Читать книгу Rosa-weiße Marshmallows - Bettina Ehrsam - Страница 12
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ОглавлениеSie saß mit Roy vor dem Haus und ließ sich vorlesen, als BigWam mit federnden Schritten an ihnen vorbei zur Feuerstelle ging, Holz aufschichtete und das Feuer entfachte. Am liebsten wäre sie sofort zu ihm hingegangen und hätte sich an ihren angestammten Platz gesetzt. Doch sie wollte ihn nicht stören. BigWam telefonierte gerade. Mit der freien Hand zeichnete er Kreise in die Luft und tigerte ums Feuer herum. Als hätte Roy bemerkt, dass sie ihm nur noch mit halbem Ohr zuhörte, fing er mit Stottern an. Lisa riss sich zusammen.
Sie legte den Finger unter das Wort. „Hier, nach dem Gedankenstrich noch einmal.“
Roy rutschte mit dem Finger die Buchstaben entlang. „F-r-e-u-n-d-s-c-h-a-f-t-e-n“, las er und machte regelmäßig zwischen vier Buchstaben eine Pause und schnappte nach Luft, als würde er jedes Mal tief im See untertauchen.
„Freundschaften zu knüpfen, fällt ihr schwer, und das ist sehr schade“, las Lisa den Satz für ihn zu Ende. „Schluss für heute. Morgen lesen wir weiter. Da erfahren wir, wie es den dreien bei ihrer Cousine ergeht.“
„Was ist eine Cousine?“, fragte Roy.
„Wenn Tom oder Maude Kinder haben, sind das deine Cousins, wenn es Jungs sind, und wenn es Mädchen sind, sagt man Cousinen.“
Roy sprang von der Bank und war augenblicklich verschwunden. Das Buch ließ er liegen. Lisa nahm die Lektüre ‚Fünf Freunde erforschen die Schatzinsel‘ und seufzte. Sie hatte ihm das Buch gekauft und gehofft, es würde ihm ebenso gefallen wie ihr damals. Auf der ersten Seite hatte Roy mit dickem schwarzen Filzstift seinen Namen krumm hingeschrieben. Sie ging ins Haus und legte das Buch im Kinderzimmer aufs Regal. Als sie wieder nach draußen kam, saß BigWam auf seinem Baumstamm und trank aus einer Bierdose.
„Wie bitte? Ich hätte dir was zu essen mitbringen sollen?“ Lisa setzte sich zu ihm.
„Ich habe immer Hunger. Das ist eine meiner kleinen Schwächen.“ BigWam klopfte auf seinen Bauch.
„Das klingt tatsächlich leer.“
Er lachte hell und reichte ihr ein Bier. „Nicht den Ring wegreißen, ohne die Dose zu öffnen.“
„Kann man da überhaupt was falsch machen?“ Lisa zerrte an der Metalllasche.
„Gib her.“ Er nahm ihr das Bier aus der Hand und öffnete für sie die Dose.
„Ich habe dich die ganze Woche nicht gesehen. Wo warst du?“, fragte sie.
Seine Augen wurden schmal und stechend. Der Platz am Feuer wurde ihr auf einmal viel zu heiß; doch sie konnte sich nicht rühren und ließ sich die Schienbeine verbrennen. Erst als sein Blick sie endlich losließ, konnte sie sich wieder bewegen. Sie zog die Beine vom Feuer weg und kühlte sich die heißen Stellen mit der Bierdose. Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Was war los mit ihm? Das war doch eine harmlose Frage gewesen.
„Ich hatte in Chicago zu tun“, wich er aus.
Sie atmete innerlich auf. Er schien sich beruhigt zu haben. „Weißt du schon das Neueste?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich habe den Traumfänger. Hättest du mir nicht zugetraut, was?“
„Ich dachte, es wäre bloß so eine Idee von dir gewesen“, gestand er.
Sie war froh, dass er wieder der freundliche Mann war, den sie kannte. Vorhin, als er sie so scharf angeschaut hatte, hatte sie sich tatsächlich vor ihm gefürchtet.
„Ich war fünf Stunden bei Mandy, und der Traumfänger ist noch immer nicht fertig. Ich wusste nicht, dass man nicht nur kein Weichei sein darf, sondern auch noch eine ganze Portion Geduld mitbringen muss.“
Nach der ersten Sitzung hatte ihr Rücken gebrannt, als wäre sie mit blanker Haut über den Boden einer Turnhalle gezogen worden.
„Mandy lässt dich übrigens herzlich grüßen“, sagte Lisa. „Willst du mal schauen?“
Sie hob mit gekreuzten Armen vorsichtig das Oberteil an. „Hilf mal.“
BigWam zog den Saum bis zu ihrem Nacken hoch und stieß einen langen Pfiff aus. „Der geht ja über den ganzen Rücken“, sagte er.
„Was dachtest du denn? Ich würde mir bloß so einen kleinen aufs Schulterblatt stechen lassen? Da hätte ich mir gleich ein Abziehbildchen aufkleben können.“
„Es sieht aus, als würde der Wind den Traumfänger bewegen. Das kann nur Mandy. Sie ist eine wahre Künstlerin. Hätte nicht gedacht, dass sie hierbleibt. Sie wollte immer fort, in eine große Stadt. Nun ist sie doch nicht von Lake Geneva losgekommen.“
„Davon hat sie mir nichts gesagt. Kennst du sie näher?“
BigWam schwieg.
War sie wieder zu neugierig? Lisa zog das Oberteil herunter und schaute in die Flammen, die sich so gleichmäßig bewegten, dass sie hätte voraussagen können, wann eine höher ausschlagen würde. Es war Nacht geworden. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. Wie lang saß sie schon da? BigWam krempelte den Ärmel seines T-Shirts hoch. Im flackernden Licht konnte sie die Tätowierung auf seinem Oberarm kaum erkennen.
„Was ist das?“ Sie beugte sich vor und strich mit den Fingerspitzen über sein Tattoo. Seine Haut war warm und weich, wie die einer Frau.
„Das ist mein Totempfahl. Er erzählt die Geschichte meiner Familie“, sagte er und rollte den Ärmel wieder herunter.
Sie wartete auf mehr. BigWam leerte sein Bier, zerknüllte die Dose, als wäre sie aus Pappe, und legte sie zwischen seine Füße. In Gedanken versunken sah er lange ins Feuer und schwieg, ganz so, als hätte er sie vergessen.
„Ist wohl nicht so spannend, die Geschichte deiner Familie“, sagte sie in die Stille.
Er lachte sein helles Lachen. „Sieh an, sieh an, wie frech du sein kannst. Das gefällt mir.“ BigWam nahm dabei ein neues Bier aus der Kühltasche, öffnete es und prostete ihr zu. „Die Geschichte ist nicht besonders erhebend und passt nicht hierher.“
„Wenn die Geschichte deiner Familie nicht besonders erhebend ist, um es mit deinen Worten zu sagen, warum lässt du sie dir unter die Haut stechen?“ Sie hatte nicht viel überlegt, die Worte waren ihr einfach so aus dem Mund gerutscht.
Er blickte sie nachdenklich an. „Ich habe den Teil, den ich liebte, zu früh verloren“, antwortete er und leerte das Bier in einem Zug.
Lisa lag auf dem Bett, das Handy am Ohr. Ihr Haar war noch feucht vom Duschen. Die Kleider hingen zum Auslüften draußen an der Wäscheleine. Sie sprach sehr leise. Mitternacht war schon vorbei.
„Hey Maude, bist du schon im Bett?“.
„Nein, noch nicht. Wie geht es mit Agnes?“
„Ich geh ihr aus dem Weg, wo ich kann.“
„Sie mochte mich zu Beginn auch nicht. Sie fand, ich sei verzogen“, sagte Maude.
„Du und verzogen?“ Lisa stieß einen verächtlichen Ton aus. „Mag sie dich jetzt?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass dies nicht der Fall war.
„Jetzt bin ich in Boston.“
„Du meinst, du bist weit genug weg?“
„Ach, weißt du, sie ist launisch. Manchmal habe ich den Eindruck, Boston sei für sie noch nicht weit genug. Ich müsste wohl sein, wo der Pfeffer wächst. Oder noch besser auf dem Mond, wo es keine Internetverbindung gibt.“ Maude lachte. „Spaß beiseite. Wie geht es dir?“
„Mach dir keine Sorgen. Ich habe einen neuen Freund“, sagte Lisa und ließ ihre Stimme verwegen klingen.
„Nein, sag nicht, du und Tom ...“, Maude atmete heftig ein, „Lisa, bitte nicht Tom!“
Lisa kicherte.
„Er ist zwar mein Bruder, aber ich muss dich warnen. Er ist nichts für dich. Ein Weiberheld, nicht viel besser als deine Verflossenen. Der will sich nicht binden. Und manchmal kann er ein richtiges Arschloch sein.“
„Beruhige dich doch.“, beschwichtigte Lisa ihre Freundin. Und bevor sie fragen konnte, warum sie Tom nicht mochte, kam ihr Maude zuvor.
„Warum verliebst du dich nicht in einen Jungen, der dich auf Händen trägt? So einen hast du verdient, solche gibt es.“
„Ja, und der ist dünn und etwas kleiner als ich, hat bereits eine Glatze, und das restliche Haar trägt er lang.“
„Falls du auf Rocco anspielst – der ist nicht kleiner als du. Im Übrigen geht es mir nicht um ihn, sondern allgemein um Jungs, die sich in dich verlieben.“
„Ist dir eigentlich bewusst, wie selten es geschieht, dass sich beide verlieben und ein Paar werden? Du und Philipp, wisst ihr überhaupt, wie viel Glück ihr habt?“
Einen Moment war es still.
„Glaub mir, ich kenne Tom. Der spielt nur mit dir“, nahm Maude den Faden wieder auf.
„Was ist, wenn ich mit ihm spiele?“ Aus irgendeinem Grund konnte sie ihren Mund nicht halten. Am anderen Ende wurde es wieder still. „Hallo ...? Bist du noch da?“, fragte Lisa.
„Ja, ich bin noch da.“
Hörte sie Tränen in Maudes Stimme? „Weinst du?“, fragte sie laut
„Nein, ist schon okay. Ich weine nicht.“ Maude putzte sich geräuschvoll die Nase.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Warum bist du so wütend auf deinen Bruder?“
„Ich will dir nicht vorschreiben, in wen du dich verliebst. Aber du bist mir wichtig, und ich will dich vor ihm warnen, das ist alles.“
„Ich habe nichts mit Tom.“ Lisa biss sich auf die Lippen. Wieder kein guter Zeitpunkt, ihr von ihrem Plan zu erzählen. „Ich bin dir so dankbar, dass du mir ermöglicht hast, auf die Farm zu kommen. Und eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass ich Roy ins Herz geschlossen habe. Er ist so süß. Er zeigt mir alles auf dem Hof. Du solltest ihn sehen, wie stolz er dabei ist.“
„Echt jetzt? Du und Roy? Was sagt Agnes zu ihrer neuen Schwiegertochter?“, fragte Maude lachend.
„Agnes weiß natürlich nichts von uns. Wir treffen uns in unserem Versteck und machen verbotene Sachen.“
Maude lachte. „Was macht ihr denn?“
„Wir lesen ein Buch, das erst für Kinder ab neun ist.“
„Nein“, rief Maude mit gespielter Entrüstung.
„Doch! Und wir schreiben und rechnen“, sagte Lisa.
„Ich verstehe Agnes nicht. Sie sollte dich lieben! Und Roy?“
„Was, und Roy? Der zwingt mich zu ganz schlimmen Dingen“, sagte Lisa.
Maude lachte.
„Du kennst mich. Zuerst wollte ich nichts davon wissen, habe mich mit Händen und Füßen gewehrt.“ Lisa hielt inne. Ihre Stimme wurde tiefer. „Roy hat sich hingekniet, hat mit sanften Fingern die Ohren gekrault.“
„Deine Ohren?“ Maude kicherte.
„Nein, Rufus’ Ohren.“
Maude lachte wieder. „Ich wäre wirklich gerne dabei gewesen.“
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Mut ich bewiesen habe, dieses Biest zu berühren. Rufus bleibt gottlob angekettet. Er rennt noch immer auf mich zu. Irgendwann beißt er mich. Ich kann kaum glauben, dass dieser Hund noch niemanden gebissen hat.“
„Er ist ein Wachhund. Der beißt nicht, der bellt nur“, sagte Maude.
„Glaub mir, das ist kein normales Bellen. Nach all den Wochen sollte er sich an mich gewöhnt haben. Und weißt du was? Er rennt nur dann auf mich zu und bellt, wenn ich allein bin. Die anderen denken schon, ich sei nicht ganz richtig im Kopf.“ Lisa verdrehte dabei die Augen. „Du fehlst mir, Maude. Wann kommst du mich besuchen?“
„Schon bald“, versprach Maude.