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2.Untersuchungshaft

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65Während vorläufige Festnahmen nur vorbereitenden Charakter haben, führen richterliche Haftbefehle vor Rechtskraft eines Urteils zur Untersuchungshaft, die in erster Linie dazu dient, die Anwesenheit des Beschuldigten während des Verfahrens zu erzwingen. Untersuchungshaft hat daher den Zweck, die Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen177. Die Sicherung der Strafvollstreckung ist jedoch nur ein sekundärer Zweck; primär soll das Urteil im Erkenntnisverfahren ermöglicht werden. Daher scheidet Untersuchungshaft keinesfalls aus, wenn Zweifel daran bestehen, ob die spätere Strafvollstreckung z. B. wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit des dann Verurteilten überhaupt jemals stattfinden wird178. Im Gegensatz zur Vorführung beschränkt sich die Vollstreckung eines Haftbefehls aber nicht darauf, den Angeklagten dem Richter schlicht zuzuführen179, sondern ist darauf gerichtet, dem Beschuldigten die körperliche Bewegungsfreiheit bis auf Weiteres zu entziehen. Die Untersuchungshaft ist damit Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG.

Trotz der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 MRK mutet der Gesetzgeber dem Beschuldigten den gravierenden Eingriff der Untersuchungshaft zu, wenn seine Anwesenheit nicht anders gewährleistet ist, denn Hauptverfahren in Abwesenheit des Angeklagten sind im deutschen Strafverfahrensrecht auf wenige Ausnahmen beschränkt. Die klassischen Voraussetzungen der Anordnung der Untersuchungshaft werden in §§ 112 ff. StPO geregelt. Für die Praxis ist aber auch der Untersuchungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 von großer Bedeutung, weil danach schon das unentschuldigte Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung zur Verhängung der Untersuchungshaft ausreicht180. Ist wegen fehlender oder verminderter Schuldfähigkeit kein Haftbefehl möglich, kommt aber die spätere Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt in Betracht, so tritt an die Stelle der Untersuchungshaft die einstweilige Unterbringung nach § 126a181. Im Bußgeldverfahren sind nach § 46 Abs. 3 OWiG Untersuchungshaft, vorläufige Festnahme und Anstaltsunterbringung unzulässig.

66Das Jugendamt zeigt den B. wegen Unterhaltspflichtverletzung (§ 170b StGB) an, da B. seit fünf Jahren für seinen nichtehelichen Sohn S. zuerst nur stockende, dann überhaupt keine Unterhaltsleistungen mehr erbracht habe. B. sei in dieser Zeit zwar meist arbeitslos gewesen, als Ingenieur hätte er jedoch leicht eine Arbeitsstelle finden können. Seit 3 Monaten arbeite er auf einer Baustelle in Saudi-Arabien und werde voraussichtlich erst in zwei bis drei Jahren wieder in die Bundesrepublik zurückkehren.

67Wenn sich B. dem Verfahren nicht freiwillig stellt, käme die Erzwingung seiner Anwesenheit durch den Erlass eines Haftbefehls in Betracht, der möglicherweise im Wege der Rechtshilfe oder eher bei zwischenzeitlichen Aufenthalten des B. in der Bundesrepublik vollstreckt werden könnte. Erste Voraussetzung dafür ist nach § 112 Abs. 1 der dringende Tatverdacht. Dies bedeutet, dass nach gegebenem Verfahrensstand ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte verurteilt werde182. Eine nur „überwiegende“ Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Missverständlich, aber in der Sache nichts anderes besagend ist die zuweilen anzutreffende Definition des dringenden Tatverdachts als „große Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist“183. Denn wenn Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe eingreifen, ist der dringende Tatverdacht unstrittig abzulehnen184. Gleiches gilt für nicht behebbare Strafverfolgungshindernisse. Nur auf einen an sich erforderlichen Strafantrag kann gem. § 130 vorübergehend verzichtet werden. Allerdings ist das Vorliegen von Rechtswidrigkeit, Schuld und der meisten Prozessvoraussetzungen der Regelfall, von dem mangels gegenteiliger Anhaltspunkte auszugehen ist. Die Maßgeblichkeit einer Verurteilungsprognose und nicht nur objektiver Täterschaft wird auch daran ersichtlich, dass der dringende Tatverdacht nur auf solche Beweise gestützt werden darf, die auch verwertbar sind185.

Dringender Tatverdacht setzt eine höhere Intensität des Tatverdachts voraus, als zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderlich ist, das nur zureichende tatsächliche Anhaltspunkte verlangt. Die Prognose über die Verurteilungswahrscheinlichkeit beruht auf dem jeweiligen Ermittlungsstand und wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass noch Unklarheiten und aufklärungsbedürftige Lücken der Ermittlungsergebnisse verbleiben. Ein hinreichender Tatverdacht i. S. von § 203, der zur Eröffnung des Hauptverfahrens notwendig ist, braucht nicht gegeben zu sein, denn hinreichender Tatverdacht wird durch die Verurteilungswahrscheinlichkeit nach Abschluss der Ermittlungen gekennzeichnet186. Der dringende Tatverdacht bezeichnet zwar einen vergleichsweise höheren Grad der Wahrscheinlichkeit; der hinreichende Tatverdacht beruht aber dafür seinem Begriff nach auf einer Ausschöpfung aller wesentlichen Aufklärungsmöglichkeiten und Erkenntnisquellen187. Dringender Tatverdacht wird demnach nicht durch Unsicherheiten im Tatsächlichen ausgeschlossen; hingegen muss der angenommene Sachverhalt alle rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, die für eine Verurteilung des Beschuldigten notwendig sind. In Rechtsfragen ist eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung nicht durchzuführen.

Aus der Anzeige des Jugendamtes, die Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen kann, ist zu entnehmen, dass B. mit großer Wahrscheinlichkeit die Tatbestandsmerkmale des § 170b StGB erfüllt hat. Er ist seinem nichtehelichen Sohn gegenüber unterhaltsverpflichtet. Wenn B. jahrelang trotz Leistungsfähigkeit keiner Beschäftigung nachgeht, verletzt er damit seine gesetzliche Unterhaltspflicht. Nach vorliegendem Ermittlungsstand ist also damit zu rechnen, dass B. wegen Unterhaltspflichtverletzung verurteilt wird. Dringender Tatverdacht kann somit bejaht werden.

68Die zweite Voraussetzung für die Anordnung der Untersuchungshaft ist ein Haftgrund (Flucht, Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr). Flucht oder Verborgenhalten liegen vor, wenn der Beschuldigte vorsätzlich seinen bisherigen räumlichen Lebensmittelpunkt aufgibt, um für die Strafverfolgungsbehörden unerreichbar zu sein188. Beispielsweise liegt dies vor, wenn er ständig den Aufenthaltsort wechselt oder falsche Namen benutzt. „Flucht“ beinhaltet nach richtiger Auffassung stets eine räumliche Komponente; daher überzeugt es nicht, wenn nach der Rechtsprechung z. T. darunter auch Situationen gefasst werden, in denen sich der Beschuldigte bewusst in einen Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt, aber sonst körperlich anwesend ist189. Eine solche extensive Auslegung des Fluchtbegriffs ist auch aus praktischen Gründen nicht mehr erforderlich, seit in § 231a diese Konstellation ausdrücklich geregelt ist. Im Fall wäre an den Haftgrund der Flucht zu denken, da B. sich in Saudi-Arabien aufhält und damit für die Strafverfolgungsbehörden nicht erreichbar ist. Jedoch setzt „Flucht“ voraus, dass sich der Beschuldigte der Strafverfolgung bewusst entzieht190. B. ist demgegenüber berufsbedingt im Ausland aufhältlich. Ihm kann nicht unterstellt werden, er habe sich schon in Erwartung eines drohenden Strafverfahrens ins Ausland abgesetzt, denn alle Haftgründe des § 112 Abs. 2 müssen aufgrund bestimmter Tatsachen begründet sein191. Aus diesem Grund kann auch nicht in den Fällen einfach Flucht angenommen werden, in denen der gegenwärtige Aufenthaltsort des Beschuldigten den Ermittlungsbehörden schlicht unbekannt ist und dieser vielleicht nicht einmal weiß, dass ein Verfahren gegen ihn anhängig ist.

69Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2) bedeutet, dass bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles es wahrscheinlich erscheint, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen wird192. Es handelt sich dabei um den klassischen Haftgrund, der bei weitem am häufigsten angenommen wird. Die Beurteilung erfordert eine einzelfallbezogene Wahrscheinlichkeitsprognose unter Berücksichtigung kriminalistischer Erfahrung. Anhaltspunkte für die Annahme von Fluchtgefahr sind beispielsweise fehlende familiäre Bindungen193, kein fester Wohnsitz, keine feste Arbeit, Auslandsbeziehungen, Verhalten in früheren Verfahren, konkrete Fluchtvorbereitungen, Verstecken von Ausweispapieren und vor ­allem die Höhe der Straferwartung. Die Praxis verfährt teilweise recht schematisch, indem bei gesetzlichen Strafandrohungen von mehr als einem Jahr Fluchtgefahr großzügig bejaht wird. Jedoch reicht die hohe Straferwartung für sich allein noch nicht aus, um Fluchtgefahr zu begründen, es handelt sich nur um ein Indiz neben anderen, das jedoch um so größeres Gewicht erlangt, je höher die Straferwartung ist194. Droht das Gesetz mehrjährige Mindeststrafen an (z. B. § 250 StGB: mindestens drei bzw. fünf Jahre Freiheitsstrafe bei schwerem Raub) liegt regelmäßig Fluchtgefahr vor. Liegt in einem Fall als einziger für Fluchtgefahr sprechender Gesichtspunkt eine hohe Straferwartung vor, so kann der Haftgrund nach § 112 Abs. 1 Nr. 1 nicht bejaht werden, denn dies ist weder mit der Unschuldsvermutung noch mit der Fassung des § 112 Abs. 3 vereinbar, der dann überflüssig wäre195. Letztlich wirkt die hohe Straferwartung nur als „Verstärker“ oder „Multiplikator“ in Hinblick auf andere Indizien, die für Flucht sprechen. Fluchtgefahr muss objektiv gegeben sein und geht daher über den Fluchtverdacht nach § 127 Abs. 1 hinaus196. Besteht tatsächlich keine Fluchtmöglichkeit für den Beschuldigten, darf ein Haftbefehl auf diesen Haftgrund nicht gestützt werden.

Die Auslandskontakte des B. im Ausgangsfall sprechen dafür, dass er sich leicht dem Verfahren entziehen könnte. Auch sind seine beruflichen und familiären Bindungen offenbar nicht besonders stabil. Dagegen ist die Straferwartung bei einer Erstverurteilung nach § 170b StGB nicht sehr hoch. Wegen des Vergehens der Unterhaltspflichtverletzung kommt es regelmäßig nur zu geringen Freiheitsstrafen oder gar der Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen (vgl. § 153a Abs. 1 Nr. 4). Bezieht man jedoch in die kriminalistische Prognose das typische Täterverhalten bei dem Vorwurf des § 170b StGB mit ein, so spricht etwas mehr dafür, Fluchtgefahr zu bejahen.

69aEin Haftbefehl muss darüber hinaus auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. § 112 Abs. 1 S. 2 verdeutlicht dies dadurch, dass die Untersuchungshaft nicht angeordnet werden darf, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregeln der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht197. Dabei ist konkret die zu erwartende Strafe unter Berücksichtigung eines eventuellen Strafrestes zu errechnen198. Dies heißt allerdings nicht, dass nicht auch einmal bei bloß drohender Geldstrafe Untersuchungshaft eingreifen könnte, falls es keine andere Möglichkeit durch Durchführung des Verfahrens gibt199. Im Ausgangsfall ist insoweit zu bedenken, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls im fernen Ausland und die dann erforderliche Überführung des Beschuldigten in die Bundesrepublik wesentlich längere Zeit in Anspruch nehmen dürfte, als an Freiheitsstrafe in einem Verfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht zu erwarten ist. Bezieht man noch die Überlegung ein, dass es sich bei B. um einen Ersttäter handelt, so ist ein Haftbefehl in diesem Fall als unverhältnismäßig zu betrachten.

Bei Taten, die mit bis zu 180 Tagessätzen bedroht sind, findet der Verhältnismäßigkeitsgedanke in § 113 gesetzlichen Ausdruck. In diesen Fällen darf die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur unter den besonderen dort genannten Voraussetzungen, wegen Verdunkelungsgefahr überhaupt nicht angeordnet werden. Gesundheitliche Gründe in der Person des Beschuldigten, die Haftunfähigkeit bedingen, führen grundsätzlich nicht zur Unverhältnismäßigkeit des Haftbefehls, sondern höchstens des Vollzugs desselben. In solchen Fällen kann zwar der Haftbefehl ergehen, aber er muss gem. § 116 außer Vollzug gesetzt werden200.

70Gegen C. wird wegen des Verdachts des § 315c StGB ermittelt, weil er im betrunkenen Zustand einen schweren Unfall verursacht hat, bei welchem sein Schwager S. lebensgefährliche Verletzungen erlitt. Als S. im Krankenhaus von Polizeibeamten aufgesucht wird, teilt er diesen mit, der C. besuche ihn täglich und versuche ihn davon zu überzeugen dass dem Familienfrieden am besten gedient sei, wenn er – der S. – von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch mache.

71Im vorliegenden Fall kann zwar von dringendem Tatverdacht ausgegangen werden, es bedarf jedoch zusätzlich eines Haftgrundes, um die Untersuchungshaft gegen C. anordnen zu können. Fluchtgefahr dürfte ausscheiden, da bei Verkehrsdelikten die Straferwartung begrenzt ist und die Beschuldigten meist aufgrund persönlich geordneter Verhältnisse Bindungen an ihren bisherigen Aufenthaltsort besitzen. Hier käme jedoch Verdunkelungsgefahr in Betracht. Ein häufig anzutreffender Fehler besteht darin, sich mit einer abstrakten Beurteilung des Begriffs der Verdunkelungsgefahr zu begnügen und diese – wie bei der Fluchtgefahr zulässig – isoliert mit kriminalistischen Wahrscheinkeitserwägungen zu begründen. So gesehen bestünde bei dringendem Tatverdacht so gut wie immer Verdunkelungsgefahr. In Wirklichkeit hat der Gesetzgeber die Verdunkelungsgefahr weit restriktiver als die Fluchtgefahr geregelt und gesetzlich in § 112 Abs. 2 Nr. 3 definiert. Danach muss aufgrund bestimmter Tatsachen durch das Verhalten des Beschuldigten der dringende Verdacht begründet sein, der Beschuldigte werde unlauter auf sächliche oder persönliche Beweismittel einwirken, und wenn deshalb Verdunkelungsgefahr droht. Daher genügen die bloße Möglichkeit oder allgemeine Erfahrungssätze aus vergleichbaren Fällen nicht, um Verdunkelungsgefahr zu bejahen201. Keine ausreichende Begründung besteht darin, dass noch ein Mittäter flüchtig ist202. Allerdings brauchen nach bisher noch überwiegender Ansicht die erforderlichen konkreten Handlungen des Beschuldigten, die auf Verdunkelungstendenzen schließen lassen, nicht unbedingt in einem Verhalten nach der Tat liegen; sie können sich auch aus früheren Verurteilungen z. B. wegen Aussagedelikten, Strafvereitelung u. Ä. oder aus der Eigenart der verfolgten Tat selbst ergeben203, z. B. wenn sich der dringende Tatverdacht auf Körperverletzungen einer jugendlichen Bande bezieht, die „Plaudertaschen“ so zum Schweigen bringen wollte.

C. hat keine sächlichen Beweismittel vernichtet, verändert, beiseite geschafft, unterdrückt oder gefälscht. Es fragt sich, ob er auf einen Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen in unlauterer Weise eingewirkt hat, indem er den Zeugen S. dazu aufforderte, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Zwar droht durch dieses Ansinnen die Gefahr, dass nach Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts, das S. nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 zusteht, die Ermittlung der Wahrheit über das Unfallgeschehen erschwert werde. Die Einwirkung muss aber auf unlautere Weise geschehen, d. h. in einer von der Rechtsordnung nicht gebilligten Form. Dazu gehört beispielsweise die Anstiftung eines Zeugen zu einer Falschaussage oder die Bedrohung eines Mitbeschuldigten. Demgegenüber hat der Beschuldigte das Recht, eigene Ermittlungen nach Entlastungszeugen aufzunehmen und diese zu befragen204. Allein dadurch, dass der Beschuldigte kein Geständnis ablegt, wird noch keine Verdunkelungsgefahr begründet, denn es ist sein gutes Recht, im Strafverfahren jede aktive Mitwirkung zu verweigern. Jedoch kann ein Geständnis im Einzelfall eine aus anderen Gründen zu bejahende Verdunkelungsgefahr beseitigen. Denn Verdunkelungsgefahr ist nicht gegeben, wenn der Sachverhalt schon in vollem Umfang aufgeklärt ist und die Beweise so gesichert sind, dass der Beschuldigte die Wahrheitsfindung nicht mehr behindern kann205. Hier gibt der Beschuldigte C. nur seinem Schwager S. – ohne ihn unter Druck zu setzen – den Ratschlag, ein ihm nach der Rechtsordnung zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch zu nehmen. Die Beschränkung der Wahrheitsfindung durch Zeugnisverweigerungsrechte sieht die Rechtsordnung selbst vor. Daher wirkt C. nicht auf unlautere Weise auf S. ein206. Haftgründe sind demnach nicht gegeben. Ein Haftbefehl kann gegen C. nicht ergehen.

72Der über 80 Jahre alte Admiral a. D. A. ist des Mordes verdächtig. Er soll 1944 als Marineattaché der deutschen Botschaft in Tokio den Befehl gegeben haben, Untersuchungsgefangene, die auf Blockadebrechern nach Deutschland verschifft wurden, im Falle der Selbstversenkung mit dem Schiff untergehen zu lassen. A. weiß seit fünf Jahren von den Ermittlungen gegen ihn. Als Anklage gegen ihn erhoben wird, ergeht gleichzeitig Haftbefehl. A. hält den Haftbefehl für rechtswidrig, zumindest verlangt er Haftverschonung.

73Es kommt Untersuchungshaft nach § 112 in Betracht. A. ist des Mordes nach § 211 StGB dringend verdächtig. Der Haftgrund Flucht liegt nicht vor. Fluchtgefahr ist abzulehnen, da aufgrund des hohen Alters des A. und des Umstandes, dass er seit fünf Jahren von dem Verfahren weiß und nicht die Flucht ergriffen hat, nicht die Wahrscheinlichkeit besteht, er werde sich jetzt dem Verfahren entziehen. Für Verdunkelungsgefahr bietet der Sachverhalt keine Anhaltspunkte. Es könnte der absolute Haftgrund nach § 112 Abs. 3 greifen. In § 112 Abs. 3 ist auch der dringende Verdacht des Mordes neben anderen Tatbeständen der Schwerstkriminalität genannt, der den Erlass eines Haftbefehls ohne Haftgrund nach Abs. 2 des § 112 erlaubt. Für diese Vorschrift ist teilweise als Begründung angeführt worden, es sei für das Volksempfinden unerträglich, wenn sich Personen in Freiheit befänden, die der dort genannten schweren Straftaten dringend verdächtig seien. Diese letzten Endes auf eine vorweggenommene Strafvollstreckung hinauslaufende Sinnverkehrung der Untersuchungshaft hat das BVerfG mit Recht zurückgewiesen207. Sie würde der Wesensgehaltsgarantie für das Grundrecht der Freiheit der Person gem. Art. 2 Abs. 2 GG widersprechen. Daher muss § 112 Abs. 3 verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass der dringende Tatverdacht allein nicht ausreicht, sondern die Untersuchungshaft die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zumindest erleichtert208. Zwar brauchen die Haftgründe des Abs. 2 nicht in der strengen Auslegung erfüllt zu sein, die den Begriffen ansonsten gegeben wird. Es reicht vielmehr aus, dass Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sind oder Wiederholungsgefahr ernsthaft befürchtet werden kann. Im vorliegenden Verfahren ist zwar die Flucht des A. nicht wahrscheinlich, jedoch trotz seines Alters wegen der hohen Straferwartung nicht völlig auszuschließen. Daher darf hier nach § 112 Abs. 3 die Untersuchungshaft gegen A. angeordnet werden. Gegen die Verhältnismäßigkeit der Anordnung der Untersuchungshaft bestehen deshalb keine Bedenken, da § 211 StGB sogar lebenslange Freiheitsstrafe androht.

74Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a) fristete in der Vergangenheit eher ein Mauerblümchendasein und wurde praktisch selten relevant. Dies liegt außer an der unübersichtlich-perfektionistischen Gesetzesfassung daran, dass einerseits sehr strenge Voraussetzungen für die Annahme der Wiederholungsgefahr gesetzlich gefordert sind, andererseits aufgrund der Subsidiaritätsklausel des § 112a Abs. 2 der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht, also auch nicht kumulativ, anwendbar ist, wenn schon ein anderer Haftgrund greift209. Regelmäßig liegt aber in den von § 112a tatbestandlich beschriebenen Fällen bereits Fluchtgefahr vor, so dass die Regelung nur in Ausnahmefällen zum Zuge kommt, z. B. bei Sexualstraftätern oder manchen jugendlichen Rechtsbrechern. Neben einer in § 112a genannten Katalogtat (Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, schwere Eigentums- und Vermögenskriminalität, Brandstiftungs- und Betäubungsmitteldelikte) muss eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein. Außerdem muss die Tat wiederholt begangen worden und auf aufgrund bestimmter Tatsachen die erneute Begehung zu erwarten sein. Bei schweren Sexualdelikten (§§ 174, 174a, 176 bis 179 StGB) sind die Voraussetzungen etwas großzügiger.

Die Wiederholungsgefahr stellt einen Fremdkörper in der StPO dar, da sie präventive Zielsetzungen verfolgt („zur Abwendung der Gefahr erforderlich“)210. Gleichwohl hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung, die eigentlich der Regelungskompetenz der Länder für das Polizeirecht unterliegt, anerkannt211. Dabei mag die geringe praktische Relevanz des § 112a eine Rolle gespielt haben; angesichts der ständigen Erweiterungen der Vorschrift durch den Gesetzgeber stellt sich die Frage aber immer wieder neu. Sie einfach mit dem Hinweis auf einen Sachzusammenhang zum Strafverfahren abzutun, der auch sonst nicht selten zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung besteht, überzeugt nicht. Die Verfassungsmäßigkeit der Norm lässt sich daher wohl nur durch eine verfassungskonforme Interpretation ähnlich wie beim absoluten Haftgrund nach § 112 Abs. 3 halten, indem als ungeschriebene Voraussetzung des § 112a zu fordern ist, dass die Haft sich in irgendeiner Weise auch förderlich auf das Strafverfahren auswirkt (z. B. Vermeidung von Fluchtrisiken), ohne dass ein Haftgrund im technischen Sinne gem. § 112 Abs. 2 vorliegt.

75Zuständig für den Erlass des Haftbefehls ist vor Erhebung der Anklage nach § 125 der Richter bei dem AG, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist oder der Beschuldigte sich aufhält212. Im Vorverfahren bedarf es hierzu grundsätzlich eines Antrags des Staatsanwalts213. Wurde bereits Anklage erhoben, so ist nach § 125 Abs. 2 das Gericht der Hauptsache für den Erlass des Haftbefehls zuständig. Für den Haftbefehl ist nach § 114 Schriftform vorgeschrieben. Er muss bestimmte in § 114 Abs. 2 genannte Mindestangaben enthalten214 und ausreichend bestimmt die Vorwürfe erkennen lassen215. In Aufbau und Struktur ähnelt der Haftbefehl einer kurzen Anklageschrift. In verschiedenen gegen denselben Beschuldigten anhängigen Verfahren (jedoch nicht in demselben) können mehrere Haftbefehle ergehen216, allerdings nicht gleichzeitig vollstreckt werden. Man spricht in diesen Fällen von Überhaft217.

75aDer sog. Europäische Haftbefehl bildet keine eigenständige Ermächtigungsgrundlage zur Festnahme neben dem Haftbefehl nach der StPO; er stellt vielmehr ein neuartiges Institut der internationalen Rechtshilfe für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dar. Das Europäische Haftbefehlsgesetz – in Wahrheit ein deutsches Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Abkommens218 – folgt dem Gedanken der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Haftbefehlen im europäischen Raum. Erfüllt ein nationaler Haftbefehl bestimmte formale Voraussetzungen, um als Europäischer Haftbefehl zu gelten, oder liegt eine Ausschreibung zur Festnahme im Schengener Informationssystem vor (SIS) vor, so bedarf es nicht eines förmlichen staatlichen Auslieferungsersuchens, wie dies im traditionellen internationalen Rechtshilfeverkehr üblich war und außerhalb Europas auch so bleibt. Deutschland liefert nunmehr unter erleichterten inhaltlichen und formalen Voraussetzungen sogar eigene Staatsangehörige an fremde Staaten aus, wenn diese dies verlangen219. Allerdings setzt die Auslieferung eines Deutschen einen maßgeblichen Bezug seiner Tat zu dem ersuchenden Staat und dessen Garantie voraus, dass der Verurteilte zur Strafvollstreckung nach Deutschland rücküberstellt wird. Unter Einhaltung eines bei der Generalstaatsanwaltschaft durchzuführenden Bewilligungsverfahrens und eines beim OLG angesiedelten Zulässigkeitsverfahrens erlaubt das Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls ohne große Probleme einen Auslieferungshaftbefehl. Eine „Klatsche“ erfuhr jetzt die deutsche Justiz durch eine Entscheidung des EuGH220, wonach deutschen Staatsanwälten die zur Ausstellung eines europäischen Haftbefehls notwendige Unabhängigkeit fehlt.

76Die Vollstreckung des Haftbefehls nach §§ 112, 125 erfolgt auf Anordnung der StA (§ 36 Abs. 2 S. 1). § 114a sieht dabei vor, dass der Haftbefehl dem Beschuldigten bekannt gegeben werden muss und ihm eine Abschrift, falls erforderlich mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache auszuhändigen ist. Nach seiner Verhaftung ist der Beschuldigte unverzüglich dem zuständigen Richter vorzuführen (§ 115). Anders als bei § 128 sind hier keine weiteren Ermittlungen gestattet221. Ist die Vorführung nicht spätestens am Tage nach der Ergreifung möglich, so ist er unverzüglich dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorzuführen, dem allerdings nur eingeschränkt das Recht zusteht, den Haftbefehl aufzuheben (§ 115a). In Befolgung europarechtlicher Vorgaben – so wie der deutsche Gesetzgeber sie versteht – sieht nunmehr § 114b eine 12 Punkte umfassende „Beschuldigtenbelehrung“ vor, die bei seiner Verhaftung, aber analog auch bei seiner vorläufigen Festnahme und dann zu erteilen ist, wenn er zu Zwecke der Identitätsklärung nur festgehalten wird (Schaubild Nr. 15). In weiten Teilen ist diese Regelung systemfremd, denn im deutschen Strafprozessrecht erfolgt die Beschuldigtenbelehrung aus Anlass der ersten Vernehmung222, während das angloamerikanische Recht an die Festnahme anknüpft. Soweit § 114b nur in einer Wiederholung von schon bei der ersten Vernehmung mitgeteilten Rechten besteht, ist er überflüssig und dient höchstens der Verhinderung von Spontanäußerungen, gegen die aber im Interesse der Wahrheitsfindung nichts spricht. Besonders merkwürdig mutet in Deutschland das Recht des Beschuldigten, „einen Arzt oder eine Ärztin seiner Wahl zu verlangen“, an. Damit wird die latente Gefahr unterstellt, dass verhaftete Beschuldigte von der Polizei körperlich misshandelt würden, ohne dass sich dies später ohne vorherige ärztliche Untersuchung beweisen ließe. Den ganz andersartigen Charakter von Belehrungsinhalten nach § 114b hat auch schon der BGH anerkannt, indem er dem Fehlen des Hinweises auf das zuständige Konsulat die Folge eines Beweisverwertungsverbots abspricht223. Dagegen bleibt es natürlich angemessen, dass gem. § 114c einem verhafteten Beschuldigten unverzüglich Gelegenheit zu geben ist, einen Angehörigen oder Person seines Vertrauens zu benachrichtigen, sofern nicht der Zweck des Verfahrens dadurch gefährdet wird. Hat ein Beschuldigter, gegen den Untersuchungshaft vollstreckt wird, noch keinen Verteidiger, so ist diesem auf seinen Antrag hin oder von Amts wegen ein Pflichtverteidiger zu bestellen (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 141 Abs. 1 und 2 Nr. 1). Die Kopflastigkeit der Beschuldigtenbelehrung bei Festnahme hat der Gesetzgeber neuerdings noch verstärkt, in dem durch das „Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013“224 weitere differenzierte Belehrungspunkte hinzugefügt wurden, die sich auf Akteneinsichtsrechte und Rechtsmittel gegen die Festnahme beziehen. Der nächste Richter hat die Aufgabe zu überprüfen, ob der Haftbefehl überhaupt noch besteht und der Festgenommene die im Haftbefehl bezeichnete Person ist225. Der zuständige Richter kann demgegenüber aufgrund der Vernehmung des Beschuldigten zu der Überzeugung gelangen, dass die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr gegeben sind und den Haftbefehl aufheben (§ 120 Abs. 1). Zwingend ist auch die Aufhebung des Haftbefehls durch den Richter im Vorverfahren auf Antrag der StA (§ 120 Abs. 3), selbst wenn aus der Sicht des Richters der Haftbefehl aufrechterhalten werden sollte, denn in diesem Verfahrensabschnitt liegt die Verfahrensherrschaft noch bei der StA. Im Vorgriff auf diese Folge seines Antrags darf der Staatsanwalt den Beschuldigten schon vorher freilassen.

77Die weitere Aufgabe des Haftrichters besteht in der Prüfung, ob nicht eine sog. Haftverschonung in Betracht kommt. § 116 Abs. 1 sieht die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls wegen Fluchtgefahr – unter Einschränkungen auch bei Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr – vor, wenn der Zweck der Untersuchungshaft auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Dies kann beispielsweise durch polizeiliche Meldeauflagen, Einbehaltung des Passes226, Aufenthaltsbeschränkungen u. Ä. erreicht werden. Die Aufzählung in § 116 ist nur beispielhaft. Die gewählte Auflage muss jedoch der Menschenwürde (Art. 1 GG) entsprechen, was z. B. bei der im angelsächsischen Raum praktizierten und neuerdings auch in Deutschland in begrenztem Maße eingeführten elektronischen Überwachung eines auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten mittels eines an seinem Körper angebrachten Peilsenders („elektronische Fessel“) fraglich erscheint. Dieses vermindert zwar die Belegungsquote der Haftanstalten, drückt aber eine objekthafte Betrachtung es Beschuldigten aus227. Verstößt der Beschuldigte gröblich gegen die im Haftverschonungsbeschluss festgelegten Auflagen oder trifft er Anstalten zur Flucht, so kann die Aussetzung der Vollstreckung der Untersuchungshaft widerrufen werden (§ 116 Abs. 4)228.

78In § 116 Abs. 1 Nr. 4 ist als Auflage ausdrücklich die Leistung einer angemessenen Sicherheit (Kaution) vorgesehen. Die Kautionsstellung besitzt im deutschen Strafprozess bei weitem nicht die praktische Bedeutung wie in den USA. Sie hat den Geruch des „Sich-Freikaufens“ an sich und ist nur bedingt wirksam. Mit dem Verlangen nach Kaution dürfen nur Sicherungszwecke zugunsten der Durchführung des Strafverfahrens verfolgt werden. Insbesondere darf nicht dadurch nach Art einer Strafe ein Rechtsgüterschutz vorweggenommen werden, dem das materielle Strafrecht dient229. Die Sicherheit verfällt nach § 124 schon dann, wenn sich der Beschuldigte bewusst (zumindest mit bedingtem Vorsatz)230 dem Verfahren entzieht, ohne dass strafrechtliche Schuld i. S. v. §§ 20, 21 StGB gegeben sein müsste, denn der Verfall der Sicherheit enthält kein sozialethisches Unwerturteil231. Unter den Voraussetzungen des § 127a kann schon die StA oder Polizei eine Sicherheit verlangen und auf die Aufrechterhaltung einer Festnahme und damit die Vorführung beim Richter verzichten.

79Zu unterscheiden ist davon das praktisch bedeutsame Kautionsverlangen nach § 132, das gerade in den Fällen in Betracht kommt, in denen kein Haftbefehl ergehen kann (z. B. im Bußgeldverfahren oder aus Verhältnismäßigkeitsgründen), aber der Beschuldigte dringend verdächtig ist und über keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt im Geltungsbereich der StPO verfügt (z. B. ausländische Kraftfahrer)232. Im Gegensatz zu der im Haftverschonungsverfahren zu leistenden Kaution dient die nach § 132 vorgesehene Leistung der Sicherung einer späteren Geldstrafe und der Verfahrenskosten. Der Gesetzgeber geht in diesen Fällen davon aus, dass auch ein Verfahren in Abwesenheit durchführbar ist (z. B. Strafbefehl oder Bußgeldverfahren). Außerdem ist sie direkt erzwingbar durch Beschlagnahme von Beförderungsmitteln und anderen dem Beschuldigten gehörenden Sachen, die er mit sich führt. Zuständig ist für das Vorgehen nach § 132 grundsätzlich der Richter, bei Gefahr im Verzug auch die StA und ihre Ermittlungspersonen.

80Der Haftrichter hat den Beschuldigten über sein Aussageverweigerungsrecht und über die Rechtsbehelfe zu belehren, die ihm gegen die Anordnung der Untersuchungshaft zustehen. Der Beschuldigte kann gegen einen Haftbefehl zwei förmliche Rechtsbehelfe wahlweise einlegen. Wie gegen jede richterliche Entscheidung ist das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 304 zulässig233, wobei die Besonderheit der Haftbeschwerde darin liegt, dass nach § 310 eine zusätzliche Beschwerdeinstanz durch die Möglichkeit einer weiteren Beschwerde zum OLG geschaffen wird. Größerer Beliebtheit erfreut sich der Rechtsbehelf der Haftprüfung nach § 117, die der Beschuldigte jederzeit beantragen kann. Sie ist schneller234, wird grundsätzlich mündlich durchgeführt und birgt nicht die Gefahr der Schaffung faktisch negativer Präjudizien. Zur Durchführung der Haftprüfung ist im Gegensatz zur Haftbeschwerde nicht das nächsthöhere Gericht berufen, sondern der erstzuständige Richter235. Zu einer mündlichen Verhandlung zwingt der Haftprüfungsantrag grundsätzlich jedoch nur alle zwei Monate (§ 118). Gegen eine negative Entscheidung im Haftprüfungsverfahren vermag der Beschuldigte immer noch Beschwerde einzulegen; jedoch können beide Rechtsbehelfe nicht gleichzeitig betrieben werden (§ 117 Abs. 2)236.

Ist der Beschuldigte erst einmal festgenommen, so dürfen der Haftbefehl und die ihn bestätigenden richterlichen Entscheidungen in einem Haftprüfungs- oder Haftbeschwerdeverfahren nach einer Entscheidung des BVerfG nur auf solche Tatsachen gestützt werden, die dem Beschuldigten vorher bekannt waren und zu denen er sich äußern konnte237. Dem ist nachhaltig zuzustimmen, denn dieser Grundsatz rechtfertigt sich nicht nur verfassungsrechtlich aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, sondern er beendet auch die skandalöse Taktik mancher Ermittlungsbehörden, die Haftprüfungsanträge und Haftbeschwerden des Beschuldigten ins Leere laufen zu lassen, weil er gar nicht weiß, welche Argumente er zu entkräften hat. Das BVerfG ist der Ansicht, dass in vielen Fällen zwar die mündliche Unterrichtung des Beschuldigten von den gegen ihn sprechenden Umständen bei der Eröffnung des Haftbefehls oder der mündlichen Haftprüfung genügen werde, aber bei komplexen, mündlich nicht mehr ohne weiteres mitteilbaren Tatsachen ein Akteneinsichtsrecht der Verteidigung bestehe. Sei Akteneinsicht aus ermittlungstaktischen Gründen nicht möglich, könne der Haftbefehl auf die geheim gehaltenen Tatsachen nicht gestützt werden und müsse gegebenenfalls aufgehoben werden.

81Hält der Richter nach Benachrichtigung der Angehörigen des Verhafteten oder einer Person seines Vertrauens gem. § 114c238 die weitere Vollstreckung des Haftbefehls für erforderlich, so veranlasst er die Überführung des Beschuldigten in die Untersuchungshaftanstalt. Der Vollzug der Untersuchungshaft erfolgt nach Maßgabe des § 119 und der landesrechtlichen Untersuchungshaftvollzugsgesetze. Der Grundgedanke des Vollzugs der Untersuchungshaft liegt darin, dass dem Beschuldigten nur solche Beschränkungen auferlegt werden dürfen, die sich aus dem Zweck der Untersuchungshaft und der Ordnung der Vollzugsanstalt ergeben (§ 119 Abs. 1). Zu diesen Beschränkungen gehört beispielsweise die Kontrolle des Besucherzugangs und des Briefverkehrs durch den Richter oder Staatsanwalt239. Eine vorweggenommene Strafhaft ist die Untersuchungshaft nicht, obwohl bei einer späteren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe die bereits erlittene Untersuchungshaft angerechnet wird (§ 51 Abs. 1 StGB). Der Unschuldsvermutung ist in der Gestaltung der Untersuchungshaft Rechnung zu tragen; er braucht keine Anstaltskleidung zu tragen, es besteht kein Arbeitszwang wie im Strafvollzug usw. Bei einem späteren Freispruch erhält der Freigesprochene für erlittene Untersuchungshaft Entschädigungszahlungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für zu Unrecht erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen.

82Die Untersuchungshaft soll möglichst nicht sechs Monate überschreiten. § 121 sieht bei Ablauf der 6-Monats-Frist eine obligatorische Haftprüfung durch das zuständige OLG vor. Diese bei den Strafverfolgungsbehörden gefürchtete Prüfung erstreckt sich auf die Frage, ob wegen der besonderen Schwierigkeiten oder des besonderen Umfangs der Ermittlungen oder wegen eines anderen wichtigen Grundes ein Urteil nicht möglich gewesen und daher die Fortdauer der Haft gerechtfertigt ist240. Stellt das OLG fest, dass die Polizei, StA oder das zuständige Gericht verzögerlich gearbeitet haben, hebt es den Haftbefehl ohne Rücksicht auf Fortbestehen der Haftgründe auf241. Der Beschuldigte muss dann aus der Haft entlassen werden. Die Berechnung des 6-Monats-Frist beginnt mit dem Erlass des Haftbefehls (nicht schon mit der vorläufigen Festnahme) und ruht mit der Vorlage der Akten beim OLG oder dem Beginn der Hauptverhandlung (§ 121 Abs. 3). Unterbrechungen des Vollzuges eines Haftbefehls z. B. wegen Haftverschonung nach § 116 zählen nicht mit.

82aDer wichtige Grund muss sich auf diejenigen Taten beziehen, die im Haftbefehl aufgeführt sind und deretwegen die Untersuchungshaft vollzogen wird242. Die besonderen Schwierigkeiten oder der besondere Umfang der Ermittlungen ist aufgrund eines Vergleichs mit einem durchschnittlichen Ermittlungsverfahren zu beurteilen243, z. B. anzunehmen bei einer ungewöhnlich großen Zahl aufklärungsbedürftiger Einzeltaten, zu vernehmender Zeugen oder Mitbeschuldigter, umfangreichen Gutachten u. Ä. Bedenklich erscheint es, die Ausübung des Aussageverweigerungsrechts durch den Beschuldigten und eine damit bewirkte Verlängerung der Ermittlungen als wichtigen Grund anzuerkennen244, denn dies ist nicht außergewöhnlich. De facto würde dann Aussagezwang vorliegen. Andere wichtige Gründe sind Überlastung und Bearbeitungsengpässe bei Gericht und der StA, wenn es sich um kurzfristige, nicht oder kaum vorhersehbare und durch organisatorische Maßnahmen nicht behebbare Schwierigkeiten handelt245. Dauerhafte Überlastung stellt dagegen einen justizinternen Organisationsmangel dar, der mit dem Anspruch des Beschuldigten nach Art. 6 MRK auf zügige Behandlung seiner Sache nicht vereinbar ist246. Der wichtige Grund ist eng auszulegen, da der Freiheitsentzug des noch nicht verurteilten Beschuldigten den Strafverfolgungsbehörden ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert247. Beschließt das OLG die Fortdauer der Haft, so muss es den wichtigen Grund darlegen und darf sich in seinem Beschluss nicht mit formelhaften Wiederholungen des Gesetzestextes begnügen248. Kommt es später zu einer Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe, so endet die Untersuchungshaft mit der Rechtskraft des Urteils und der anschließenden Einweisung in eine Justizvollzugsanstalt und geht damit in die Strafhaft über.

Grundlagen des Strafverfahrensrechts

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