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2006 1

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Lisa zählte beim Gehen jeden Schritt. Ihre langen, schlanken Finger glitten über den Handlauf. Da war die vertraute Unebenheit, die leicht kratzte, als sie darüberfuhr. Ohne mit dem Zählen aufzuhören, ging sie den verlassenen Flur weiter entlang. Ein feiner Geruch von Desinfektionsmittel hing in der Luft und ließ sie nie vergessen, wo sie war. Die Deckenlampe flackerte. Vor Dr. Birds Türe blieb sie eine Weile stehen und horchte. Hinter ihr fielen Tropfen auf das Fensterblech. Ploc, ploc, plic, ploc, écoute, écoute, le bruit des gouttes.

Caroline hatte diesen französischen Kindervers von der Nachbarin gelernt. Zu Beginn hatte Lisa es süß gefunden, wie ihre kleine Schwester mit vier Jahren dazu durchs Zimmer getanzt war. Doch irgendwann, als sie nicht damit aufhören wollte, war es auch Lisa zu viel geworden.

Vorsichtig klopfte Lisa an. Sein tiefes „Herein“ drang gedämpft durch die Tür.

„Ich habe gesehen, dass noch Licht in Ihrem Büro brennt. Haben Sie eine Minute für mich?“ Lisa hielt die Türklinke fest in der Hand. Wäre sie nicht schon lange bei ihm in Behandlung gewesen, hätte sie ihren Satz mit den Worten „Ich hoffe, ich störe Sie nicht“ begonnen.

Dr. Simon Bird klappte das schwere Buch zu und verstaute es in der Schublade. „Kommen Sie herein.“ Er lehnte sich zurück. Ein müdes Knarren füllte den Raum, als wäre der Sessel es leid, fremdes Gewicht zu tragen. Mit der linken Hand zeigte Dr. Bird auf den Stuhl vor seinem Pult, mit der rechten drückte er sein Haar, so kraus und fest wie Stahlwolle, in die Stirn, als wollte er es zwingen, die kahl gewordene Stelle auf dem Kopf zu verdecken. Die goldgefasste Brille war bis ans Ende seiner langen Nase gerutscht.

Lisa schaute sich im Raum um. Wie anders sein Büro am Abend wirkte. Die Zeiger der antiken Pendeluhr mit den messingglänzenden Gewichten zeigten Viertel vor acht. Zu Hause hatten sie eine ähnliche Uhr. Jeden Sonntag zog ihr Vater die Gewichte an den Ketten hoch, und, obwohl sie schon seit fast zwei Jahren nicht mehr daheim wohnte, hatte sie noch immer dieses rasselnde Geräusch des Uhrwerks im Ohr.

Sie setzte sich auf die Kante des angebotenen Stuhls. Ihre Hände umklammerten die Lehne. Aufmerksam betrachtete sie den farbigen Rorschachtest hinter Dr. Bird und entdeckte im indirekten Licht der Schreibtischlampe zum ersten Mal zwei Parasiten, die sich von unten in die zarten, blütenblätterähnlichen Formen fraßen.

Lange hatte Lisa nichts im Bild gesehen, dann eine Blume – und jetzt eine Blume mitten im Leben, die ausgesaugt wird. Und weil es der Natur einer Blume entsprach, einfach nur schön zu sein, ließ sie alles mit sich geschehen. Es war der einzige Wandschmuck im Büro. Sonst hingen nur Diplome an der Wand. Sie fühlte Dr. Birds Blick auf sich ruhen. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Konnte er in ihrem Gesicht etwa lesen, was sie in diesem Moment dachte? Sie hörte die Uhr an der Wand. Ihr Ticktack füllte die Stille.

Sie setzte sich gerade hin und schüttelte ihr blondes Haar nach hinten.

„Meine Mutter kommt und will mir beim Packen helfen.“

„Wollen Sie denn keine Hilfe beim Packen?“ Dr. Bird nahm seine Brille ab und steckte sie in die Brusttasche seines weißen Kittels. Er trug nicht das anzügliche Grinsen im Gesicht wie manche anderen Männer. Nur seine Augen flackerten gelegentlich kurz auf.

„Nein, ich will das nicht“, sagte sie leise. Sie drehte den Kopf zum Fenster. Draußen war es schon früh Nacht geworden. Sie sah auf den dunklen Charles River. Auf der anderen Seite des Flusses war der Verkehr zum Stillstand gekommen. Das Einkaufszentrum lockte mit seinem grellen Licht die Menschen wie Motten an. Da blickte ihr vom Fenster her ihr blasses Gesicht entgegen – mit zwei dunklen Höhlen, als wären die Augen entfernt worden.

„Warum wollen Sie nicht, dass Ihre Mutter kommt?“, drangen seine Worte zu ihr durch.

Lisa hasste es, wenn Dr. Bird mit dieser Stimme sprach. Kräftig rieb sie sich den Arm und räusperte sich. „Ich will nicht, dass sie meine Sachen berührt.“

„Darf denn jemand anderes Ihre Sachen berühren?“

Lisa betrachtete wieder das Bild hinter ihm, und bevor er die Frage stellen konnte, wer alles ihre Sachen berühren dürfe, löste sie den Blick und schaute ihn an. Auf seinem linken Nasenflügel saß das Muttermal, das die Form eines Halbmonds hatte. „Ich habe kein Problem, wenn Maude, Caroline, mein Vater oder Sie meine Sachen berühren.“ Da war es wieder, dieses kurze Flackern in seinen Augen. Rasch senkte sie den Kopf. Das letzte Mal, als sie allein gewesen waren, hatte er ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Die Berührung dauerte nicht lange an. Trotzdem war sie erleichtert gewesen, als er seine Hand wieder weggenommen hatte. „Ich dachte, dass Sie vielleicht meiner Mutter ...“, Lisa brach mitten im Satz ab und schwieg.

Dr. Bird tippte mit zäher Bewegung die Fingerspitzen gegeneinander. „Wir haben das schon ein paarmal besprochen. Stimmt’s?“ Er wartete, bis sie nickte. „Sie haben doch gelernt, den eigenen Raum einzunehmen?“

„Ja, habe ich“, sagte sie, reckte das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Es lief mal wieder nicht so, wie sie es sich ausgemalt hatte.

„Also, wo liegt das Problem genau?“ Seine Mundwinkel zuckten kurz nach unten.

Sehen Sie denn nicht, wie meine Mutter mich behandelt? Sie denkt für mich, trifft Entscheidungen für mich. Alles muss immer so sein, wie sie es will, hätte Lisa ihm gerne einmal mehr gesagt. Sie ließ es jedoch bleiben, weil er nie etwas anderes erwiderte als sie sei dreiundzwanzig und müsse lernen, Grenzen zu setzen. Lisa seufzte in sich hinein. Ihre Mutter war nicht ihr eigentliches Problem. Was sie lange kaum hatte weiterleben lassen, war das Unglück an der Metrostation gewesen. Anfangs hatte sie bereits beim Gedanken an viele Menschen in engen Räumen keine Luft mehr bekommen.

In einer Woche würde sie nach Walworth reisen. Sie schloss die Augen und stellte sich die Farm vor, wie sie sie von Maude Miller, ihrer besten Freundin, immer wieder geschildert bekommen hatte. Sie sah die Hühner vor sich, die Kühe im Stall, die grüne Weide, roch die vielen Blumen, die es dort nach Maudes Erzählung gab. Sie entspannte sich. Alle Einwohner von Walworth fänden hier in Boston allein im John Hancock Tower Platz.

„Geht es um die Farm? Sind Sie doch noch nicht so weit?“, fragte Dr. Bird.

Lisa war nun lange genug hier gewesen. Sie wusste, dass sie sich dem Leben wieder stellen musste. Mit erhobenem Kopf und durchgestrecktem Rücken zeigte sie ihm, dass sie bereit war für das Abenteuer in Wisconsin. „Sie haben recht, es ist kein Problem.“ Sie stand auf und lächelte ihn an. Nicht zu scheu, aber auch nicht zu lang. Dieses Lächeln hatte sie nicht in der Klinik gelernt. Das hatte ihr ihre Mutter bereits beigebracht, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. „Danke, dass Sie Zeit für mich hatten“, sagte sie und stand auf. Mit sicherem Schritt und ohne sich nochmals zu Dr. Bird umzudrehen, verließ sie das Büro.

Draußen vor der geschlossenen Tür ließ sie die Schultern hängen. Ihre Mutter würde kommen und ihr beim Packen helfen. Sie würde wissen wollen, wie lange sie gedenke, auf der Farm zu bleiben, würde die Adresse aus ihr herausquetschen und sie dann im Abstand von drei Wochen regelmäßig besuchen kommen. Lisa legte die Hand, diesmal die linke, auf den Handlauf und ging den Weg zurück. Nach fünfundzwanzig Schritten fühlte sie die unebene Stelle.

Der Koffer lag offen auf Lisas Bett. Dana summte, öffnete eine Reisetasche, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, und zog ein Paar rote Gummistiefel mit hellgrünen Tupfen heraus. „Auf der Farm brauchst du solche. Gefallen sie dir?“ Ihr warmes Lächeln hätte alle anderen zum Schmelzen gebracht.

Lisa saß in der Ecke am Boden und starrte mit schlaffen Wangen auf die schneeweißen Zähne ihrer Mutter.

„Und hier habe ich dir neue Sneakers gekauft. Vielleicht gehst du mal aus.“ Dana zeigte ihr ein Paar helle Stoffschuhe mit Strasssteinen.

Ein falscher Blick, eine unbedachte Bewegung, und Danas gute Laune würde kippen. Sie würde laut Luft holen, sich an die Stirn fassen und erst ganz leise mit Wimmern beginnen. Lisa schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Wand und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Sie beschloss, dass es ihr heute egal war, ob ihre Mutter eine Migräne bekam. Sie hoffte sogar, dass sie endlich ginge und sie allein ließ. Sie konnte auch mit geschlossenen Augen förmlich fühlen, wie ihre Mutter wartete. Niemand konnte so warten wie Dana. Die Spannung stieg und zerrte an Lisas Nerven. Die Handgelenke begannen zu brennen. „Danke Mama, die sind wirklich schön“, sagte sie schließlich und hasste sich selbst für ihre Schwäche. Und gleichzeitig hasste sie ihre Mutter dafür, dass sie noch immer die Größe ihrer Füße wusste. Immerhin hatte sie sich getraut, die Augen geschlossen zu halten. Zwischen den Wimpern hindurch blickte sie zu ihrer Mutter. Sie sah sie doppelt, über zwei Packlisten gebeugt. Die Lippen ihrer Mutter waren noch nie anders geschminkt gewesen als in diesem dezenten Rosa. Der Mund bewegte sich, als sie mit dem Finger auf dem Notizzettel Zeile für Zeile nach unten rutschte. Lisa hätte ihre Sachen auch selbst packen können. Sie senkte die Lider wieder und wünschte sich augenblicklich nach Wisconsin auf die Farm.

„Ich habe eine Überraschung für dich.“ Dana machte eine Pause.

In Lisas Ohren begann es zu rauschen. Warum tust du das? Hör endlich auf, hätte sie am liebsten geschrien. Stattdessen öffnete sie nur ein Auge und schaute zu ihrer Mutter.

Dana zog eine rosa verpackte Schachtel mit einer weißen Schleife aus ihrer Handtasche. „Hier.“ Sie streckte ihr das Geschenk hin. „Die SIM-Karte ist schon drin. Und deine Nummer beginnt wie die Postleitzahl von Springfield.“ Ihre blauen Augen, dieselben, die sie ihren beiden Töchtern vererbt hatte, glänzten erwartungsvoll.

„Ich nehme kein Handy mit. Ich brauche die Zeit für mich und für mein neues Leben. Das weißt du. Ich habe es dir mehrmals erklärt“, sagte Lisa und schloss das eine Auge wieder.

„Lisa, Liebes ...“, Dana ließ die Hand mit dem Geschenk in ihren Schoß fallen. „Ich weiß nicht, wie ich dir sonst noch helfen kann.“ Sie kniff die Augen zusammen und massierte sich mit Daumen und Mittelfinger den Nasenrücken. Die schwarzen Ringe unter den Augen begannen unter der Schminke durchzuschimmern. „Ich halte das einfach nicht mehr aus.“ Dana warf das Geschenk in den Koffer, stand auf, riss die Tür auf und verließ mit kurzen, schnellen Schritten das Zimmer. Das Klappern der Absätze entfernte sich und war auf einmal nicht mehr zu hören. Lisa konnte nicht abschätzen, wie weit ihre Mutter gegangen war. Sie wollte auch keinen Blick in den Flur riskieren und ihr triumphierendes Gesicht sehen. Sie wartete und horchte. Auf dem Korridor blieb es still. Egal. Es musste reichen. Schnell und leise stand sie auf. Fischte aus dem Koffer wahllos ein paar Strümpfe, zog aus ihrer Trainingshose ihr geheimes Prepaidhandy, stopfte es in eine Socke und legte alles an den Platz zurück, nahm das rosa Geschenk aus dem Koffer und stellte es auf den Nachttisch. Dann setzte sie sich wieder auf den Boden. Sie fühlte sich großartig und wusste nicht genau, warum.

Maude hatte ihr, kurz nachdem sie eingeliefert worden war, ein kleines zusammenklappbares Handy besorgt. „Die SIM-Karte ist bereits drin“, flüsterte sie ihr zu, als sie ihr das Nokia zusteckte.

Ein Handy zu haben, war in der Klinik nicht verboten. Es wurde manchmal kontrolliert und nur in ganz seltenen Fällen auf unbestimmte Zeit weggesperrt.

Beim nächsten Besuch brachte Maude das Ladegerät mit. Wie Lisa ihre Freundin für diese Geheimnistuerei liebte! Täglich schickten sie einander Nachrichten oder telefonierten, und niemand erfuhr davon. Hier, in diesem Gebäude, auf diesem Stock, hatte sie ihr ganzes Innenleben ausbreiten müssen. Jede ihrer Äußerungen wurde aufgeschrieben, man hat ihr ihre Gedanken und Gefühle erklärt, bis sie sich ganz nackt und dumm vorkam. Und es hätte sie nicht verwundert, wenn alle Angestellten bis hin zur Empfangsdame davon erfahren hätten.

Dank des Nokias hatte sie ihre kleinen Momente, in denen sie nicht überlegen musste, was sie sagte. Ein einziges Mal war Maude der Geduldsfaden gerissen: Sie hatte Lisa angeschrien, sie solle sich endlich am Riemen reißen – sie habe sich weiß Gott lange genug selbst bemitleidet. Das war eine Ohrfeige im richtigen Moment mit der richtigen Heftigkeit gewesen. Von da an ging’s besser.

Die Tür schwang auf, und noch bevor Dana, gefolgt von Dr. Bird, ins Zimmer trat, legte sich die alte Trägheit wie ein Schutzschild auf Lisas Schultern.

„So, bald ist es so weit. Sind Sie aufgeregt?“, fragte der Arzt.

Lisa stand ungelenk auf, presste den Handrücken auf den Mund und unterdrückte ein Gähnen. Sie reichte ihm artig die Hand. „Dr. Bird, wie schön, dass Sie vorbeikommen. Ja, ich bin sehr aufgeregt. Dana will mich unbedingt nach Wisconsin begleiten.“ Lisa wusste haargenau, wie sehr ihre Mutter es hasste, wenn sie sie beim Vornamen nannte. Sie warf ihrer Mutter einen verstohlenen Blick zu und biss sich auf die Innenseite der Wange, als sie deren verkniffenen Mund sah. Jetzt zufrieden zu lächeln, traute sie sich nicht.

„Ich dachte, Maude würde mit Ihnen reisen? Ist sie nicht auf dieser Farm aufgewachsen?“, fragte Dr. Bird. Er nahm seine Brille ab und reinigte sie mit einem Stofftaschentuch. Links und rechts auf seinem Nasenrücken leuchteten rote Druckstellen.

„Ja, das habe ich ihr auch gesagt, doch sie will nichts davon wissen. Dabei nimmt sich Maude deswegen extra frei.“ Lisa blickte gebannt zu ihrer Mutter.

Danas Gesichtszüge wurden hart, und noch bevor sie zu Wort kommen konnte, streckte Dr. Bird seinen Arm nach ihr aus und sagte:

„Dana, bitte begleiten Sie mich einen Moment nach draußen.“

Lisa hatte sich keinen Zentimeter bewegt, und doch stand sie da, als wäre sie in der kurzen Zeit, während ihre Mutter mit Dr. Bird auf dem Flur gesprochen hatte, einmal um die ganze Welt gereist. Sie konzentrierte sich auf ihre Beine, den kräftigsten Teil ihres Körpers, und ließ zu, dass ihre Mutter ihr Gesicht, die Arme und die Position der Hände, die Beine und die Füße, die nur in Strümpfen steckten, musterte. Die Ringe unter Danas Augen waren mittlerweile so dunkel, dass keine Schminke der Welt sie hätte abdecken können.

„Wir kommen morgen und verabschieden uns noch von dir. Bitte fahr nicht ohne uns. Wir ...“ Dana brach ab und schluckte laut, als würde sie die restlichen Worte hinunterwürgen. Ihr Kinn zitterte unter ihrem Lächeln. Sie hängte sich die Tasche um und verharrte einen Moment. „Lisa, was habe ich dir getan?“

Lisa hatte ihrer Mutter mehrmals versucht zu erklären, dass sie nicht helfen konnte. Doch die Worte perlten an Danas Lächeln ab. „Vergiss das Handy nicht. Ich werde es nicht mitnehmen.“

Dana suchte den Blick von Dr. Bird. Er hatte den Kopf gesenkt und strich immer wieder mit den Fingern sein krauses Haar in die Stirn.

„Bringt ihr Caroline morgen mit?“, fragte Lisa.

„Du willst doch nicht, dass sie dich hier so sieht, Liebes. Sie ist so unbeschwert und fröhlich, wir wollen ihr das nicht nehmen. Und weißt du, was? Jetzt schreibt sie sogar ihre Tagebucheinträge auf Französisch. Vermutlich voller Fehler. Aber was weiß ich, ich kann keine Fremdsprache.“

„Mir geht es wieder gut. Ich will sie sehen.“ Lisa beneidete ihre Schwester, die einen Weg gefunden hatte, sich vor Mutter zu verstecken.

Dana blieb dicht vor ihrer Tochter stehen und strich ihr mit der Rückseite der Finger über die Wange. „Bis morgen, Liebes“, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Ganz leise zog sie die Tür hinter sich zu.

„Das Handy“, rief Lisa hinter ihr her und blickte auf die geschlossene Tür. „Jetzt hat sie das Handy dagelassen“, sagte sie mit tonloser Stimme. Nichts wäre ihr lieber gewesen als der Besuch ihrer kleinen Schwester.

„Caroline fehlt Ihnen, nicht wahr?“, fragte Dr. Bird. Seine Hände steckten in den Taschen seines weißen Kittels.

Lisa hatte vergessen, dass er noch im Zimmer stand, und zuckte leicht zusammen. „Ja“, sagte sie und nickte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal hätte sehen wollen.“ Die angeschwollenen Narben an ihren Handgelenken begannen zu jucken.

„Wollen Sie nochmals darüber sprechen?“ Er blickte auf den offenen Koffer, auf das Geschenk auf dem Nachttisch, er sah auf seine Uhr am Handgelenk, schob die Brille hoch und drückte sich erneut ein paarmal das Haar in die Stirn. Erst dann schaute er sie an.

„Nein, ist schon gut. Ich weiß, dass Sie mit meinen Eltern darüber gesprochen haben.“

Dr. Bird verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. „Ihnen ist schon klar, dass Sie mich soeben benutzt haben.“

„Sie wussten, dass meine Mutter kommt und mir die Koffer packt. Sie wollten mir helfen.“ Sie senkte rasch den Blick, als sie das Flackern in seinen Augen sah. Plötzlich lag seine warme Hand auf ihrer Schulter.

„Ich bin immer für Sie da“, hörte sie ihn sagen. Seine Hand wurde feucht und schwer. „Ich hätte Ihnen gerne mehr geholfen. Aber Sie haben es auf einmal nicht mehr zugelassen.“ Er ließ sie los, und bevor er aus ihrem Zimmer verschwand, blieb er bei der Tür stehen und drehte sich um. „Machen Sie’s gut, Lisa.“

„Dr. Bird“, sagte sie schnell, „Sie ahnen nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben.“ Sie strahlte ihn an. Diesmal war ihr Lächeln echt.

Er nickte ihr zu und schloss – so leise wie Dana vor wenigen Minuten – die Tür.

Rosa-weiße Marshmallows

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