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IV.Zielkonflikte im Strafverfahren

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13Die Durchführung des Strafverfahrens stellt keinen Selbstzweck dar62, sondern zielt zunächst auf die Verwirklichung des einzelnen Strafanspruchs ab. Rechtssoziologische Betrachtungen, die in der Verfahrensdurchführung selbst den sozialen Sinn des Strafverfahrens sehen, enthalten zwar brauchbare Ansätze zur Beschreibung sozialpsychologischer Wirkungen des Strafverfahrens, sind aber normativ nicht fundiert. Immerhin lassen sie Äußerlichkeiten (z. B. Robenzwang, Architektur der Gerichtsgebäude) und Rituale der Hauptverhandlung (z. B. Aufstehen bei der Urteilsverkündung) verständlicher erscheinen; diese sind aber gerade nicht strafprozessrechtlich verankert. Rechtlich bleibt es bei der primären Aufgabe des Strafverfahrens, die nach materiellem Strafrecht richtige Entscheidung zu finden.

Voraussetzung dafür ist zunächst die Findung der materiellen Wahrheit, d. h. die Ermittlung des wirklichen Geschehens – anders als im Zivilprozess, wo das Prinzip der formellen Wahrheit gilt und die Parteien durch ihren Vortrag über den Sachverhalt verfügen, der vom Gericht zugrunde gelegt werden muss. Die Ausweitung von Beweisverwertungsverboten durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung sowie Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht (§ 257c) entfernen den Strafprozess allerdings inzwischen in bedenklichem Maße vom Prinzip der materiellen Wahrheit. Im Strafverfahren besteht der rechtsstaatliche Auftrag zur möglichst umfassenden Wahrheitsermittlung als Ausfluss des Gerechtigkeitsgedankens63; er besteht im öffentlichen Interesse und unterliegt nicht der Disposition der Verfahrensbeteiligten, z. B. im Rahmen einer „Verständigung“ zwischen StA und Verteidigung.

13aDiese grundlegende Aufgabenstellung darf jedoch nicht dahin missverstanden werden, dass es Ziel des Strafverfahrens sei, Wahrheitsfindung um jeden Preis zu betreiben64. Die StPO und das GG lassen nicht jede nur wirksame Methode zu, um festzustellen, ob der Beschuldigte eine Straftat wirklich begangen habe, sondern in der Rechtsordnung ist das Strafverfolgungsinteresse nur ein Wert, der in mannigfache Spannungsverhältnisse mit anderen anerkannten Rechtswerten treten kann. So dienen zahlreiche Vorschriften der StPO nicht der Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses, sondern dem Schutz anderer Rechtsgüter, wie beispielsweise das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen nach § 52 dem Schutze des familiären Friedens oder das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden nach § 136a dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Ein unter Beachtung dieser einschränkenden Vorschriften prozessordnungsgemäß (justizförmig) zustande gekommenes Urteil kann u. U. dem Ziel der materiell richtigen Entscheidung widersprechen, wenn beispielsweise wegen der Nichtverwertbarkeit einer glaubwürdigen Zeugenaussage der Richter entgegen seiner inneren Überzeugung freisprechen muss. Diese Zielkonflikte lassen sich nicht prinzipiell – etwa zugunsten des Strafverfolgungsinteresses oder der Justizförmigkeit – lösen, sondern sind eine Frage der Anwendung und Auslegung der jeweils betroffenen Vorschriften.

14Bei der Begrenztheit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten kann es natürlich dazu kommen, dass das angestrebte Ziel der materiell richtigen Entscheidung im Strafverfahren verfehlt wird. Erfolgt die Feststellung in Form eines rechtskräftigen Urteils, so kann nur im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens nach §§ 359 ff. oder einer nicht justiziablen Gnadenentscheidung dem wahren Sachverhalt Rechnung getragen werden. Man spricht teilweise aufgrund der Rechtsbeständigkeit der Urteile von einer rechtsfriedenschaffenden Funktion des Strafverfahrens65. Das trifft jedoch für die zahlenmäßig weitaus größere Form der Erledigung von Strafverfahren, nämlich die Einstellung, nicht zu, da eine Einstellungsentscheidung nicht oder nur sehr bedingt in Rechtskraft erwächst.

15Der Hausdetektiv eines Kaufhauses beobachtet, wie der ca. zehnjährige A. eine Spielzeugpistole in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Der Geschäftsführer des Kaufhauses stellt Strafantrag und verlangt von dem eilig herbeigerufenen Polizeimeister P., dass er den K. und dessen elterliche Wohnung nach gestohlenen Sachen durchsuche.

16Eine Durchsuchung des K. nach § 102 scheitert daran, dass Verdächtiger i. S. dieser Vorschrift nur jemand sein kann, der als Täter einer verfolgbaren Straftat in Betracht kommt66. K. kann jedoch wegen offensichtlicher Strafunmündigkeit nicht verfolgt werden (§ 19 StGB). Nach § 103 ist hingegen auch die Durchsuchung von anderen Personen (Nichtverdächtigen) möglich. Es fragt sich jedoch, ob mit der geforderten Durchsuchung ein nach der StPO zulässiger Verfahrenszweck verfolgt wird. Das Strafverfahrensrecht hat eine dem materiellen Strafrecht dienende Funktion. Die Verfolgung privater Interessen ist dagegen die Aufgabe des Zivilrechts oder Zivilprozessrechts67. Auch die Befriedigung der zivilrechtlichen Ansprüche des durch die Straftat Verletzten ist nicht Zweck des Strafverfahrensrechts. Privatklage (§§ 374 ff.) und Nebenklage (§§ 395 ff.) ermöglichen es dem Verletzten lediglich, die strafrechtliche Verurteilung des Täters zu betreiben, lassen jedoch zivilrechtliche Ansprüche unberührt. Nur wenige Ausnahmevorschriften der StPO dienen der Verwirklichung zivilrechtlicher Interessen. Dazu gehören das sog. Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff.) und die neuen Vorschriften über die Vermögenseinziehung (§ 111b StPO i. V. m. §§ 73, 75 StGB), soweit die von den Strafverfolgungsorganen belegten Vermögenswerte letztlich dem Verletzten zufließen sollen. In keinem Fall rechtfertigen private Interessen die Durchführung des Strafverfahrens selbst.

In letzter Zeit versucht der Gesetzgeber unter dem populären Schlagwort „Opferschutz“ im Strafprozess die Rechte des Verletzten zu stärken68, z. B. durch Mitteilungspflichten über den Verfahrensausgang (§ 406d), Akteneinsicht über einen Rechtsanwalt (§ 406e), das Recht auf einen Zeugenbeistand (§ 406f), Begrenzung von Personalienangaben (§ 68) sowie der Video-Vernehmung (§§ 58a, 255a)69 und eine Einbeziehung des Täter-Opfer-Ausgleichs in den § 153a Nr. 5. Jedoch sind derartigen Tendenzen Grenzen gesetzt, denn strafprozessualer Opfer- und Zeugenschutz geht regelmäßig auf Kosten der Wahrheitsfindung. Abschirmung von Zeugen und Sachaufklärung verhalten sich wie kommunizierende Röhren. Treffend bemerkt Robra, „eine weitgehende Reprivatisierung von Täter-Opfer-Konflikten wäre in Wahrheit eine Reprimitivisierung des Strafprozesses und eine Umkehrung seiner langen Entwicklung zu höherer Rationalität“70. Strafprozessual unproblematisch ist dagegen eine Stärkung von Opferrechten im materiellen Strafrecht durch den sog. Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a StGB) oder durch besondere Gesetze wie das Opferentschädigungsgesetz (OEG) und das Opferanspruchssicherungsgesetz (OASG), das zugunsten des Opfers ein Pfandrecht an finanziellen Forderungen des Täters infolge einer öffentlichen Darstellung z. B. in den Medien begründet71.

17Ebenso wenig wie die Verfolgung privater Interessen ist es Aufgabe des Strafprozesses, Gefahrenabwehr zu ermöglichen. Diese ist vielmehr Gegenstand des materiellen Polizeirechts. Die Verfolgung präventiver Zwecke stellt einen Fremdkörper in der StPO dar, der nur in wenigen Ausnahmevorschriften durch den Sachzusammenhang mit dem Ziel der Strafverfolgung gerechtfertigt werden kann, wie dies z. B. für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a) und die einstweilige Unterbringung nach § 126a angenommen wird. Zahlreiche andere Normen der StPO, denen auf den ersten Blick präventiver Charakter zugesprochen wird (z. B. § 81b 2. Alt., § 94 Abs. 3), entpuppen sich bei näherer Betrachtung als in Wirklichkeit durchaus systemtreu „repressiv“72. Von dem direkten Rechtsgüterschutz durch das materielle Polizeirecht ist strikt die mittelbare Prävention zu unterscheiden, die jeglicher Strafverfolgung zu eigen ist und sich mit den allgemeinen Straftheorien verbindet, wonach zum Sinn des Strafens die Spezial- und Generalprävention gehört73. Strafrechtsspezifische Prävention erfolgt jedoch nur indirekt, nämlich aufgrund der erzieherischen Einwirkung auf den Täter mittels einer Übelzufügung (Strafe) und nicht unmittelbar wie im Polizeirecht durch Abwehr und Beseitigung von Gefahren für konkret bedrohte Rechtsgüter74. Daher besagt der Aspekt der polizeirechtlichen Aufgabenstellung „Verhütung von Straftaten“ seiner Qualität nach etwas völlig anderes als die vom Strafverfahren ermöglichte Spezial- und Generalprävention. Strafrecht und Strafverfahrensrecht sind nicht Teilgebiete des Polizeirechts. Weder ist es zulässig, mittels des polizeirechtlichen Instrumentariums Strafen zu verhängen75 oder aufzuklären noch Ermittlungseingriffe im Strafverfahren vorzunehmen, um Gefahrenlagen zu bewältigen76. Die Ausschaltung von Gefahren darf höchstens – nicht bezweckter – Nebeneffekt strafprozessualer Maßnahmen sein77, wie sich dies bei Untersuchungshaft und Beschlagnahmen im Dienste des Verfolgungszwecks zuweilen ergibt. Umgekehrt ist polizeirechtliches Einschreiten nicht gestattet, um Zwecke der Strafverfolgung zu erreichen. Rein konstruktiv wäre es denkbar, bei Gefährdungen des Strafanspruchs eine polizeirechtliche Gefahr zu begründen. Was jedoch zur Durchsetzung des Strafanspruchs geschehen darf und dem Bürger insoweit an Belastungen zuzumuten ist, ergibt sich abschließend aus dem Strafverfahrensrecht. Ein genereller Vorrang des einen Rechtsgebiets vor dem anderen kommt weder dem Strafprozessrecht noch dem Gefahrenabwehrrecht zu; das Auftreten eines zureichenden Verdachts einer Straftat sperrt damit auch nicht die Anwendung polizeirechtlicher Vorschriften, soweit es nur um die Abwehr konkreter Gefahren geht78.

Abb. 1: Straftatenpyramide in der StPO


Geht man im Kaufhausfall davon aus, dass die Strafunmündigkeit des K. sofort erkennbar ist und eine Beteiligung von älteren Personen nicht in Betracht kommt, besteht für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens kein Anlass. Durchsuchungsmaßnahmen können daher weder auf § 102 noch auf § 103 gestützt werden. K. dürfte lediglich nach den einschlägigen Ermächtigungsnormen des Polizeirechts zum Schutz privater Rechte durchsucht werden, was jedoch stets eine Ermessensentscheidung des P. wäre. Ob eine Durchsuchung der elterlichen Wohnung nach Polizeirecht zulässig wäre, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

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