Читать книгу Rosa-weiße Marshmallows - Bettina Ehrsam - Страница 10

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Lisa machte in ihren mit Strasssteinen besetzten Stoffschuhen ein paar vorsichtige Schritte in den Stall. Wände und Boden waren nass. Links neben ihr rauschte es leise. Der schwarze Schlauch lag nachlässig aufgerollt in der Ecke, und aus der Messingspritze drang ein feiner Strahl Wasser.

Beim Frühstück hatte sie erfahren, dass Tom, jetzt wo die Kühe auf der Weide blieben, den Stall schrubben wollte.

Von den feuchten Wänden und dem Boden ging ein übler Geruch aus. Als sie Tom so beobachtete, wie er in schwarzen Gummistiefeln und blauen Stallhosen mit einer Art Schneeschaufel über den nassen Boden kratzte und den aufgeweichten Mist vor sich herschob, wusste sie auf einmal nicht mehr, was sie ihm eigentlich hatte sagen wollen. So leise, wie sie gekommen war, drehte sie sich um und verließ den Stall.

Das Kratzen hörte auf.

„Du hast Farbe bekommen und bist kräftiger geworden“, hörte sie Toms Stimme hinter sich.

Dana war auf einmal in ihrem Kopf: ‚Zurückhaltung beim Essen! Dicke Mädchen machen keine gute Partie.‘ Lisa streckte die Wirbelsäule durch, bevor sie sich Tom zuwandte. Abgestützt auf den Schaufelstiel grinste er sie an. Seine Fingernägel waren kurz geschnitten und die Knöchel an der Hand aufgeschürft.

„Was erwartest du? Dreimal am Tag essen, da wird jede fett“, sagte Lisa und erschrak selbst über die Heftigkeit in ihrer Stimme.

Tom zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern und schob weiter den Mist zusammen. Dann stellte er den Schieber an die Wand, nahm die Schaufel und lud alles auf die Schubkarre.

„Ich ...“, begann Lisa.

Zwei Fliegen umkreisten seinen Hut auf dem Fenstersims. Dann schaute sie wieder zu ihm. Er hatte den Unterkiefer nach vorne geschoben und arbeitete weiter, als wäre sie gar nicht anwesend. Wie Agnes, dachte sie und biss sich auf die Lippen. Warum hatte sie so heftig reagiert? Ohne etwas Bestimmtes zu sehen, blickte sie aus dem Stallfenster und begann, das Weiche unter ihrem Fuß gleichmäßig zu verteilen.

„Du kannst bleiben, solange du willst. Schließ einfach die Tür, wenn du gehst.“ Tom lachte über seinen Spruch, nahm den Hut von der Fensterbank und setzte ihn auf. Mit seiner typisch langsamen Bewegung zog er ihn tief in die Stirn, nahm die Schubkarre an den Griffen und ging so nah an ihr vorbei, dass sie zurückstolperte.

„Warte!“, rief sie, bevor er ganz aus dem Stall verschwunden war. Tom stellte die Schubkarre ab und drehte sich zu ihr. Im Gegenlicht konnte sie nur seinen Umriss sehen. Sie netzte die Lippen.

„Das mit dem Lagerfeuer ...“

Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, fühlte sie seinen stechenden Blick. Er leerte ihr Gehirn. Sie schabte wie eben mit ihrem Fuß auf dem feuchten Boden herum. O Gott, das ist Kuhscheiße! Sie zog die Zehen ein und schaute auf den Boden. Ihr gegenüber begann Tom, leise zu lachen. Sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht kroch, und wusste nicht, warum dieser Kerl sie so aus der Ruhe bringen konnte. Sie wollte ihm schon sagen, dass er sich hinter dem Hut gut verstecken konnte, als er ihn auch schon aus der Stirn schob und auf sie zukam.

„Ich glaube, ich habe ihn gesehen“, sagte Lisa und räusperte sich. In diesem gottverdammten Stall wurde die Luft auf einmal knapp. „Ist das der Mann mit dem langen Haar?“

Etwas in Toms Augen veränderte sich. Er senkte den Blick und starrte auf ihren Busen. Meinte er, sie würde es nicht bemerken? Da gab es nichts zu sehen. Sie verschränkte die Arme vor ihren Brüsten. Sie konnte ihn schlecht zurechtweisen. Nicht nach ihrem Brief. Sie presste die Arme gegen ihren Oberkörper und drehte den Kopf weg. Wie viele Rinder hatten da eigentlich Platz?

„Was willst du mir sagen?“, fragte Tom.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass WigWam sich über meine Gesellschaft freuen wird“, sagte sie und war froh, dass sie den Faden nicht verloren hatte.

„Big. BigWam“, sagte Tom und grinste schief.

Warum muss er immer grinsen und alles kaputt machen, ärgerte sie sich.

„Was soll ich ihm sagen? ‚Darf ich mal mit dir am Feuer sitzen‘?“ Sie hob beim Sprechen die Augenbrauen. Auch sie konnte Leute von oben herab behandeln.

„Du solltest dich sehen.“

„Was?“ Sie hob ihr Kinn, die Lippen fest zusammengepresst. Eine Strähne löste sich und kitzelte sie.

Tom antwortete nicht, hob wie sie die Augenbrauen und grinste wieder schief.

„Warum bist du so gemein?“, fragte sie und wischte sich mit einer zornigen Bewegung das Haar aus dem Gesicht.

„Ich bin doch nicht gemein“, sage er. „Du hast mir ein Angebot gemacht, und ich habe daran drei einfache Bedingungen geknüpft, die du bis heute nicht ...“

„Willst du es nicht verstehen, oder kannst du nicht anders, als einfach nur ein Idiot zu sein?“, unterbrach sie ihn. Ihr wurde schwindelig bei so wenig Sauerstoff.

Er packte sie am Arm und schüttelte sie. „Was soll ich nicht verstehen? Ich verstehe viel mehr, als du denkst. In Wirklichkeit willst du das alles gar nicht.“ Seine Augen waren schwarz wie ein tiefer See bei Nacht.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Nicht weil er sie unsanft geschüttelt hatte, sondern weil er dachte, er wüsste besser als sie, was sie brauchte.

Er ließ ihren Arm los und verharrte mit seiner Hand nah an ihrer Wange, als wollte er ihr die Strähne, die sich wieder gelöst hatte, hinters Ohr streichen.

Ihr Atem stockte. Sie konnte beinahe fühlen, wie seine Finger zart über ihr Gesicht fuhren.

„Du kennst mich nicht. Woher willst du das wissen?“, flüsterte sie.

Tom berührte kurz ihr Haar. „Es passt einfach nicht zu dir. So wenig, wie deine Schuhe in den Stall“, sagte er mit weicher Stimme.

„Hör auf, so mit mir zu sprechen!“ Sie ließ Tom stehen und flüchtete aus dem Stall. Was seine Stimme in ihrem Innern anzurichten vermochte, war in ihrem Plan nicht vorgesehen. Sich auf die Liebe einzulassen, kam nicht infrage. Die Liebe war letztlich verantwortlich für ihr Desaster.

Sie ging mit schnellen Schritten über den Hof Richtung Haus. Als sie die rasselnde Kette hinter sich hörte, begleitet von Gebell, rannte sie zurück zum Stall.

„Rufus!“, dröhnte eine Männerstimme hinter ihr.

Das Gebell verstummte. Auch die Kette schleifte nicht mehr über den Boden.

„Warum fürchtest du dich vor ihm? Bleib stehen.“

Lisa verharrte auf der Stelle.

„Ja, du. Du bist doch Lisa?“

Das muss BigWam sein. Was will er von mir? Das Herz pochte ihr bis in den Hals. Warum weiß er, wer ich bin? Und überhaupt, Maude hatte nie von einem BigWam erzählt.

„Komm her. Rufus tut dir nichts.“

Langsam drehte sie sich um. Ihr Atem ging immer noch zu schnell. „Siehst du nicht, dass der mich nicht leiden kann?“, japste sie. „Er ...“, sie schluckte und zeigte mit dem Kinn auf den Hund neben ihm. „Er ist zuerst auf mich zugerannt, bevor ich wegrannte. Frag du ihn lieber, warum er mich nicht mag.“ Lisa musterte den Mann. Seine Erscheinung nahm sie in Bann. Sein weißes T-Shirt flatterte im Wind. Sie kniff kurz die Augen zusammen, als die Sonne hinter einer Wolke hervorkam und das Weiß sie blendete. Das dunkle Haar glänzte blau und reichte ihm bis zur Taille. Die Nase war groß, und seine Augen leuchteten tiefschwarz. Einzig der Federschmuck und das Pferd fehlten, um das Bild eines stolzen Indianers abzurunden. Rufus lag brav wie ein Lamm zu seinen Füßen und blickte sie hämisch an.

„Der Hund ist angekettet. Komm her.“ BigWams Hand, groß wie eine Bratpfanne, winkte sie heran.

„Bist du blind? Schau mal in seine Augen. Dieser Hund will mich fressen, und wenn du jetzt von mir verlangst, dass ich herkomme und ihn anfasse – das kannst du glatt vergessen!“ Ihr Tonfall ließ Rufus aufhorchen.

„Rufus!“, sagte BigWam, und seine Stimme war nicht einmal besonders laut. Der Hund ließ augenblicklich den Kopf auf seine Pfoten sinken und tat keinen Mucks mehr. Dann winkte BigWam Lisa wieder zu sich.

Sie schüttelte energisch den Kopf und hoffte, er würde sie nicht mit derselben Stimme dazu zwingen, mit der er Rufus dazu gebracht hatte, sich hinzulegen. „Auch wenn er angekettet ist – ich bleibe, wo ich bin.“ Sie blickte zum Hund. Die Kette war zu kurz. Er würde nicht bis zu ihr herankommen.

BigWam kam auf sie zu. Rufus ließ seinen Kopf auf den Pfoten ruhen. Nur die Augenbrauen zog er hoch, damit er ihm nachblicken konnte. Lisa verschränkte ihre Arme vor der Brust und versuchte, das leise Beben zu unterdrücken.

„Ich tu’ dir nichts.“ Um das Gesagte zu unterstreichen, blieb er mit ihr zugewandten Handflächen stehen.

„Ich wollte dich etwas fragen“, begann Lisa. Sein Gesicht, so ebenmäßig, als wäre es aus Stein gemeißelt, zeigte keine Regung. Nur als sie ihm in die Augen sah, loderte in diesen ein Feuer, das sie gefangen nahm. Warum hatte Maude nie von diesem Mann gesprochen?

„Wolltest du mich nicht etwas fragen?“

„Ja, genau“, sie lachte kurz. „Hast du was dagegen, wenn ich mich mal zu dir ans Feuer setze?“

Es knackte. Flammen tanzten. Ein brennender Ast brach in der Mitte entzwei; Glut schoss hoch. Lisa wich zurück. BigWam schnitzte konzentriert einen Stecken und prüfte mit seinem Zeigefinger dessen Spitze.

„Als ich sagte, bring etwas zu essen mit, dachte ich an Steaks“, sagte er.

„Das hättest du mir sagen müssen. Das kann ich doch nicht wissen.“

„Ja, das hätte ich wohl.“ BigWam nahm einen großen Schluck von seinem Bier und stellte die Dose wieder hin. Er nahm die Tüte, die Lisa mitgebracht hatte, und klemmte sie zwischen seine Beine. Flink spießte er drei Marshmallows auf und hielt sie in die Flammen, bis sie karamellisierten. „Die sind für dich“, sagte er.

Lisa hob die Hände. „Ich bin wohl der einzige Mensch, der keine Marshmallows mag.“

„Warum bringst du dann welche mit?“

„Die mag doch sonst jeder.“ Sie dachte an ihre Schwester, die nie genug von diesen süßen Dingern bekam.

„Ich mag sie auch nicht“, sagte er und schob sich alle auf einmal in den Mund. Er kaute ein einziges Mal, und ohne dass er erkennbar schluckte, war alles weg. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie zog das Shirt über ihre von der Hitze feuerroten Knie.

„Weißt du, warum ich hier bin?“

BigWam nickte.

„Ich dachte immer, ich hätte gegen das erste Gebot verstoßen. Dabei kommt es erst an fünfter Stelle.“ Sie starrte ins Feuer. Die Flammen tanzten zu einer ihr unzugänglichen Musik. „Ich habe gehofft, hier den Sinn des Lebens wiederzufinden“, sagte sie mehr zu sich.

„Ich weiß. Und ich weiß auch, dass du ihn noch nicht gefunden hast.“

„Woher weißt du das? Hat dir das Tom verraten?“

BigWam zuckte mit den Schultern. „Was sollte ich schon von jemand Drittem erfahren? Ich sehe es in deinen Augen.“

Eigentlich hätte sie es beunruhigen sollen, dass ein Fremder ihre Geheimnisse in ihren Augen las. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in BigWams Nähe wohl.

„Maude ... Weißt du, sie hat mich mit ihren Geschichten aus Kindertagen am Leben erhalten. Ich versprach mir so viel vom Leben auf dieser Farm.“ Lisa lächelte, obwohl ihr mehr zum Weinen zumute war. Dr. Bird hätte jetzt so etwas gesagt wie: ‚Sie können nicht das Leben von anderen leben.‘ Oder noch schlimmer: ‚Sie müssen Ihr eigenes Leben leben‘. BigWam sagte nichts. Er saß nur da.

„Ich kann mich nicht spüren, und ich will mich nicht ritzen oder mir meine Brauen oder sonst was ausreißen, bis nichts mehr nachwächst.“

Etwas ging von diesem Mann aus, das ihr Herz berührte und leichter machte. Als er ihren linken Arm nahm, ließ sie es geschehen.

„Zwölf Stiche“, sagte er und berührte ihre Narbe. Sein Griff verstärkte sich, als sie ihm den Arm entziehen wollte, und lockerte sich erst wieder, als sie sich entspannt hatte. „Das hätte eigentlich klappen müssen.“ Seine Stimme war leise und tief.

„Die Migräne meiner Mutter kam dazwischen“, sagte sie und lachte freudlos. Zum ersten Mal hatte sie nicht das Gefühl, sich erklären zu müssen. Sie durfte einfach nur sein. Sie schloss die Augen. Seine Hand lag warm um ihr Handgelenk. Unter dem massierenden Druck seines Daumens wurde die Narbe weich. „Ich habe das Badezimmer nicht verriegelt“, sagte sie mit einem Kloß in der Stimme. „War mir sicher, dass morgens um drei alle fest schlafen würden.“

„Wie gingen deine Eltern damit um?“ Er legte ihr den Arm zurück auf ihre Beine.

„Mein Vater hat schon immer viel gearbeitet, und meine Mutter hat eine außerordentliche Begabung, so zu tun, als gäbe es nichts Schlimmes auf der Welt. Sie ist immer fröhlich, denkt wohl, damit könnte sie alles Übel aus der Welt schaffen. Nur die Migräne stellt sich ihr manchmal in den Weg und setzt sie außer Gefecht. Warum interessiert dich das?“

„Das weiß ich jetzt noch nicht. Ich mache mir ein Bild, und erst später erkenne ich, was wichtig ist. Spielst du noch mit dem Gedanken, dir das Leben zu nehmen?“

So direkt hatte ihr diese Frage noch kein Erwachsener gestellt. Dr. Bird wollte vor allem mehr über ihre Gefühle wissen.

„Nein“, sagte sie. „Hin und wieder jucken meine Narben und schwellen an. Ich bekomme sogar Angst, dass sie aufplatzen und ich dann verblute und sterben muss. Ich weiß natürlich, dass das dumm von mir ist. Trotzdem.“ Sie verstummte und blickte ins Feuer. An manchen Stellen erschienen schwarze Kreise auf der Glut, die wieder verschwanden. Die tanzenden Flammen wollten ihr etwas mitteilen. Aber sie kam nicht dahinter, was.

„Hattest du damals keine Angst vor dem Sterben?“

„Damals?“ Sie seufzte tief und schwieg.

„Du musst es mir nicht sagen.“

„Nein, das ist es nicht. Ich habe gerade überlegt, wann das war.“ Sie wusste genau, wann das gewesen war. Sie tat nur so, als wüsste sie es nicht mehr, hoffte, so alles vergessen zu können. „Die Angst vor dem Leben war größer“, sagte sie schließlich.

Als sie so dasaß, mit dem Shirt über die nackten Beine gezogen, erinnerte sie sich plötzlich an New Haven, wie sie damals, noch bevor Caroline ihre Familie bereicherte, genau auf diese Weise mit dem Pyjama über ihren Knien auf den Stufen gesessen und auf ihren Vater gewartet hatte. Er arbeitete zu jener Zeit in New York in einer Anwaltskanzlei.

Sie hatte nie verstanden, warum sie nach dem Tod ihrer Großmutter in das Haus in Vermont ziehen mussten. Caroline hingegen war noch klein und hatte damit keine Probleme. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie sich mit Marie-Louise angefreundet, einem Mädchen, mit dem sich ihre Schwester schon bald in einer fremden Sprache unterhielt.

Das laute Knacken holte sie zu BigWam ans Feuer zurück.

„Was ist so falsch daran, wenn ich mir wünsche, mein Leben würde wieder wie früher werden?“, fragte sie.

„Für niemanden wird es wieder wie früher, Kleines.“

‚Kleines‘ hatte bisher noch keiner zu ihr gesagt – dafür war sie einfach zu groß gewachsen. Sie betrachtete seine massige Gestalt. Neben ihm wirkte auch sie klein. Sie strich sich das Haar hinters Ohr und legte die Stirn auf die Knie.

„Ich möchte wieder Freude und Glück spüren. Wenn nicht dieser schreckliche Tag ... – er hatte bereits beschissen begonnen.“ Sie nahm den Beutel mit den Marshmallows und schüttelte ihn lange. Sie brauchte BigWam nicht anzuschauen. Sie wusste auch so, dass er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Sie stellte die Tüte wieder hin. „Es war an Thanksgiving. Ich hatte mich erweichen lassen, für die Feiertage nach Hause zu fahren.“ Das Feuer drohte ihre Schienbeine zu verbrennen. Sie drehte sich und ließ sich den Rücken wärmen. „Diese eine Minute hat mein Leben für immer verändert. Ich glaube, es war sogar noch weniger. Sekunden, die mich nun für den Rest meines Lebens verfolgen und mir das Recht auf ein bisschen Freude rauben. Ich werde nie mehr glücklich sein.“ Sie zog hinten am Shirt, um etwas Luft zwischen Stoff und ihre Haut zu bringen.

„Du verbietest dir, jemals wieder glücklich zu sein? Mann, das ist echt hart.“

Lisa stand auf und entfernte sich vom Feuer. „Das wird mir hier viel zu heiß.“ Die Nachtluft kühlte ihre Beine und den Rücken. Dann kam sie zurück und setzte sich wieder. „Nicht ich bin es, die das Glück nicht mehr zulässt. Es sind diese Sekunden, die immer wieder hochkommen und mir die Luft zum Leben nehmen.“

„Kannst du mir mehr darüber sagen?“

BigWams ruhiges Gesicht wurde vom Licht der Flammen beleuchtet und wirkte sonderbar belebt. Sie suchte in ihm, was sie bei Dr. Bird immer gestört hatte, und fand es nicht.

„Es fühlt sich an, als hätten sich diese Sekunden von der Zeit abgekoppelt und wären nun für alle Ewigkeit bei mir. Sie verfolgen mich durch den Tag und lassen mich in der Nacht nicht zur Ruhe kommen. Und wenn ich endlich eingeschlafen bin, träume ich davon.“

BigWam öffnete eine Bierdose und hielt sie ihr hin. Dankend nahm sie das Bier und genehmigte sich einen tüchtigen Schluck. Angenehm kühl rann es ihr die Kehle hinunter.

„Du brauchst einen Traumfänger.“

„Einen Traumfänger? Was kann der?“ Sie rülpste leise in die Faust.

„Der fängt die bösen Träume ein und lässt nur die guten durch. Wann hast du Geburtstag?“

„Am zwölften März. Aber ich brauche jetzt einen Traumfänger, nicht erst an meinem Geburtstag ...“

BigWam stoppte sie mit seiner großen Hand. „Dann bist du im indianischen Sternzeichen des Wolfs geboren.“

„Oh, das ist viel besser als Fisch.“

BigWam lachte. Sein Lachen war hell wie das einer Frau und passte nicht zu seiner tiefen Stimme.

„Also, der Wolf, oder bei vielen anderen Indianerstämmen auch der Puma, ist in der Tierwelt ein kräftiges Lebewesen.“ BigWams Augen glitzerten – gerade so, als würde er ihr ein großes Geheimnis verraten.

Lisa saß ihm zugewandt da. Das Bier in ihren Händen hatte sie vor lauter Konzentration vergessen. Was sie zu hören bekam, setzte sich nicht nur in ihrem Kopf fest, es sickerte durch ihre Haut und floss in alle Zellen.

„Er ist ein Rudeltier und neigt zur Vorsicht, wenn er allein unterwegs ist. Der Wolf-Geborene ist besonders sensibel und einfühlsam. Er hat ein Gespür für die Gefühlswelt seiner Umgebung, was ihn auch verwundbar macht. Er ist bekannt für seine Hilfsbereitschaft.“ BigWam nahm sein Messer aus der Hose und kratzte drei Symbole in den sandigen Boden. Dann deutete er der Reihe nach auf jedes einzelne und sagte: „Präg sie dir gut ein: Das ist das Symbol für die Macht der Liebe, das für die Transformation und das da“, er klopfte mit der Klinge darauf, „das steht für den Mut.“

„Kannst du sie mir nicht auf ein Blatt Papier zeichnen? Ich kann sie mir so nicht merken.“

„Ich habe nichts zum Schreiben bei mir“, brummte er.

„Ich gebe dir morgen Stift und Papier, und du zeichnest mir die Symbole bitte nochmals auf.“

„Warum willst du sie aufgezeichnet haben? Willst du sie dir unter die Haut ritzen lassen?“

So etwas wäre für sie früher nie infrage gekommen. Aber jetzt wusste sie auf einmal, dass eine Tätowierung ihre Rettung wäre.

„Könntest du mir auch einen Traumfänger zeichnen?“

„Und was noch? Ein Pferd?“

„Nein. Aber wenn du mich so fragst, einen Wolf.“ Sie lachte auf und schaute ihn an. Deshalb hatte Tom gewollt, dass sie sich zu BigWam ans Lagerfeuer setzte. Das war nicht irgendeine blöde Aufgabe, die mit einer Mutprobe vergleichbar war.

BigWam brummte zufrieden. „Komm morgen wieder und bring Papier und Stift mit.“

Lisa konnte nicht einschlafen. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie das Gefühl, es könnte einen Ausweg geben. Sie stand auf und öffnete die Fensterläden. Kühle Luft strömte in ihre Kammer. Sie sah die Glut in der Feuerstelle und BigWams Silhouette, die sich vor dem orangefarbenen Licht abzeichnete. Was machte er noch dort? Sie beobachtete ihn eine Weile und ging dann wieder ins Bett.

Es war zwecklos. Sie war einfach nicht müde, und zudem hatte das Gespräch am Lagerfeuer sie hungrig und durstig gemacht. Lisa schlug die Decke zurück und stand auf. Im Dunkeln schlich sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, tastete sich unten im Flur die Wand entlang zum Lichtschalter, und bevor sie ihn drücken konnte, vernahm sie laut und deutlich Agnes’ Stimme.

„Wir sind keine Therapeuten. Ich kann das nicht.“

Lisas Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt sah sie, dass die Tür zum Schlafzimmer ihrer Gastgeber einen Spaltbreit offen war.

„Das verlangt auch keiner von uns“, sagte Dave.

„Aber sie ist da und stört das ganze Haus.“

Lisa machte einen Schritt zurück.

„Ach komm. Sie tut doch keinem was. Und jetzt gibt sie sich Mühe und steht früh auf. Was willst du noch mehr?“ Das Bett knarrte.

„Das sagst du nur, weil sie hübsch ist.“

Lisas Herz stach. ,Nur weil du hübsch bist.‘ Wie oft hatte sie das schon zu hören bekommen!

„Du weißt, dass ich nur dich liebe. Hab’ lange genug gekämpft, bis du endlich Ja gesagt hast.“

Rascheln von Bettdecken – waren das Küsse ...? Lisa setzte den Fuß auf den Treppenabsatz.

„Du kennst mich, ich kann den Mund nicht halten und habe immer Angst, etwas Falsches zu sagen. Und wenn sie in eine Depression fällt, bin ich schuld. Womöglich bringt sie sich noch um, und eines der Kinder findet sie.“

Eine Bettfeder quietschte. Lisa spürte den Luftzug an ihren nackten Beinen.

„Du kennst ihre Geschichte. Wir haben lange mit Maude gesprochen, und das Geld haben wir ohne Zögern genommen. Die paar Monate werden wir wohl aushalten.“ Den letzten Satz sprach Dave undeutlich.

„Die paar Monate? Ein halbes Jahr, mit Option auf Verlängerung, das hast du wohl vergessen. Wenn wir Pech haben, bleibt sie ein ganzes Jahr – oder noch länger.“

„Sie ist Maudes Freundin.“

Das Bett schlug gegen die Wand. Jemand hatte sich heftig bewegt. Lisa stieg die erste Stufe hoch.

„Immer Maude“, Lisa hörte ein Fingerschnippen, „und du springst! Und sag nicht, dass sie jetzt in Boston ist. Seit sie dort ist, ist es noch viel schlimmer geworden.“ Agnes schnaubte. „Und wenn ich von meinem Bruder nichts mehr höre, sagst du, der würde bestimmt bald wieder kommen.

Dave brummte etwas.

„Schickst du sie mir zuliebe spätestens nach einem halben Jahr weg? Ich habe den Tag im Kalender rot markiert.“

Dave gab keine Antwort.

Wie sie gekommen war, schlich Lisa auf Zehenspitzen die Treppe wieder hoch. Eine Stufe knarrte leise. Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen und horchte. Es blieb still. Ein Kauz schrie zwei Mal, dann war es wieder ruhig. Müdigkeit übermannte sie; jetzt wollte sie für den Rest des Lebens nur noch schlafen.

Im Zimmer angelangt, schloss sie leise die Tür und legte sich aufs Bett. Die eben noch verspürte Zuversicht war schlagartig verschwunden. Hunger hatte sie auch nicht mehr, nur der Durst blieb. Ihr Körper schmerzte, so müde war er.

Rosa-weiße Marshmallows

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