Читать книгу Rosa-weiße Marshmallows - Bettina Ehrsam - Страница 15
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ОглавлениеMaude drehte mit beiden Händen den Spieß über der Glut. Rufus begann zu bellen und hörte erst nach einer Weile wieder auf.
„Verdammter Hund“, murmelte Lisa.
„Ich hätte es dir sagen sollen“, sagte Maude mit leiser Stimme.
„Hättest du. Mir verbietest du, mit Tom etwas anzufangen, und hinter meinem Rücken verlobst du dich mit Philipp.“
Maude atmete tief ein. „Glaub mir, du hast keine Ahnung, wie ich mit mir gerungen habe. Ich hätte dir so gerne davon erzählt. Andererseits wollte ich dich mit meinem Glück nicht traurig machen.“ Sie schaute auf den Ring an ihrer linken Hand.
„Du bist meine Freundin. Du musst meine Traurigkeit aushalten.“
„Und wenn ich das nicht kann?“ Maudes Stimme war nur ein Flüstern.
„Du bist während meiner schlimmsten Zeit bei mir gewesen. Warum solltest du das nicht können?“
„Da war ich nicht schuld.“
„Und du denkst, ich würde dir dein Glück nicht gönnen?“
Maude beugte sich nach vorne und starrte ins Feuer. Mechanisch drehte sie den Spieß zwischen ihren Fingern. „Nein, natürlich nicht“, seufzte sie leise. „Aber es wäre schlimm, dich traurig zu machen, wo du doch wieder glücklich werden willst.“
„BigWam hat gesagt, man darf sein Glück nicht von anderen Menschen abhängig machen. Ich denke, das gilt auch andersrum.“
„Wie meinst du das?“ Maude senkte ihre Hände. Die vordersten Marshmallows schmolzen und fielen ins Feuer. Sie zog den Stecken rasch zu sich und blies kräftig darauf. „Philipp wird nicht zwischen uns kommen, versprochen. Willst du probieren?“ Maude hielt ihr die Marshmallows hin. „Dr. Bird wäre begeistert, wenn er dich hier sehen könnte.“ Maude verstellte ihre Stimme: „Lisa, die frische Landluft und die gesunde Milch haben Sie regelrecht aufblühen lassen.“
„Nein, so würde er das nicht sagen. Er würde sagen: ‚Lisa, Sie haben sich zum Positiven verändert. Was war der Auslöser, der Sie aus dem Loch geholt hat? Können Sie Ihre Gefühle beschreiben?‘ Er wollte immer über meine Gefühle sprechen, und wehe, du sagtest, du hast keine. Diesen Fehler habe ich nur ein Mal gemacht.“
Es war nicht die frische Luft und auch nicht das gesunde Essen. Mit dem Füttern der Hühner und der Arbeit im Garten wollte sie vor allem zeigen, dass sie dazugehörte. Der Auslöser war Roy gewesen. Sie wollte ihm helfen, ein bisschen mehr Selbstvertrauen zu gewinnen. Doch neben einem Bruder wie Kevin war das schwierig. Kevin war ein cleveres Bürschchen. Wenn am Küchentisch eine Frage gestellt wurde, wusste er immer als Erster die Antwort.
Abends saß sie an BigWams Feuer. Manchmal roch der Rauch ganz sonderbar, wenn er irgendwelche Kräuter gegen die bösen Geister verbrannte. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Wäre Dr. Bird nur annähernd wie BigWam gewesen, hätte er ihr vermutlich helfen können.
Sie legte ein Holzscheit ins Feuer. Die Flammen wurden kleiner, drohten zu ersticken. Sie blies vorsichtig in die Glut. Asche flog hoch und rieselte auf ihr Haar. Nach ein paar weiteren Atemstößen fanden die Flammen Halt und erwachten zu neuem Leben. Sie setzte sich wieder.
„Sag mal, bist du viel mit BigWam zusammen?“, fragte Maude.
„Tom hat mich dazu gebracht.“
„Tom? Echt?“ Maude machte eine Pause. „Gibt es da etwas, das ich wissen muss?“
Lisa schwieg und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß doch, dass du mir etwas verheimlichst. Also, sag schon.“
„Ich bin wie du erwachsen.“
„Lisa, bitte.“
„Was hast du bloß gegen ihn?“
„Er ist ein Unruhestifter und Zerstörer. Und glaube mir, ich kenn’ ihn besser ...“
„... als ich?“, unterbrach Lisa ihre Freundin. „Ich würde es dir gern erzählen. Aber du wirst total austicken.“
„Hast du was mit ihm?“
Wäre Lisa nicht so wütend gewesen, hätte sie über Maudes belämmerten Gesichtsausdruck lachen können. „Ich habe es so satt! Ich werde von dir, von meiner Mutter, von Dr. Bird, von euch allen in eine Richtung gestoßen, die euch gerade so passt. Ihr wollt mir helfen? Dass ich nicht lache! Ihr benutzt mich nur, damit ihr euch selbst besser fühlt. Sag doch endlich, was du wissen willst. Du willst wissen, ob ich mit ihm gefickt habe?“
Maude schnappte nach Luft.
„Sag es!“
Maude lege die Hand auf die Magengrube. „Ja“, zischte sie.
Lisa schloss die Augen. Tränen drückten unter den Lidern durch und blieben an den Wimpern kleben. Sie fuhr mit dem Ärmel über die Augen. Diesmal wollte sie nicht, dass Maude sie weinen sah. „Die ersten Wochen waren sehr schlimm. Ich stand erst am Nachmittag auf und habe mich vor dem restlichen Tag versteckt. In der Nacht fand ich keinen Schlaf. Die Realität war nicht so, wie ich es mir aus deinen Geschichten zusammengereimt hatte.“
„Das ist es ja, was ich dir in der Klinik zu erklären versucht habe ...“
Eine Weile blieb es ruhig. Lisa formulierte im Innern Worte, die sie Maude sagen wollte, und verwarf sie wieder. Warum machst du dir Gedanken? Sie hat sich hinter deinem Rücken verlobt, ging ihr durch den Kopf.
„Entschuldige, das wollte ich nicht“, brach Maude die Stille, als hätte sie Lisas Gedanken gelesen.
Lisa ging nicht auf Maude ein. „Wie gesagt, es war am Anfang sehr schwierig für mich. Ich wusste nicht, wie ich da rauskommen sollte. Da hatte ich plötzlich eine Idee.“ Die Worte laut auszusprechen, fiel ihr unerwartet schwer. „Kannst du dir denken, welche?“ Insgeheim hoffte sie, Maude würde selbst darauf kommen.
„Sag, dass du nicht mit ihm geschlafen hast. Du kannst mit allen schlafen, aber nicht mit Tom! Fang nichts mit ihm an.“ Im Licht des Feuers hatte Maude schwarze Schatten im Gesicht und sah aus wie eine Eule.
Lisa ließ ihren Kopf auf die Knie sinken und murmelte: „Ich versteh’ das einfach nicht.“
„Was hast du gesagt?“, fragte Maude.
Sie setzte sich gerade hin. „Was regst du dich so auf? Es geht dich eigentlich gar nichts an. Dein Bruder hat mich als Einziger nicht in eine Richtung gestoßen, die ihm passte. Er hat mir was gegeben.“
„Was hat er dir gegeben?“ Maude klang so besorgt, es war geradezu lächerlich.
Lisa konzentrierte sich auf den hellsten Punkt in der Glut, und als sie sicher war, dass sie mit normaler Stimme weitersprechen konnte, sagte sie: „Es geht in dieser Geschichte um mich, nicht um dich ...“
„O ja, entschuldige, du bist ja diejenige mit dem Knacks, und alle Welt muss auf dich Rücksicht nehmen“, fuhr ihr Maude über den Mund.
Lisa schüttelte langsam den Kopf. Diese Seite kannte sie nicht an Maude, und sie fragte sich, ob eine beste Freundin überhaupt so sein durfte.
Maude richtete sich auf und zeigte mit dem Spieß auf Lisa. „Hörst du? Das gibt dir noch lange nicht das Recht, alles zu tun, was dir passt.“
Glut spritzte hoch.
Lisa schlug ihr den Stecken aus der Hand. „Was fällt dir ein!“, fuhr sie Maude an. Ihr Herz raste, als wäre sie gelaufen. Überdeutlich roch sie das geschmolzene Plastik und den verbrannten Zucker, sah gestochen scharf die Flammen lodern, bemerkte gleichzeitig Maudes heruntergezogene Mundwinkel, und bevor sie richtig ausholen und zuschlagen konnte, schmiegte sich etwas um ihr Herz und beruhigte es. Augenblicklich wurde sie still. Sie schaute sich um. BigWam war nirgends zu sehen.
„Nicht nur Philipp, auch Tom wird sich nicht zwischen uns stellen.“ Es war, als spräche BigWam aus ihrem Mund.
Maude wandte sich ab und schaute zum Haus. Ihre Schultern hoben und senkten sich. „Das ist ganz was anderes, glaub mir“, stieß sie zwischen zwei Atemzügen hervor.
„Weshalb muss ich mich vor dir rechtfertigen?“, fragte Lisa.
Mit einem Ruck drehte sich Maude wieder zu ihr und schaute sie entgeistert an. „Das musst du nicht. Du merkst doch, dass ich dich schützen will.“
Lisa stieß einen Lacher aus. „Keiner kann mich schützen. Das solltest du besser wissen als alle anderen. Echt, Maude, ich verstehe dich nicht. Er ist dein Bruder. Dass du nicht begeistert bist, von mir aus. Aber du stellst dich an, als wäre er dein Verlobter.“
„Warum willst du das nicht begreifen? Er ist nichts für dich. Du brauchst ihn nicht.“ Maude verstummte, als Lisas Augen schmal wurden.
„Stellst du mich vor eine Wahl?“, fragte sie.
„Spinnst du? Ich stell dich doch nicht vor eine Wahl. Siehst du denn nicht, was sich hinter seinen treu blickenden Augen verbirgt?“
„Was soll sich hinter seinen Augen verbergen?“
„Er nutzt dich aus.“ Maudes Arme flogen hoch.
Lisa winkte ab. „Zu deiner Beruhigung: Ich habe noch nicht mit ihm geschlafen.“
„Noch nicht? Du hast es vor!“
„Um Himmels willen, beruhige dich.“ Lisa legte den Kopf wie vorhin auf die Knie. Die Hitze hatte ihr beinahe ein Loch in die Stirn gebrannt.
„Ich bin ganz ruhig“, sagte Maude mit zu hoher Stimme.
„Maude, ich kenne dich nicht wieder. So habe ich dich noch nie erlebt. Wenn ich gewusst hätte, dass du so reagieren würdest, hätte ich ihn nie gefragt.“
„Was gefragt?“ Maude saß wie eine gespannte Feder auf dem Baumstamm.
„Ob er mit mir schlafen will.“
Als wäre sie verraten worden, vergrub Maude ihr Gesicht in den Händen und stöhnte lang.
„Es reicht jetzt.“ Lisa stand auf und klopfte sich die Hose sauber. „Das muss ich mir von niemandem gefallen lassen, auch nicht von dir.“
„Du bist nicht anders als Lilly O’Brien“, stieß Maude hervor. Ihr Mund hatte einen fremden Zug bekommen.
„Wer ist Lilly O’Brien?“, fragte Lisa vorsichtig.
Maudes Kinn begann zu zittern. Tränen schwammen in ihren Augen.
„Ich bin ganz sicher nicht wie sie.“ Lisa setzte sich wieder an ihren Platz zurück und legte Maude die Hand auf die Schulter. „Ich mag Tom“, flüsterte sie.
Maude sagte nichts. Sie hatte ihren Kopf gesenkt und die Hände zwischen ihre zusammengepressten Knie gesteckt. Lisa strich ihr sanft über den Rücken. Was stimmte nicht mit ihrer Freundin?
„Lilly O’Brien war die Hübscheste an unserer Schule. Alle wollten mit ihr befreundet sein, und ich war ihre beste Freundin.“ Maude fuhr sich mit dem Ärmel über ihre Augen. „Wir waren in derselben Klasse und saßen nebeneinander. Als wir sechzehn waren, hat sich Tom an sie herangemacht.“ Maude legte eine Pause ein. Als sie weitersprach, war ihre Stimme noch leiser. „Als mein ach so toller Bruder mit ihr fertig war, war Lilly schwanger und wütend auf mich, weil ich als ihre allerbeste Freundin sie nicht vor ihm gewarnt hätte. Stell dir vor, sie hat mir sogar vorgeworfen, ich hätte in seinem Auftrag gehandelt. Tom hat abgestritten, der Vater zu sein. Ich wollte das Ganze auf der Stelle klären; sie ließ es aber nicht zu, sprach mit allen anderen und nie mehr mit mir. Sie hat mich, wo immer sie konnte, schlechtgemacht. Ich verstand das alles nicht. Die Jungs haben mir in ihrem Beisein Gemeinheiten an den Kopf geworfen, nur um bei ihr gut dazustehen. Einer hat mich auf ihren Befehl hin an den Haaren gerissen. Zu mehr trauten sie sich nicht, da ich ja zwei ältere Brüder hatte.“ Maude schlug die Hände vors Gesicht. „Und nun das. Ich werde dich verlieren.“
„Beruhige dich, das wirst du nicht. Was genau hat Lilly dir vorgeworfen?“
„Unsere Freundschaft sei nie echt gewesen.“
„Siehst du, unsere Freundschaft ist echt. Sonst würden wir jetzt nicht darüber sprechen.“
Maude lehnte sich an Lisas Schulter.
Das Feuer knackte, die Flammen tanzten. Lisa hielt Maude in ihren Armen und dachte an Tom. Er hatte nie von einem Kind gesprochen. Wie alt war es jetzt wohl? So alt wie Roy? Fuhr er gar nicht zu einer Frau, sondern zu seinem Kind? Diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder. Es war schon reichlich spät gewesen, als er losgefahren war.
„Ich wusste nicht, dass er ein Kind hat.“ Sie ließ ihre Freundin los, nahm das Bier vom Boden und spülte damit ihre trockene Kehle. Es schmeckte schal, aber das war ihr gleich.
„Hat er nicht“, sagte Maude.
„Sie hat es abgetrieben?“ Lisa rieb sich kräftig die Wangen, damit Maude ihre Erleichterung nicht sehen konnte.
„Sie hatte eine Fehlgeburt“, sagte Maude.
„Oh, wie schrecklich ... War sie lange im Krankenhaus?“
„Nein, es ist auf der Toilette bei ihr zu Hause passiert.“
„Maude, schau mich an.“ Lisa wartete, bis Maude ihr in die Augen blickte. „Ich denke, Lilly O’Brien war gar nie schwanger. Sie ist ein ganz durchtriebenes Miststück.“
„Du kennst sie nicht. So was hätte sie nie getan.“ Maude spielte mit ihrem Verlobungsring.
„So was hätte sie nie getan? Ach komm, hör doch auf! So, wie sie dich behandelt hat? Maude, du bist einfach viel zu gutmütig für diese Welt.“
Maude zuckte traurig mit den Schultern.
„Maude, was soll das? Du hast doch sonst immer den Durchblick. Was hat Tom damals gesagt?“
„Er sagte, es sei andersrum gewesen, sie hätte von ihm Dinge verlangt, die er nicht machen wollte.“
„Was für Dinge?“ Tom hatte also Erfahrung mit unmoralischen Angeboten, dachte sie.
„Hat er nicht gesagt. Ich solle Lilly fragen, meinte er nur.“ Maude wirkte erschöpft.
„Und?“
„Sie sprach ja nicht mehr mit mir.“
„Warum denkst du immer noch an sie?“
„Ich habe seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Es ist nur – ich will einfach nicht ... Du weißt schon.“
Lisa legte den Kopf in den Nacken. Erstens war sie nicht Lilly, und zweitens wollte sie selbst entscheiden, mit wem sie ins Bett ging. Über ihr funkelten Millionen von Sternen am dunklen Firmament. Wie unbedeutend doch alles war. „Es ist schon eigenartig, dass du Lilly mehr glaubst als deinem Bruder“, sagte sie zu den glitzernden Punkten. Was hatte Lilly von ihm verlangt, das so schrecklich war, dass er sie abservierte? Neben ihr schlang Maude die Arme eng um ihren Körper. „Sag mal, ist dir kalt?“
Maude schwieg und Lisa blickte wieder zu den Sternen. Vom Haus her drangen gedämpfte Stimmen. Sie hörte Grillen zirpen und Tiergeschrei. Wie laut es ist, wenn man still ist, dachte sie.
„Du glaubst mir nicht“, sagte Maude nach einer Weile. „Du denkst, Tom sei nicht so. Er hat mir immer alles kaputt gemacht.“
„Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?“ Der Nachthimmel nahm sie so lange in den Bann, bis Maude etwas ins Feuer kickte, das hell entflammte und wieder erlosch.
„Er hat an meinen Zöpfen gezogen, allen Puppen die Haare abgeschnitten.“ Maude schluckte. „Hat in meine hübschen Gummistiefel gepisst und später die Freundschaft mit Lilly zerstört.“
„Er hat in deine Stiefel gepinkelt?“ Lisa hielt den Atem an, um nicht loszuprusten. „Sorry Maude, aber das ist wirklich zu komisch.“ Sie konnte ihr Lachen nicht länger zurückhalten.
„Und vergiss nicht, er hat an meinen Zöpfen gerissen, und zwar so!“ Maude packte Lisas Haar und zog daran.
„Au!“ Lisa rieb sich die Kopfhaut und ließ sich rückwärts auf den Boden fallen. Sie presste die Faust auf ihren Mund und lachte weiter. „Maude, ich kann nicht anders.“ Sie rang laut um Luft. „Es tut mir wirklich leid“, kicherte sie und biss sich auf die Hand, was nicht viel nützte. Sobald sie an Gummistiefel dachte, wurde sie von einer neuen Lachsalve geschüttelt. „Oh, Maude, so sind wohl Brüder.“
„Nein, Lisa, nicht Brüder – Tom. Dave hat mich immer in Schutz genommen.“
„Dann waren du und Dave gegen den armen Tom?“ Lisa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Nimm ihn nur in Schutz. Du kennst ihn eben nicht.“ Maude machte eine Pause. „Gegen Dave hatte er keine Chance. Deshalb war er gemein zu mir. Und manchmal hat Dave ihn deswegen verdroschen.“
„Ihr seid doch jetzt alle erwachsen. Das ist doch Schnee von gestern.“
„Im Normalfall würde ich dir zustimmen. Hast du nicht bemerkt, dass er vorhin kein Wort mit mir gewechselt hat? Er ist aufgestanden und einfach gegangen.“
Lisa erschrak. Sie hatte Trauer in Maudes Stimme gehört. War Tom bewusst, wie sehr seine Schwester unter dieser alten Geschichte litt? „Das stimmt nicht“, beruhigte sie ihre Freundin. „Er hat nichts gegen dich. Zu deiner Information: Er sagte bereits, als er herkam, dass er nicht lange bleiben würde. Ehrlich. Und er gab dir den brüderlichen Rat, die Marshmallows nicht verkohlen zu lassen.“
„Hat er das?“
Lisa nickte und klopfte mit der Hand neben sich auf den Boden. „Von hier kannst du die Sterne sehen.“
Maudes Gesicht verfinsterte sich wieder. „Er war immer der Störenfried“, sagte sie und stieß einen groben Lacher aus. „Hat auch in der Schule nichts als Probleme gemacht.“
„Was hackst du nur so auf ihm rum? Das hast du doch früher nie gemacht.“
„Er konnte mich noch nie leiden“, fing Maude von Neuem an.
„Komm her.“ Lisa klopfte wieder auf den Boden. „Kennst du die Sternbilder?“, fragte sie.
„Nur den Großen und den Kleinen Wagen.“ Maude legte sich neben sie und zeigte mit der Hand in die Luft. „Siehst du dort den hellen Stern? Das ist der Polarstern.“
Für Lisa waren alle Sterne hell. Dann kicherte sie erneut und biss sich in den Finger, um nicht laut loslachen zu müssen.
„Hör endlich auf. Das ist nicht lustig.“
Lisa versuchte nicht einmal, ihr Lachen zu unterdrücken.
„Lisa, hör jetzt auf, das ist nicht lustig!“ Maude knuffte sie in die Seite.
Sie konnte nicht anders, sie musste weiterlachen.
„Pscht, Lisa!“ Maude presste ihr die Hand auf den Mund. „Pscht, nicht so laut! Sonst kommt am Ende noch Agnes und schimpft uns aus.“
Lisa bekam kaum Luft und stieß Maudes Hand weg. „Oh, die hätte uns gerade noch gefehlt“, japste sie.
Nun lachte auch Maude, und beide hörten sich an wie die gackernden Hühner auf dem Hof, wenn Lisa mit dem Eimer kam. Die schmale Mondsichel hoch am Himmel spendete kaum Licht. So bemerkten die beiden Frauen den Schatten nicht, der einige Meter hinter ihnen, mit zum Himmel gerichtetem Gesicht und ausgebreiteten Armen, still dastand.
„Ist extrem heiß, so nah am Feuer.“ Maude rieb sich die nackten Stellen an den Beinen. Sie war offenbar so damit beschäftigt, sich die Haut zu reiben, dass sie die Welt um sich herum vergaß.
Lisa stupste ihre Freundin an „Ich bin nicht Lilly“, wiederholte sie.
„Das weiß ich doch.“ Maude musste ein paarmal ansetzen, bevor sie den Faden fand und weitersprach. „Glaub mir, er würde trotzdem irgendwie zwischen uns stehen. Er kann das gut, und das will ich einfach nicht. Ich kenne ihn, er wird dir das Herz brechen.“
„Du brauchst dich deswegen nicht zu sorgen. So viel Macht hat er nicht über mich. Es ist doch ganz anders.“ Lisa berührte Maudes Arm. „Und wenn du nicht ausflippst, erzähle ich dir auch, was sich zwischen uns abgespielt hat.“
„Na, mach schon“, sagte Maude, als Lisa keine Anstalten machte, mit der Geschichte herauszurücken.
„Versprich mir, dass du nicht ausflippst.“
„Ich verspreche es.“
„Nein, du musst es schwören.“
„Lisa, übertreib nicht.“
Lisa begann ihre Erzählung mit dem Brief, den sie Tom unter der Tür durchgeschoben hatte, und schloss sie mit dem Hühnerfüttern ab.
„Er hat sich geweigert und dir stattdessen Aufgaben gestellt?“ Maude schnaubte ungläubig.
„Ja, und seither treffe ich mich regelmäßig mit BigWam. Er ist ein guter Zuhörer und ein Vielfraß.“ Lisa stellte ihre Füße neben Maudes auf den Baumstamm. „Warum hast du ihn bei deinen Schilderungen nie erwähnt?“
„Er kam erst später. Da war ich schon in Boston. Sag mal, das ist kein Witz, du bringst ihm immer was zu essen mit?“
„Das ist der Preis für den Eintritt in seinen spirituellen Raum“, sagte Lisa und war froh, dass sie nicht mehr über Tom sprachen.
„Raum? Welchen Raum?“
„Na, den hier.“
„Wie, hier?“
„Geistig halt.“ Lisa legte ihre verschränkten Arme unter den Kopf. „Es fühlt sich an, als wäre BigWam noch hier. Findest du nicht auch?“
„Weißt du, du hast dich sehr verändert. So kenne ich dich gar nicht.“
„Ja, ich bin nicht mehr die, die ich war. Ich wollte die alte Lisa werden, wollte, dass es wieder wie vor dem Unfall wird.“
„Nur die Sterne stehen immer am selben Ort“, sagte Maude versonnen.
Lisa betrachtete den wolkenlosen Nachthimmel. Die Glut knackte. Die Grillen zirpten nach wie vor. „BigWam behauptet, alles würde sich verändern. Auch die Sterne“, sagte Lisa nach einer Weile.
„Die Sterne nicht“, lachte Maude.
„Doch die auch. Die sterben irgendwann.“
„Das dauert aber noch ein Momentchen.“
Sie blickten beide zu den Sternen. Kein Stern war gleich groß wie der andere, manche sogar kleiner als Sandkörner. Alles verlor sich in der Unendlichkeit, und nur, was wirklich wichtig war, blieb übrig. Sie gaben einander die Hand. Das Lagerfeuer wurde schwächer; sie ließen es verlöschen. Irgendwo im Haus ging ein Licht an.
„Magst du die neue Lisa?“ Es klang, als würde ihre Stimme von den Sternen herkommen.
„Ja, ich mag sie sehr“, brummte Maude. „Übrigens, hast du sie schon mal lachen gehört? Das Lachen einer Irren, aber echt ansteckend.“
In Gedanken dankte Lisa BigWam. Er hatte recht gehabt: Maude war wohl wirklich die wichtigste Person in ihrem Leben. „Maude, ich werde mit deinem Bruder schlafen, das kannst du nicht verhindern“, flüsterte sie.
„Ach, mach was du willst. Aber komm dann nicht zu mir und heul rum.“
„Doch, ganz genau das werde ich tun. Du darfst dann auch sagen, du hättest mich gewarnt.“ Lisa suchte den hellsten Stern am Himmel und konnte ihn einfach nicht finden. „Du hast mir deinen Verlobungsring noch gar nicht gezeigt. Musst du dich schämen, weil er so billig ist?“