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II.Vernehmung des Beschuldigten 1.Grundsätzliches

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26Die Angaben des Beschuldigten sind im formellen Sinne kein Beweismittel. § 244 Abs. 1 formuliert, dass nach der Vernehmung des Angeklagten die Beweisaufnahme folge. Gleichwohl ist die Aussage des Beschuldigten ein wesentliches Mittel zur Wahrheitsfindung, nicht viel anders als eine Zeugenaussage. Die Aussage eines Angeklagten gehört zum Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261) und wirkt deshalb unmittelbar auf die Überzeugungsbildung des Gerichts ein18. Der Beweiswert der Angaben des Beschuldigten lässt sich nicht mit der Behauptung herabsetzen, er dürfe ja lügen19. Die Angaben des Beschuldigten unterliegen vielmehr nach § 261 der freien Beweiswürdigung des Richters, der dem Beschuldigten allerdings auch nicht jede Einlassung abzunehmen braucht, die nach seiner Überzeugung nur eine Schutzbehauptung darstellt. Ebenso unterliegt die Glaubwürdigkeit eines Geständnisses der freien Beweiswürdigung und ist für den Richter nicht bindend20.

27Die erste Vernehmung des Beschuldigten kann vor der Polizei, dem Staatsanwalt oder dem Ermittlungsrichter stattfinden. Nach § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB führt sie zur Unterbrechung der Verjährung21. Für den Beschuldigten besteht – anders als im eingeschränkten Maße bei Zeugen (§ 163 Abs. 3) – keine Verpflichtung, einer Ladung zur polizeilichen Vernehmung Folge zu leisten. Lässt er sich von Beamten des Polizeidienstes vernehmen, so haben diese ihm dabei zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird (§ 163a Abs. 4 S. 1). Mit der „Tat“ meint das Gesetz nicht etwa eine schlagwortartige Bezeichnung der Rechtsvorschrift, gegen die der Beschuldigte verstoßen haben soll („wegen Diebstahls, Mords“ usw.), sondern das tatsächliche Geschehen, das ihm zum Vorwurf gemacht wird. Der ihm zur Last gelegte Sachverhalt muss ihm wenigstens in groben Zügen eröffnet werden, was z. B. nicht geschehen ist, wenn ihm der inzwischen eingetretene Tod des Opfers verschwiegen wird22. Ein vernehmender Richter oder Staatsanwalt muss dem Beschuldigten darüber hinaus eröffnen, welche Strafvorschriften in Betracht kommen (§ 136 Abs. 1 S. 1). Für die staatsanwaltschaftliche oder richterliche Vernehmung besteht eine Erscheinungspflicht des Beschuldigten, die notfalls durch Vorführung erzwungen werden kann (§ 163a Abs. 3, §§ 133 ff.)23. In jedem Falle ist der Beschuldigte bei seiner ersten Vernehmung über sein Aussageverweigerungsrecht und die Möglichkeit zu belehren, dass er auch schon vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen kann. Die Beamten müssen es ihm ermöglichen, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auch das Recht, zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen zu beantragen, gehört zu den Belehrungspflichten nach § 136, die ebenfalls für polizeiliche Vernehmungen gelten (§ 163a Abs. 4 S. 2). In den Fällen der notwendigen Verteidigung24 ist der Beschuldigte darauf aufmerksam zu machen, dass er einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers stellen kann. Bei weiteren Vernehmungen des Beschuldigten zu einem späteren Zeitpunkt brauchen diese Belehrungen nicht wiederholt zu werden, falls sich nicht der Tatvorwurf durch Aufnahme zusätzlicher Taten im prozessualen Sinne erweitert hat25. Die Formulierung der Belehrung braucht nicht in jeder Beziehung dem Wortlaut des Gesetzes zu entsprechen, sondern muss nur auf einer dem Beschuldigten verständlichen Sprachebene die Inhalte der Belehrung sinngemäß wiedergeben. Erfasst der Beschuldigte aus in seiner Person liegenden Gründen die Belehrung nicht (z. B. alkoholisiert, unkonzentriert), obwohl der Beamte alles getan hat, um sich verständlich auszudrücken, so behauptet der BGH ein Beweisverwertungsverbot26.

Aus dem Amtsermittlungsgrundsatz ergibt sich, dass die Vernehmung dem Beschuldigten Gelegenheit geben soll, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen (§ 136 Abs. 2). Inhaltlich soll sich die Vernehmung auch auf die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten erstrecken (§ 136 Abs. 3). Falls das Verfahren nicht zur Einstellung führt, muss der Beschuldigte spätestens vor Abschluss der Ermittlungen gem. § 163a Abs. 1 vernommen werden, damit vor einer Anklageerhebung dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird. Ansonsten fehlt es an einer Prozessvoraussetzung27. In geeigneten Fällen genügt es allerdings, ihm Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung zu geben28 und auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs (§ 46a StGB) hinzuweisen.

Bei der richterlichen Vernehmung des Beschuldigten besitzt der Verteidiger ein Anwesenheitsrecht (§ 168c Abs. 1); ebenso kann der Verteidiger verlangen, bei der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung des Beschuldigten zugelassen zu werden (§ 163a Abs. 3 S. 2). Dies gilt jetzt auch für die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung (§ 163a Abs. 4 S. 3 i. V. m. § 168c Abs. 1 und 5). Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden (§ 136 Abs. 4 S. 1). Bei Verdacht eines vorsätzlichen Tötungsdelikts oder geistig-seelischer Behinderungen des Beschuldigten sind solche Videoaufzeichnungen sogar gesetzlich zwingend.

28Im Anzeigenteil einer Tageszeitung fällt dem Kriminalbeamten K. folgendes Inserat auf: „Partnervermittlung für Sie und Ihn – schnell, preiswert, diskret. Telefon … 10.00 bis 20.00 Uhr.“ K. nimmt an, hinter der Anzeige stehe ein Betrieb, in welchem Prostituierte ausgebeutet würden (§ 180a StGB). Er wählt die angegebene Rufnummer an, verschweigt seiner Gesprächspartnerin seine amtliche Eigenschaft und vermittelt aus ermittlungstaktischen Gründen den Eindruck, er sei an seiner solchen Partnervermittlung interessiert. Der Verdacht einer strafbaren Handlung bestätigt sich, als ihm nunmehr weitere Einzelheiten der Kontaktanbahnung mitgeteilt werden.

28aEs fragt sich, ob die Äußerungen der Gesprächsteilnehmerin des K. in einem Verfahren gegen sie wegen § 180a StGB verwertbar sind. Dies ist unter zwei Gesichtspunkten fraglich: zum einen könnte es sich bei dem Telefongespräch um eine erste Vernehmung einer Beschuldigten gehandelt haben, bei welcher K. die Belehrungen nach § 163a Abs. 4 hätte vornehmen müssen. Zum anderen wäre der Fall einer Täuschung i. S. v. § 136a mit der dort in Abs. 3 vorgesehenen Folge eines Beweisverwertungsverbots denkbar. In beiden Fällen müsste es sich bei dem Telefonat um eine „Vernehmung“ gehandelt haben. Begriffliche Voraussetzungen einer Vernehmung sind keinesfalls besondere Förmlichkeiten wie z. B. Ladung, Belehrung, Protokollierung usw. Es sind auch formlose Vernehmungen denkbar. Die Anwendung gewisser Formvorschriften (z. B. §§ 136, 163a Abs. 4, 168c) ist umgekehrt die Folge dessen, dass eine Vernehmung sachlich vorliegt. Der formlose Charakter des Telefongesprächs, das K. geführt hat, schließt also die An­nahme einer Vernehmung oder vernehmungsähnlichen Situation nicht aus. Die klassische Begriff der Vernehmung (im engeren Sinne) – wie sie der StPO vorschwebt – setzt allerdings die persönliche Anwesenheit einer fragenden und einer befragten Person voraus, wie man u. a. den §§ 163a, 161a, 49 f., 133 ff. entnehmen kann. Schriftliche29 und telefonische Befragungen könnten aber den Begriff der Vernehmung im weiteren Sinne oder vernehmungsähnlichen Situation erfüllen, für die dann dieselben Belehrungsregeln wie bei Vernehmungen im engeren Sinne gelten müssen30. Dies könnte hier der Fall sein, wenn die weiteren Voraussetzungen einer Vernehmung gegeben wären.

Die StPO enthält keine Legaldefinition der Vernehmung, jedoch lassen sich einzelne Begriffselemente herausarbeiten, die vom Gesetz unterstellt werden. Zunächst setzt eine Vernehmung eine Befragung voraus; im Gegensatz dazu fallen Spontanäußerungen nicht unter den Begriff31. Die Formulierung der Frage muss nicht „konkret“ oder „detailliert“ sein; es kann auch in sehr pauschal gehaltener und allgemein formulierter Form „gezielt“ gefragt werden. Entscheidend ist für die Abgrenzung vielmehr, von wem die Initiative zur Mitteilung ausgeht bzw. bei wem das Informationsinteresse liegt. Äußert sich eine Person ungefragt oder sucht sie von sich aus Strafverfolgungsbehörden auf, um dort Mitteilungen zu machen, liegt eine Spontanäußerung vor. Einzelne Verständnisfragen eines Beamten, mit denen der Redefluss unterbrochen wird, lassen den Charakter der Spontanäußerung noch nicht entfallen. Da hier K. den Kontakt durch seinen Anruf aufnahm und sein Interesse nach Information zum Ausdruck brachte, lag keine Spontanäußerung, sondern eine gezielte Befragung vor.

Die Befragung muss weiter zu Zwecken der Strafverfolgung stattfinden, was hier ebenfalls bejaht werden kann, da K. der Anzeige den Verdacht einer Straftat nach § 180a StGB entnahm, die er aufklären wollte. Ist die Zielrichtung dagegen primär präventiv oder sonst anders orientiert, so ist grundsätzlich eine Vernehmung i. S. d. StPO nicht gegeben32. Anders ist dieses nur im Zusammenhang mit dem Schutz der Zeugnisverweigerungsrechte nach § 252, bei dem entsprechend dem dortigen Schutzzweck (familiärer Friede, Vertrauensbeziehungen) der Vernehmungsbegriff auch auf präventiv-polizeiliches Handeln erstreckt werden muss33. Ferner gehört zum Vernehmungsbegriff, dass eine Strafverfolgungsperson die Befragung durchführt34. Wird jemand von Privatpersonen ausgehorcht – z. B. einem Privatdetektiv oder Mitgefangenen in der Haft – so liegt keine Vernehmung vor35. Auch ein Verteidiger nimmt bei eigenen Ermittlungen keine „Vernehmung“ vor36. Hier wurde K. durchaus in seiner amtlichen Eigenschaft als Polizeibeamter tätig, der nach § 163 der Strafverfolgungspflicht unterliegt. Jedoch fehlt es an einem weiteren Erfordernis der Vernehmung, was das LG Stuttgart37 im vorliegenden Fall verkannt hat: die amtliche Eigenschaft muss nach außen deutlich werden. Dies ergibt sich schon aus dem Wortsinn „Vernehmung“, in dem ein autoritatives Informationsverlangen im Gegensatz zu zwang­losen Gesprächen oder Unterhaltungen privaten Anstrichs zum Ausdruck kommt. Es ist auch dem Sinn der Belehrungsvorschriften zu entnehmen, welche eine Vernehmung voraussetzen, denn sie haben die Aufgabe zu verhindern, dass sich der Bürger, der sich einem Auskunftsverlangen eines Beamten ausgesetzt sieht, irrtümlich verpflichtet glaubt, antworten zu müssen, da kraft staatlicher Autorität gefragt wird. Diese Gefahr besteht aber nur, wenn der Strafverfolgungsbeamte als solcher erkennbar ist. Auch vom praktischen Ergebnis her kann nicht jede formlose Befragung eines Strafverfolgungsbeamten zu Zwecken der Strafverfolgung schon eine Vernehmung sein, ohne dass der amtliche Charakter offengelegt wird, weil dann jede Gesprächsführung eines Verdeckten Ermittlers eine nach § 136a verbotene Täuschung und unverwertbar wäre, was offensichtlich dem Willen des Gesetzgebers (vgl. § 110a) und der ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit verdeckten Ermittlungsmethoden widerspräche38. Diese Grundsätze hat der BGH im Sedlmayr-Urteil und im Hörfallen-Beschluss ausdrücklich anerkannt; danach gehört zum Begriff der Vernehmung, dass der Vernehmende dem zu Vernehmenden in amtlicher Funktion (z. B. als Polizei- oder Zollbeamter, als Staatsanwalt oder Richter) gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihm Auskunft verlangt39. Im Ergebnis lag im Fall also keine Vernehmung und auch keine vernehmungsähnliche Situation vor, da K. sich nicht als Polizeibeamter zu erkennen gab. Weder aus § 163a Abs. 4 noch § 136a ergibt sich ein Beweisverwertungsverbot40. Die Vorgehensweise der Polizei im Ausgangsfall (Rn. 28) wäre allenfalls dann zu beanstanden gewesen, wenn die Beschuldigte bei früherer Gelegenheit in dem gegen sie gerichteten Ermittlungsverfahren die Erklärung abgegeben hätte, keine Angaben machen zu wollen; in diesem Falle verdichtet sich der allgemeine Schutz der Selbstbelastungsfreiheit in der Weise, dass die Strafverfolgungsbehörden die Entscheidung eines Beschuldigten für Schweigen grundsätzlich zu respektieren haben41. Aber auch dann setzt ein Verstoß wohl beharrliche Einwirkungen der Polizei wie wiederholte Anrufe voraus.

28bAuf einer nächtlichen Streifenfahrt bemerken zwei Beamte der Schutzpolizei einen Pkw, der einen Laternenpfahl gerammt hat. Drei männliche Personen mittleren Alters stehen um das Fahrzeug herum und betrachten dieses ratlos. Als die Beamten aus dem Streifenwagen aussteigen, nehmen sie bei allen drei Personen Alkoholgeruch wahr. Ein Beamter fragt: „Hat jemand von Ihnen das Fahrzeug gesteuert?“ Nunmehr gibt sich der Fahrer zu erkennen, gegen den wegen der Alkoholfahrt später Anklage erhoben wird.

28cEs fragt sich, ob der Beamte seine Frage mit den Hinweisen nach § 163a Abs. 4, insbesondere auf das Aussageverweigerungsrecht, hätte verbinden müssen. Dies wird z. T. mit der Begründung verneint, in einer solchen frühen Phase des „Herumfragens“, um sich erst einmal zu orientieren, sei eine sog. informatorische Befragung anzunehmen, in welcher die Belehrungsvorschriften noch nicht eingriffen42. Dies ist jedoch missverständlich. An den Begriffsvoraussetzungen einer Vernehmung fehlt es auch bei einer „informatorischen Befragung“ nicht, denn es handelt sich um eine Befragung eines Strafverfolgungsbeamten zu Strafverfolgungszwecken kraft erkennbarer staatlicher Autorität. Es liegt auch nicht nur „Vernehmungsähnlichkeit“ vor, sondern angesichts persönlicher Anwesenheit der Beteiligten eine echte Vernehmung. Die Formlosigkeit der Befragung und das Fehlen besonderer Rituale schließt den Vernehmungscharakter nicht aus. Daher ist der Begriff der informatorischen Befragung nicht als Gegensatz zur Vernehmung zu betrachten43. Er sollte besser ganz vermieden werden44.

Abb. 4: Berechtigung, nicht auszusagen


Dennoch ist im Ergebnis richtig, dass in einer Situation wie der dargestellten keine Belehrung nach § 163a Abs. 4 erfolgen musste. Dies liegt jedoch nicht daran, dass es nicht um eine Vernehmung gehandelt hätte, sondern dass nicht die erste Vernehmung des Beschuldigten vorlag, wie die Vorschrift es verlangt. Die drei vorgefundenen Personen kamen aus der Sicht des Streifenbeamten lediglich als Täter der Trunkenheitsfahrt in Betracht, wurden aber noch nicht von ihm aufgrund eines von ihm angenommenen zureichenden Verdachts befragt. Es ging ihm in dieser Vorphase vielmehr darum, erst den konkretisierten Anfangsverdacht gegen eine Person zu gewinnen. Die drei angetroffenen Personen waren lediglich Verdächtige und damit Zeugen, deren Vernehmung noch nicht den Belehrungserfordernissen nach § 163a Abs. 4 (bzw. § 136) unterliegt45. Wenn man also den Begriff der informatorischen Befragung überhaupt verwenden will, sollte man ihn als „Vernehmung des Verdächtigen“ definieren. Mangels Beschuldigtenstatus war im letzten Fall daher trotz Vorliegens einer Vernehmung keine Beschuldigtenbelehrung erforderlich. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass gegenüber verdächtigen Zeugen gem. § 55 Abs. 2 eine auch Belehrung vorgeschrieben ist, wenn auch nur über ein sog. Auskunftsverweigerungsrecht, das in seinem Umfang hinter dem Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten zurückbleibt46. Als der Beamte die Frage nach dem Fahrer stellt, ist ihm klar, dass einer der Anwesenden darauf positiv antworten könnte und er gegen diesen dann sofort zumindest ein Bußgeldverfahren, wenn nicht ein Strafverfahren einleiten würde. Dem Beamten ist also klar, dass die befragten Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 besitzen. Daher muss er ihnen auch mitteilen, dass dieses Recht besteht.

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