Strafverfahren verwertet werden dürfen. Notwendiges Korrelat des Selbstbezichtigungszwangs in anderen Rechtsgebieten ist daher ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot, das verfassungsrechtlich begründet wird. Mit der Lösung des Interessenkonflikts über ein Beweisverwertungsverbot im Strafverfahren trägt das BVerfG dem verfassungsrechtlichen Prinzip Rechnung, dass niemand gezwungen werden könne, durch eigenes aktives Handeln die Grundlagen zu seiner strafrechtlichen Verurteilung zu schaffen. Z.T. tragen dem bereits einfachgesetzliche Bestimmungen Rechnung, wie z. B. das Steuergeheimnis (§§ 30, 393 AO), das prinzipiell gewährleistet, dass die Angaben des Steuerpflichtigen nur zu Besteuerungszwecken benutzt werden. Ist dies nicht der Fall, so folgt daraus – jedenfalls bei vorkonstitutionellen Bestimmungen – nicht ohne weiteres die Verfassungswidrigkeit der Regelung, sondern die Lücke muss durch unmittelbaren Rückgriff auf die Verfassung geschlossen werden, indem aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG das strafprozessuale Beweisverwertungsverbot abgeleitet wird.
Daher ist der A. im Fall zwar verpflichtet, die Schadensanzeige gegenüber der Versicherung zu machen; es stellt sich aber die Frage der Verwertbarkeit dieser Mitteilung in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren. Auf den ersten Blick scheinen dessen Voraussetzungen vorzuliegen, da A. finanzielle Nachteile erleidet, wenn er die Schadensanzeige unterlässt. Essenzielle Voraussetzung der Annahme eines Beweisverwertungsverbots nach den Grundsätzen der Gemeinschuldner-Entscheidung ist jedoch ein gesetzlicher Zwang zur Selbstbezichtigung. Erfolgen die Angaben „freiwillig“, ist das Beweisverwertungsverbot abzulehnen. Oder sieht das einschlägige Rechtsgebiet – was dem Gesetzgeber zu regeln freisteht – ein Aussage- oder Auskunftsverweigerungsrecht vor (z. B. für die Parteien im Zivilprozess § 384 Nr. 2 ZPO), bleibt es ebenfalls bei der Verwertbarkeit im Strafverfahren. Der vorausgesetzte Zwang muss ein unmittelbarer – durch Beugemittel oder Sanktionsandrohung – vermittelter sein. Hat die Verweigerung der Angaben nur faktisch nachteilige Folgen und sind diese nicht direkt erzwingbar, so ist das Beweisverwertungsverbot abzulehnen. Letzteres gilt insbesondere bei sog. Obliegenheiten wie z. B. Nachteilen bei der Anerkennung als Asylbewerber86 der Fall. Um eben eine solche Obliegenheit handelt es sich bei der Verpflichtung des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherer, eine Unfallanzeige zu machen87. Dies ist auch daran erkennbar, dass die Erfüllung der Verpflichtung von der Versicherung nicht eingeklagt und durch staatliche Vollstreckungsorgane erzwungen werden könnte88. Die rein finanziellen Nachteile des A. bei Unterlassen der Anzeige bedeuten also noch keinen Zwang; daher liegt in diesem Fall kein Beweisverwertungsverbot vor.
Eine Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs nach § 31a StVZO verfehlt dagegen bei Beachtung der Grundsätze des Gemeinschuldner-Beschlusses ihren hintergründigen Zweck: Verkehrsverstöße des Führers des Fahrtenbuchs selbst lassen sich mittels seiner eigenen Aufzeichnungen in einem Straf- oder Bußgeldverfahren gegen ihn nicht beweisen89. Selbstverständlich greift das Beweisverwertungsverbot auch dann nur ein, wenn sich der Zwang auf die Herbeiführung einer Aktivität bezieht, denn passive Duldung muss sogar der Beschuldigte im eigentlichen Strafverfahren hinnehmen und deren Ergebnisse gegen sich gelten lassen (z. B. Untersuchungen, Blutproben, Beschlagnahmen usw.)90.
36aDie Zwillingsbrüder Heinz und Egon Groß wurden vor 53 Jahren zufällig während eines Urlaubsaufenthalts ihrer schwangeren Mutter in New York geboren. Daher besitzen sie seitdem die amerikanische Staatsangehörigkeit, haben aber nie in den USA gelebt und sprechen kaum Englisch. Sie leben in Deutschland in ungünstigen sozialen Verhältnissen und haben ihre amerikanische Staatsangehörigkeit weitgehend vergessen. Eines Tages verüben sie gemeinsam einen Raubmord an einem Drogeriebesitzer in Köln und werden von der Polizei bald gefasst. Vor ihrer ersten Vernehmung erfolgt eine zutreffende Beschuldigtenbelehrung nach § 163a Abs. 4, die sie auch verstehen. Als der ermittelnde Polizeibeamte aus ihren Ausweisen die amerikanische Staatsangehörigkeit ersieht und beide fragt, ob sie der deutschen Sprache mächtig seien, bejahen diese die Frage lachend und geben bei der folgenden Vernehmung die Tat unumwunden zu. Nach Anklage vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts verweigern sie auf Anraten ihrer Verteidiger die Aussage; die Verteidiger erklären außerdem einen Widerspruch gegen die Verwertung der Geständnisse.
36bEin Beweisverwertungsverbot folgt hier nicht aus irgendwelchen Mängeln bei der Beschuldigtenbelehrung nach § 163a Abs. 4 oder in Zusammenhang mit der Beachtung dieser Rechte durch die Ermittlungsbehörden. Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch dem Wiener Konsularrechtsabkommen vom 24.4.1963 (WÜK) beigetreten, das in Deutschland mit Gesetzeskraft gilt (BGBl. 69 II 1585). Nach Art. 36 WÜK muss ein Beschuldigter mit fremder Staatsangehörigkeit darüber belehrt werden, dass er das Recht hat, eine Benachrichtigung des Konsulats seines Heimatstaates zu verlangen, wenn er in einem fremden Land festgenommen wird. Mit einer ganzen Reihe von Staaten hat die Bundesrepublik noch weitergehend sogar vereinbart, dass die Konsulate gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Staatsangehörigen von den deutschen Behörden zu verständigen seien (z. B. China, Bulgarien, Ukraine, Kuba usw.). Es fragt sich also, ob hier gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 WÜK verstoßen worden ist. Das WÜK ist als Völkervertragsrecht über Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG innerstaatlich wirksames Recht im Range eines Bundesgesetzes geworden. Inzwischen hat der deutsche Gesetzgeber auch eine entsprechende Hinweispflicht in § 114b Abs. 2 Satz 2 aufgenommen. Allerdings greift der Sinn und Zweck dieser Regelungen offensichtlich nicht in den Fällen ein, in denen der Festgenommene zwar formal eine fremde Staatsangehörigkeit besitzt, aber keinerlei oder kaum Bindungen zu diesem Staat aufweist, sondern voll im Rechts- und Kulturkreis des Staates verwurzelt ist, in dem die Festnahme stattfindet. Hier bedarf er der konsularischen Unterstützung eines ihm innerlich fernstehenden Staates nicht. Die Berufung auf Art. 36 WÜK stellt in diesen Fällen nicht mehr als einen advokatorischen Kunstgriff und Missbrauch von Verfahrensrechten dar. Gleichwohl hat der Internationale Gerichtshof (IGH) im LaGrand-Fall auf Betreiben des Bundesrepublik Deutschland die Auffassung vertreten, dass für die aus Art. 36 WÜK resultierenden Rechte allein die formale Staatsangehörigkeit entscheidend sei91. So wenig überzeugend diese Meinung auch sein mag, kann doch Deutschland als treibende Kraft dieser Position im Verfahren zur Anprangerung der USA vor dem IGH wegen völkerrechtlicher Verstöße im LaGrand-Fall nicht seinerseits die Geltung dieser Grundsätze für das eigene Land negieren. Nach Ansicht des BVerfG muss die deutsche Rechtsordnung die Auslegung der WÜK durch den IGH übernehmen92. Danach lässt sich Art. 36 WÜK im Ausgangsfall nicht teleologisch reduzieren; ein Verstoß ist trotz der Verwurzelung von Heinz und Egon Groß in Deutschland zu bejahen. Jedoch führt nicht jeder Verfahrensfehler automatisch zu einem Beweisverwertungsverbot. Bei einer Übertragung der bei Verletzung der Belehrungspflicht über das Aussageverweigerungsrecht und die Verteidigerkonsultation entwickelten Grundsätze wäre in jedem Fall ein späterer Widerspruch des Verteidigers gegen die Verwertung erforderlich93, der hier aber vorliegt. Jedoch hat der BGH inzwischen zu Recht entschieden, dass die Abwägung der widerstreitenden Interessen namentlich unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des Verstoßes hier zu einem anderen Ergebnis in der Verwertungsfrage als bei der Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht führt94. Die Belehrungspflicht nach Art. 36 WÜK knüpft nicht an den Beginn der Vernehmung an, sondern stellt allein auf die Inhaftierung ab. Ein Bezug zwischen einer Aussage und dem Verfahrensverstoß ist also höchstens indirekt gegeben. Auch bietet das Recht auf konsularischen Beistand nur ergänzenden Schutz für inhaftierte Beschuldigte mit fremder Staatsangehörigkeit und hat nicht jene zentrale Bedeutung für die Rechtsstellung von Beschuldigten wie das Aussageverweigerungsrecht und der Verteidigerbeistand. Ein Beweisverwertungsverbot ist also abzulehnen. Dennoch kann der objektive Verstoß gegen Art. 36 WÜK nicht folgenlos bleiben; er lässt sich aber kompensieren, indem bei einer Verurteilung der Beschuldigten zu einer Freiheitsstrafe einer gewisser, vom Gericht festzulegender Zeitraum als bereits verbüßte Freiheitsstrafe fingiert wird.