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Durch die Fensterläden warf die Sonne schmale Streifen auf Wand und Boden. Lisa blickte zum Wecker. Sein monotones Summen weckte sie jeden Tag zur selben Zeit. Noch im Halbschlaf stellte sie ihn ab und schlief weiter. „Nein“, seufzte sie, „schon wieder so spät.“ Die Zahl auf dem Wecker sprang von 14:52 auf 14:53. Der Kopf dröhnte von zu viel Schlaf. Mit Armen und Beinen befreite sie sich vom Bettlaken und wälzte sich aus dem Bett. Sie hielt die Arme nach oben, streckte sich und jammerte. Vom vielen Liegen schmerzte ihr Rücken. In der Klinik hatte sie regelmäßig Bewegungstherapie bekommen, das hatte ihrer Wirbelsäule gutgetan.

Sie trat an die Kommode, holte frische Unterwäsche aus der Schublade, zog aus dem Kleiderhaufen am Boden Shorts und ein Oberteil mit langen Ärmeln heraus und schlüpfte hinein. Nachlässig fuhr sie mit den Fingern durch ihr Haar und band es zusammen.

Die Realität hatte Lisa erst eingeholt, als Maude nach der Fahrt vom Flughafen zur Farm aus dem Mietwagen kletterte. Von draußen drang der Geruch von Kuhmist ins Auto. Wie hatte sie vergessen können, wie es auf einem Bauernhof roch? Lisa ahnte, dass es für sie nicht ganz so einfach würde, wie sie sich das ausgemalt hatte. Obwohl sie lieber im Auto geblieben wäre, stieg auch sie aus und schaute sich um. Hinter ihr waren der Stall und daneben eine Scheune. Irgendwo gab es Hühner, sie konnte sie lärmen hören. Auf den Fenstersimsen vermisste sie die Blumen, die laut Maudes Erzählungen vom Frühling bis spät in den Herbst dort stehen und blühen würden. Und als sie den schief hängenden Fensterladen sah, wusste sie, dass sie eigentlich nur wegen des Geldes hatte kommen dürfen. Sie hatte Maude vorgeschlagen, für ihren Aufenthalt fünfzig Dollar die Woche zu bezahlen – und war doch enttäuscht, als Maudes Bruder Dave das Geld dann tatsächlich annahm.

Sie hatte sich vor der Reise gefürchtet, vor den vielen Menschen am Flughafen und vor der Enge im Flugzeug. Doch Maude war die ganze Zeit bei ihr gewesen und hatte ihre Hand gehalten.

Mit jedem Kilometer, den sie sich Maudes Heimat genähert hatten, veränderte sich ihre Freundin. Maude wurde aufgeregter und wirkte auf Lisa wie ein kleines Mädchen, obwohl die Landschaft immer gleich aussah: weite Ebenen mit wogenden Halmen, ab und zu ein Haus, mal mit und mal ohne Silo. „Da vorne links ist die Farm“, hatte Maude mit verheißungsvoll glänzenden Augen gesagt.

Nun stand Lisa da und wusste nicht, was ihre Freundin Besonderes in diesem Ort sah. Das Haus wirkte wie alle anderen, die sie auf der Fahrt gesehen hatte: einsam und verloren. Es unterschied sich allein dadurch, dass es auf einer leichten Anhöhe stand. Auch war es kein schöner Frühlingstag, wie Maude die ganze Zeit behauptete. Für Ende April war es viel zu kalt.

Dann kamen Dave und Agnes aus dem Haus, wie Lisa vermutete. Maude fiel ihrem Bruder mit einem Schrei um den Hals, der Schwägerin drückte sie einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Zwei Jungs in Gummistiefeln, kurzen Hosen und mit schmutzigen Knien kamen lärmend angerannt und bestürmten ihre Tante, bis diese mitging, um die Küken zu bestaunen.

„Du musst Lisa sein.“ Dave kratzte sich erst den Kopf, bevor er ihr die schwielige Hand hinstreckte. „Ich bin Dave, und das ist meine Frau Agnes.“ Dann zeigte er auf die Hausecke, um die Maude mit den Kindern verschwunden war. „Die Buben, die sich kurz gezeigt haben, sind Kevin, neun, und Roy, sieben.“

Daves Händedruck war warm. In seinen blaugrünen Augen erkannte sie Maude. Für einen Moment fühlte sie sich weniger verloren – bis sie zu Agnes schaute. Agnes stand reglos neben ihrem Mann und verfolgte mit eindringlichem Blick jede ihrer Bewegungen. Lisas Haut begann unangenehm zu prickeln. Als Agnes ihr die Hand gab, war es, als flutschte ihr ein kalter Fisch durch die Finger. Unwillkürlich wischte Lisa die Handfläche an der Hose ab. Agnes’ eben noch gefährlich blickende Augen wurden leer; ihr dunkel gelocktes Haar, das vorhin im Sonnenlicht rötlich geglänzt hatte, wirkte auf einmal pechschwarz. Hätte neben dem Haus der Hund nicht zu bellen begonnen, wäre Lisa wieder ins Auto gestiegen. Scharf und laut hallte das Gebell über den Platz. Lisa zuckte unweigerlich zusammen.

„Keine Angst. Rufus beißt nicht, er bellt nur. Er bleibt angekettet, bis ihr euch aneinander gewöhnt habt“, sagte Dave und lachte.

Lisa strich sich das Haar hinters Ohr und lachte mit, obwohl ihr nicht danach war.

Maude erschien mit einem flauschigen gelben Ball in der Hand. „Willst du auch mal?“, fragte sie und gab Lisa, ohne eine Antwort abzuwarten, das Küken in die Hände.

Mit hochgezogenen Schultern und einem dottergelben, piepsenden Etwas auf den Handflächen stand sie da und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. In diesem Moment sagte jemand hinter ihr: „Ich glaube kaum, dass das was wird.“

„Das ist mein anderer Bruder, Tom.“ Maude befreite Lisa von dem Küken. „Warum er heute da ist, weiß ich nicht. Normalerweise kommt er erst in den Semesterferien. Sonst arbeitet er als Assistenzprofessor für Landwirtschaftstechnik an der Universität Illinois. Er ist der kluge Kopf in unserer Familie und beweist wissenschaftlich, was unsere Väter schon längst herausgefunden haben.“ Maude schaute ihren Bruder finster an.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, sagte Tom, und weg war er. Lisa schaute er kein einziges Mal an. Er hatte nicht wie seine Geschwister blondes Haar, seines war dunkler, und er hatte braune Augen.

Maude führte Lisa in die Kammer unter dem Dach und half ihr beim Einräumen. Dann zog sie ihre Freundin wieder ins Freie und zeigte ihr den Hof.

„Ach, ich beneide dich“, sagte Maude. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme weit ausgebreitet und begann, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Fühlst du es auch?“, fragte Maude.

Lisa fühlte nichts. Blumen gab es nur hinter dem Haus, und aus dem Stall stank es ganz fürchterlich. Wegen Maude traute sie sich nicht, die Nase zuzuhalten. So unauffällig wie möglich atmete sie flach durch den Mund und hoffte, Maude würde es nicht bemerken. „Ich werde dir regelmäßig erzählen, was hier tagsüber geschieht“, sagte sie. Ihre Stimme klang, als wäre die Nase verstopft.

Maude, die sich während der ganzen Zeit mit weit ausgestreckten Armen drehte, stoppte augenblicklich. Mit einem Ausfallschritt behielt sie die Balance. „Ist alles okay?“, fragte sie und schaute Lisa besorgt an.

„Ja, natürlich, ist halt alles neu für mich.“

Am Tag darauf zeigte Maude ihr, wo sie zur Schule gegangen war, und schleppte sie zum Lake Geneva, wo sie ihren ersten richtigen Kuss bekommen hatte. Dann war der Sonntag auch schon vorbei.

Lisa winkte dem wegfahrenden Auto nach, und als sie sicher war, dass ihre Freundin sie nicht mehr sehen konnte, ließ sie den Tränen freien Lauf. Da erschreckte er sie zum zweiten Mal: Rufus rannte auf sie zu und sprang an ihr hoch. Die Kette knallte. Lisa schrie auf. Der Hund bellte und fletschte die Zähne mit gefährlich verdrehten Augen. Dann schüttelte er den Kopf. Schaum flog in alle Richtungen und traf ihre Hand. Angewidert wischte sie ihren Handrücken an der Hose sauber.

Die erste Nacht verbrachte sie damit, mit der Klatsche die lästigen Fliegen in ihrer Kammer zu töten. Seitdem achtete sie darauf, dass tagsüber Fenster und Tür geschlossen blieben. Das war bisher fast das einzig Nennenswerte, das sie auf der Farm erlebt hatte.

Sie verließ ihr Zimmer und warf aus lauter Gewohnheit einen flüchtigen Blick in den kleinen Spiegel an der Wand, ohne sich dabei richtig wahrzunehmen. Leise zog sie die Tür zu und schlich mit nichts an den Füßen den Flur entlang. Bei der Treppe blieb sie stehen und horchte nach unten. Alles war still. Dann stieg sie vorsichtig die Stufen hinunter, als wollte sie mitten am Tag niemanden wecken.

Die Küche war aufgeräumt und leer, die Gummistiefel der Kinder standen ordentlich neben der Haustür auf der Schuhablage. Keiner war da.

Seit mehr als drei, beinahe vier Wochen – und zweihundert Dollar ärmer – war sie in Walworth. Das tägliche Leben ging an ihr vorbei. Sie wusste nicht, wann genau sie den Moment verschlafen hatte, sich dem Rhythmus der Familie anzupassen. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, nahm ihren Strohhut und trat vor die Tür.

Die Sonne stach in ihre Augen. Irgendwo im Haus musste die Sonnenbrille liegen. Sie setzte sich den Hut auf und blinzelte in den azurblauen Himmel. Unendliche Weite dehnte sich über ihrem Kopf aus. Sie atmete tief ein. Kein Wölkchen war auszumachen. Was hatte Dr. Bird gesagt? Säße man am Tag in einem tiefen Loch, wäre der Himmel schwarz, und man könnte die Sterne sehen. Sie wusste, dass er sie auf die Lichtpunkte im Leben aufmerksam machen wollte, die immer da sind. Sie blickte erneut hinauf zum Himmel. Das befreiende Gefühl stellte sich nicht wieder ein. Ein Windstoß blies ihr den Hut vom Kopf. Müdigkeit übermannte sie. Lisa gähnte ausgiebig, als hätte sie seit den frühen Morgenstunden geschuftet. Sie bückte sich schwerfällig, hob ihren Hut auf und schlurfte mit hängenden Armen über den staubigen Vorplatz. Sie fand die Kraft nicht, sich den Hut wieder aufzusetzen, war froh, dass er ihr nicht aus der Hand glitt.

Kein Mensch war da, alle fort, an der Arbeit auf dem Feld oder sonst wo, sie wusste es nicht. Normalerweise hätte sie die Kinder beim Spielen angetroffen, doch auch die waren weg. Einzig die Hühner neben dem Wohntrakt machten Lärm. Sie blickte zur Stelle, wo Rufus normalerweise unter dem Schatten des Baumes stand und sie anbellte. Der Hund lag angekettet am Boden und schlief. Sie hasste Rufus. Sie würde sich nie an ihn gewöhnen können. Lisa ging über den Platz und wollte zu den Kühen auf die Weide, wo sie die anderen vermutete.

„Nein, Rufus hat keine Tollwut, und das ist kein Schaum, sondern Spucke“, hatte Dave am ersten Tag gesagt, als er vom Gebell und Lisas Geschrei herangelockt wurde. Er hatte den Hund am Halsband gepackt und ihn geschüttelt. Mittlerweile kam keiner mehr nachschauen. Agnes ließ sie wissen, dass der Hund nur auf sie so reagieren würde.

Lisa blieb wie angewurzelt stehen, sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Rufus. Er tat nur so. Er schlief gar nicht. Sie wartete auf das Rasseln der Kette und auf das Bellen. Nichts. Alles blieb still. Dann von irgendwoher ein leises Schaben. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Im Hintergrund hörte sie die Hühner gackern, sonst blieb es still. Das bildete sie sich doch nicht ein, da war was ... Langsam drehte sie sich um.

Tom saß im Schatten auf der Bank vor dem Haus. Sein lederner Hut lag neben ihm. Sie hatten bisher kaum ein Wort miteinander gewechselt. Er steckte die ganze Zeit mit seinem Bruder zusammen, hatte mit ihm immer etwas zu diskutieren. Wie konnte sie ihn nicht gesehen haben? Dabei hätte sie ihn berühren können, so nah war sie an ihm vorbeigegangen. Seine Arme lagen lässig über der Sitzlehne, die Beine locker ausgestreckt. Nur sein Blick war scharf und wachsam. Tom hatte kräftige Hände und Arme und wirkte viel eher wie ein Bauernjunge, der er früher war, als ein Assistenzprofessor.

Er klaubte umständlich etwas aus seiner Gesäßtasche. Lisa presste die Lippen zusammen, als sie erkannte, was es war. Tom hatte ihren Brief noch zwei weitere Male zusammengefaltet und hielt ihn zwischen Mittel- und Zeigefinger hoch.

Sie begann mit ihrem Hut zu spielen, drehte ihn zwischen ihren Fingern, bis sie danebengriff und er in den Staub fiel. Hätte Tom gelacht, wäre die ganze Situation erträglicher gewesen. Sie hob ihn auf, stülpte ihn über ihren Kopf und zog ihn tief in die Stirn. Ihre Hose hatte keine Taschen – daran erinnerte sie sich erst wieder, als sie die Hände hineinstecken wollte. Sie blickte auf das zusammengefaltete Papier in seiner Hand und zupfte an den Fransen ihrer kurzen Hose herum. Als ihr bewusst wurde, wie nervös sie auf ihn wirken musste, verschränkte sie die Finger hinter ihrem Rücken und fing an, in Gedanken zu zählen. Eins. Zwei. Sie fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Drei. Sie blickte nach unten. Seine Beine waren noch immer ausgestreckt. Vier. Ihr Blick wanderte zu ihrem Zimmerfenster unter dem Dach. Sie zählte wirklich sehr langsam. Warum sagt er nichts? Acht. Sie stand in der prallen Sonne und begann unter dem Hut zu schwitzen. Die Ärmel klebten an den Narben. Das kleine weiße Viereck steckte unverändert zwischen seinen Fingern. Zehn. Sie schaute ihn an. Die einzige Regung in seinem Gesicht waren seine Augenlider. Endlich kam Bewegung in ihn.

„Okay. Unter drei Bedingungen“, sagte er und steckte ihren Brief wieder ein.

Ihre Narben begannen zu brennen. Wie konnte er überhaupt Bedingungen einfordern? Ein simples ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ hätte völlig gereicht.

„Erstens“, sagte er und hielt den Daumen hoch, „du nimmst alle Mahlzeiten mit uns ein. Das heißt, dreimal am Tag essen. Zweitens“, der Zeigefinger folgte. Er machte eine Pause. Sein Blick blieb drüben bei den Hühnern hängen. „Du kümmerst dich um die Hühner. Einer von den Jungs soll dir zeigen, wie’s geht, und du hilfst Agnes mit ihrem Gemüsebeet. Drittens“, und um den dritten Punkt zu betonen, tippte er auf den erhobenen Mittelfinger, „du setzt dich einen Abend lang zu BigWam ans Lagerfeuer.“

„Das sind vier Bedingungen.“ Sie schob die Ärmel ihres Shirts hoch und stützte die Arme in die Seite. „Und wer ist überhaupt dieser BigWam?“

Tom hatte ihre Narben entdeckt. Sie konnte es an seiner Miene sehen. Sie versteckte die Arme hinter ihrem Rücken und zog rasch die Ärmel herunter.

„Wenn du ihn siehst, weißt du es“, sagte er.

„Wie lange muss ich die Hühner füttern?“ Sie sprach zu seinen Füßen. Sie steckten in alten, verbeulten Lederstiefeln. Verdammt noch mal, was diskutiere ich eigentlich mit diesem Bauerntölpel?

„Ich hoffe, dass du damit nicht aufhörst.“

Schon in der Klinik sprachen einige mit dieser weichen Stimme, weich und federnd, wie die Wände in der Gummizelle. Sie wollte wieder richtig leben, anecken, Schmerz und Lust empfinden. Deshalb hatte sie Tom um diesen Gefallen gebeten. Auch, weil seine Augen nicht jedes Mal aufleuchteten, wenn er sie sah – sie wollte auf keinen Fall, dass er sich am Ende in sie verliebte. Sie hatte nach ihrem Brief an ihn mit einem ‚Ja, jetzt‘ oder ‚Wann immer du willst‘ gerechnet. Auch, dass er sie in die Scheune ziehen und ihr die Kleider vom Leib reißen würde, hätte sie hingenommen – solange es ihr nur half, sich wieder zu spüren.

„Wie lange?“ Ihre Stimme zitterte.

„Sagen wir ...“, er machte eine kurze Pause. „Du fragst mich nochmals in drei Wochen.“

„Wie bitte? Ich bettle doch nicht“, sagte sie und ärgerte sich, dass sie noch immer vor ihm stand.

„Vielleicht willst du nicht mehr.“ Seine Mundwinkel zuckten. Er griff nach dem Hut, setzte ihn auf und zog ihn ins Gesicht. Im Schatten der Hutkrempe konnte sie seine Augen nicht mehr sehen.

„Gut, einverstanden“, sagte sie mit unterkühltem Ton und ließ ihn sitzen. Ohne sich nochmals nach ihm umzudrehen, stapfte sie zurück ins Haus und knallte mit voller Wucht die schwere Tür hinter sich zu. In ihrer Kammer legte sie sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf.

Am Tag zuvor hatte sie Dave und Tom vor dem Haus angetroffen. Sie waren gerade dabei, die Scharniere des schief hängenden Fensterladens zu reparieren. Die Männer erwiderten knapp ihren Gruß und führten ihre Unterhaltung weiter. Für Ende Mai sei es zu warm und zu trocken, schnappte sie auf. Ihr selbst war warm und trocken lieber. Sie suchte Agnes und entdeckte sie hinter dem Haus. Sie kniete im Gemüsebeet und hackte in der Erde. Lisa ließ Agnes, ohne ein Wort mit ihr gewechselt zu haben, weiterarbeiten und ging zum Hühnergehege. Dort setzte sie sich in den Schatten des Apfelbaumes. Ein herrlicher Duft wehte zu ihr herüber. Das musste der Flieder sein, der etwas weiter weg stand. Hunderte Bienen summten im Baum über ihr. Es roch nach Frühling und nach Neuanfang. Sie schaute den Kindern beim Spielen zu. Sie werkelten mit Holz und Nägeln.

Lisa hätte sich gewünscht, ihre Schwester Caroline wäre früher zur Welt gekommen. Dann hätte sie jemanden zum Spielen gehabt und hätte nicht die ersten zehn Jahre allein mit den Launen ihrer Mutter zurechtkommen müssen.

Sie schaute den Kindern zu, die auch dann nicht zu ihr herüberblickten, als sie sie fragte, was sie denn bauen würden. Trauer stieg hoch. Nicht jene reinigende, tränenreiche, sondern eine, die das Herz in einen schweren Klumpen verwandelte.

Auf einmal war ihr eiskalt. Das Summen der Bienen erstarb. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie konnte kaum mehr atmen. Die Farben verblassten, bis sie die Umgebung nur noch in Grautönen wahrnahm.

Ein lautes Quietschen, Schreie. Die Bahn näherte sich. Ihre Finger krallten sich im Gras fest. „Wo bin ich?“, sagte sie laut. „Wisconsin. Wo genau? Walworth. Was machst du? Ich sterbe. Du wolltest doch sterben. Nein!“ Das waren nicht die Fragen aus der Orientierungsübung. „Wo bist du?“, wiederholte sie. „Wisconsin. Was machst du?“ Sie stand auf, hielt sich am Baum fest. Übelkeit stieg hoch. Die Hand auf den Mund gepresst, wankte sie ins Haus.

In der Küche war es kühl, und es roch nach Kräutern. Eine kurze Wand mit einem hohen Schrank trennte den Essbereich etwas von der Küche ab. Daneben, eingeklemmt in der kleinen Nische zwischen Schrank und der anderen Wand, standen ein kleiner Tisch mit einer Tiffanylampe und ein zierlicher Stuhl. Diese schlanken Möbel passten nicht zum Rest der rustikalen Kücheneinrichtung. Es war, als hätte sie jemand dort hingestellt und vergessen.

Sie setzte sich oben an den langen Esstisch und machte einen tiefen Atemzug. Die Übelkeit ließ nach. Das Kribbeln in den Lippen wurde schwächer. Sie schloss die Augen und atmete weiter tief ein und aus. Sie zog am verschwitzten T-Shirt, stand auf, um sich einmal mehr in ihrem Zimmer zu verkriechen. Bei der Tür blieb sie stehen und besann sich anders. Um diese Tageszeit war es dort viel zu heiß. Sie setzte sich auf den zierlichen Stuhl in der Nische und zog die Beine hoch. Von diesem Platz aus konnte sie noch immer einen Teil des Gartenbeets sehen und würde Agnes rechtzeitig entdecken, sobald diese in die Küche kam. Sie spielte mit dem Kettchen der Tiffanytischleuchte und zog daran, schaute in das warme Rot und Grün der Glasscherben, bis die Augen brannten, und löschte das Licht wieder. Sie legte den Kopf auf die angezogenen Knie. Friede. Ruhe. Die Küche war dreimal täglich Treffpunkt der Familie – und dazwischen der verlassenste Ort der Welt.

Plötzlich hörte sie Schritte und unterdrücktes Gelächter im Flur. Dann schlug die Tür gegen die Küchenanrichte.

„Wart nur, du Luder.“

Das war Dave. Lisa erstarrte. Ihr Herz schlug, als wäre Rufus in die Küche gestürmt.

„Nicht doch. Hör auf. Nicht hier. Die Kinder.“ Agnes lachte leise.

„Keine Sorge. Die Kinder sind draußen beim Spielen.“

„Was machen wir denn nun mit Roy?“, fragte Agnes.

„Ach, lass den Jungen doch, es sind bald Sommerferien. Der braucht einfach ein bisschen mehr Zeit als andere.“

Stoff raschelte.

Ein Klaps.

„Lass das. Die Lehrerin meint, er sei in der Entwicklung zurück, und wir sollten ihn abklären ... Hörst du mir zu?“, fragte Agnes.

„Können wir das ein andermal ...? Hab nicht viel Zeit“, antwortete Dave mit rauer Stimme.

Lisa schluckte. Vorsichtig stellte sie die Fußspitzen auf den Boden. Und obwohl sie wusste, dass es dumm war, blieb sie mit angespanntem Zwerchfell in ihrer Ecke sitzen.

„Es ist wichtig ...“ Agnes brach ab und begann, leise zu stöhnen. „Wenn du nicht so viel Zeit hast ...“, murmelte sie und verstummte.

Lisa hörte, wie sie sich küssten.

„Könntest du mir bitte ... Dave ...“

Ein Reißverschluss wurde nach unten gezogen.

Lisas Handflächen wurden feucht. Jetzt war es zu spät, hervorzukommen. Warum war sie auch nur so lange sitzen geblieben?

„... die Kartoffeln in die Küche ...“ Agnes begann leise zu lachen. „Lass das.“

Obwohl Lisa wusste, dass sie sich nirgends anders würde verstecken können, schaute sie sich fieberhaft in der Ecke um.

„Sei endlich still, Frau!“

Ein Rumpeln ... und noch eins. Es hörte sich an, als wäre ein Kopf oder ein Knie gegen eine Schranktür gestoßen. Lisa vergrub ihr Gesicht in den Händen. Agnes lachte tief und gab einen unterdrückten Schrei von sich. Dave ermahnte sie, leise zu sein, küsste sie oder hielt ihr den Mund zu. Lisa konnte es von ihrem Platz aus nicht sehen. Eine Hitzewelle schoss in ihren Kopf. Sie wollte sich die Ohren verschließen und tat es doch nicht, hörte mit angehaltenem Atem dem Treiben der beiden zu.

Zu Beginn hatte der Gedanke sie nur ganz leicht gestreift und war fast vorübergezogen. Doch in allerletzter Sekunde klammerte er sich mit aller Kraft irgendwo in ihrem Gehirn fest und entwickelte sich zur, wie sie dachte, genialen Lösung ihres Problems.

Von draußen drangen nun dumpfe Schritte und Geschrei in die Küche.

„Die Kinder“, keuchte Agnes, und beide begannen, leise zu lachen. Stoff wurde eilig glatt gestrichen, ein Reißverschluss gezogen.

„Hast du dich auch schon gefragt, ob sie einen Sensor haben?“, fragte Dave.

„Warum?“ Agnes’ Stimme klang wieder normal.

„Sie erscheinen immer im ungelegensten Moment.“

„Irgendwann erwischt uns einer von beiden mal. Warum kannst du dich nicht zügeln?“

Aus ihrer Stimme hörte Lisa heraus, wie sehr Agnes das stürmische Verhalten ihres Mannes mochte.

Lisa zuckte zusammen. Zuerst ein dumpfer Knall gegen die verschlossene Tür. Dann wurde sie aufgestoßen, sie schlug ein zweites Mal an die Küchenanrichte.

„Was soll das?“, schimpfte Agnes.

„Roy hat meine Kamera versteckt.“ Kevins Stimme überschlug sich.

„Stimmt nicht“, schrie Roy.

„Ruhe, verdammt noch mal!“, fluchte Dave mit tiefer Stimme. Schwere Schritte entfernten sich. Dave war gegangen.

„Mom, sag doch was!“

War das Kevin? Die Stimmen der Brüder klangen ähnlich.

„Au! Das war ich nicht, ich hab sie nicht versteckt!“

„Roy, wo hast du die Kamera?“, fragte Agnes.

Roy begann zu weinen. „Kevin hat meine Schaukel kaputt gemacht.“

„Wo ist die Kamera?“, wiederholte Agnes scharf.

Roy schrie auf.

„Hör auf, ihn an den Haaren zu ziehen.“ Nichts in Agnes’ Stimme verriet, was sie vor wenigen Minuten mit ihrem Mann in der Küche getan hatte.

Die Tür wurde zugezogen, das Geschrei und Agnes’ Stimme klangen gedämpft und wurden immer leiser.

Lisa wartete, bis sie sicher war, dass keiner zurückkommen würde. Auf den Zehenspitzen schlich sie zur Tür, lauschte – und als sie eine Weile nichts hörte, öffnete sie sie einen Spaltbreit. Keiner war mehr im Haus.

Sie huschte die Treppen hoch und versteckte sich in ihrem Bett. Vor Erschöpfung schlief sie ein und verpasste damit das Abendessen. Mit knurrendem Magen lag sie hellwach auf dem Bett und konnte nicht mehr einschlafen. Sie machte Licht und las ein paar Seiten, ohne bei der Sache zu sein. Ihre Gedanken schweiften zu Dave und Agnes und zu dem, was sie in der Küche belauscht hatte. Mittlerweile war es im Haus still geworden. Sie löschte das Licht. Im Bett war es heiß. Sie schlug die Decke zurück, wälzte sich hin und her. „Herrgott noch mal“, fluchte sie leise. Sie machte das Licht wieder an, nahm das Nokia und rief Maude an.

„Ja?“, klang es schlaftrunken aus dem Hörer.

„Sag nicht, du hast schon gepennt.“ Lisa sprach mit leiser Stimme.

„Weißt du, wie spät es ist? Ich muss morgen wieder früh raus.“ Maude gähnte laut. „Das musst du auch, wenn du auf der Farm Fuß fassen willst.“

Autsch – dieser Seitenhieb saß. „Ruf mich zurück, wenn du ausgeschlafen hast. Ich muss dich etwas fragen.“

Maude stöhnte. „Frag jetzt.“

„Ist Tom in festen Händen, und wie lange bleibt er auf der Farm?“

„Warum willst du wissen, wie lange er bleibt und ob er eine Freundin hat?“ Maude klang hellwach.

„Ach, nur so“, wiegelte Lisa ab und starrte an die Decke. Sie fuhr der Maserung der Holzbretter nach, überprüfte die Übergänge der Schnittstellen und fragte sich, ob die ganze Decke vom selben Baum war.

„Läuft da was zwischen euch beiden?“ Maudes Stimme veränderte sich, nahm einen drohenden Unterton an.

„Nein, wie kommst du darauf? Ich will keine Beziehung. Will mir nicht zusätzliche Probleme aufhalsen – habe wahrlich genug zu tun mit denen, die bereits da sind.“

„Du rufst mich mitten in der Nacht an, nur um zu fragen, ob Tom eine Freundin hat? Bist du übergeschnappt?“

„So, wie du das jetzt sagst, klingt es tatsächlich danach. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab’.“

„Schon okay. Wie geht es dir? Hast du dich eingelebt?“, fragte Maude.

„Hat er eine Freundin?“

„Hörst du dir eigentlich selber zu? Du klingst wie eine verliebte Zwölfjährige!“ Maudes Stimme war laut geworden.

„Hat er?“ Lisa verstand nicht, warum Maude sich so aufregte.

„Du hast dich in ihn verliebt ... Verdammte Scheiße!“

„Nein, habe ich nicht. Was hast du nur?“ Lisa lachte gequält. „Das wäre doch mal was anderes, wenn ich mich wieder verlieben könnte.“

Maude räusperte sich. „Ich habe keine enge Beziehung zu ihm. Aber soviel ich weiß, hat er keine Freundin.“

„Warum bist du so aufgebracht? Ist es, weil er dein Bruder ist?“

„Ja, das auch. Aber vor allem will ich dich vor ihm beschützen.“

Lisa stieß einen Lacher aus. „Das musst du nicht, da läuft rein gar nichts zwischen uns.“

„Du hast doch nichts Verrücktes vor?“ Maudes Stimme klang etwas weicher.

Was sollte sie sagen? Die Idee war mehr als verrückt, und Maude würde ihr dieses Vorhaben auf der Stelle ausreden. „Nein. Ich will nur wieder richtig leben.“ Lisa fand, sie hatte ihre Freundin nicht wirklich angelogen.

„Deswegen wolltest du doch auf die Farm?“

„Maude?“, sagte Lisa nach einer Weile.

„Ja?“

„Die Farm und deine Familie tun mir gut.“ Jetzt hatte sie ihre Freundin doch angelogen.

„Du ahnst nicht, wie ich mich für dich freue. Dann ist die Farm wirklich das Richtige für dich. Ehrlich gesagt hatte ich meine Zweifel“, lachte Maude. „Du kannst mich immer anrufen. Auch wenn ich aus dem Schlaf gerissen werde und zu Beginn etwas ruppig klinge.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Maude und beendete das Gespräch.

Lisa schaute mit dem Handy an den Lippen zur Decke und blieb so lange liegen, bis sie das Herz in der Holzmaserung fand. Dann gab sie sich einen Ruck und setzte sich an den kleinen Schreibtisch.

Bald lagen die ersten Versuche zusammengeknüllt neben dem Papierkorb. Der letzte Bogen Papier lag vor ihr und wartete darauf, beschrieben zu werden. Lisa wusste einfach nicht, wie sie ihren Brief formulieren sollte. Sie begann, den Kugelschreiber um ihren Daumen zu wirbeln. Sie malte auf den Fingernagel winzige Tupfen und verband sie zu kleinen Blumen. Einige Minuten lang betrachtete sie ihr Werk. Dann wischte sie den Nagel sauber. Sie musste nichts erklären. Nur die Kinder wussten nicht, warum Lisa hier war.

„Ich muss es ihnen sagen, wenn du auf die Farm willst“, hatte Maude damals mit ernster Stimme gesagt, als sie allein im Aufenthaltsraum saßen. Ihre Köpfe steckten nah beieinander. An der Wand hinter ihnen hing ein Kunstdruck von Paul Klee. Die bunten Vierecke brachten etwas Farbe ins Zimmer.

„Ich will von deinem Bruder und seiner Familie ganz normal behandelt werden“, erklärte sie Maude.

„Ich sage ihnen, dass sie dich normal behandeln sollen.“ Maude drückte sanft ihre Hand.

„Verstehst du denn nicht? Sie können mich dann nicht mehr normal behandeln, das geht dann einfach nicht mehr.“

„Glaub mir, es ist besser so.“

Darauf hatte Lisa nichts mehr gesagt. Es hatte keinen Sinn. Maude wollte sie offenbar nicht verstehen.

Sie blickte auf die Papierkugeln am Boden und seufzte. Ihr Kopf war mit Erinnerungen vollgestopft, die keinen Platz übrigließen, um einen brauchbaren Satz zustande zu bringen. Sie rückte den Stuhl zurecht, beugte sich über das letzte Blatt Papier und schrieb mit ihrer schönsten Schrift nur eine einzige Frage.

Wäre sie zehn Jahre alt gewesen, hätte sie noch zwei Kästchen mit ‚ja und ‚nein darunter gemalt. Sie faltete das Papier einmal zusammen und schlich über den Gang zu Toms Zimmer. Vor seiner Tür blieb sie mit klopfendem Herzen stehen und wartete. Kein Licht drang durch den schmalen Spalt am Boden. Sie legte vorsichtig ihr Ohr an die Tür und hörte nur ihr Blut rauschen. Für kurze Zeit war sie wieder das kleine Mädchen am Strand, das sich zögerlich die große Muschel ans Ohr hielt und voller Skepsis ihren Vater anblickte, der steif und fest behauptete, sie könne darin das Meer rauschen hören.

Als alles still blieb, bückte sie sich und schob vorsichtig den Zettel unter der Tür durch. Sie hatte nichts zu verlieren.

Rosa-weiße Marshmallows

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