Читать книгу Rosa-weiße Marshmallows - Bettina Ehrsam - Страница 17
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ОглавлениеAls am nächsten Morgen der Wecker losging, war es der Gedanke an Tom, der sie aus dem Bett holte. Wie enttäuscht sie war, dass nur noch das benutzte Geschirr an seinem Platz stand.
„Bin ich zu spät dran?“, fragte sie und schaute auf ihre Uhr. Sie hatte ihn wohl nur um Minuten verpasst.
„Was meinst du? Nimmst du auch von den Pancakes?“ Agnes stand am Herd und wirkte taufrisch.
Bis Lisa eingeschlafen war, war Agnes noch nicht heimgekehrt gewesen, das hätte sie gehört. Sie starrte in die leere Tasse und wartete auf den Koffeinkick. Ihr Kopf saß schwer auf den Schultern, ihre Augen waren trocken und brannten, und die Bank fühlte sich an diesem Morgen ungewöhnlich hart an. Sie gähnte ausgiebig. Roy plapperte vor sich hin, erzählte irgendwas von einem Ungeheuer, das ihn fressen wollte.
„Du Baby!“, lachte Kevin. „Bist zu Mama und Papa ins Bett gekrochen.“
Roy bekam einen roten Kopf. „Das stimmt gar nicht. Ich bin in meinem Bett geblieben. Mom, sag ihm, dass ich nicht zu dir gekommen bin!“
Kevin verzog sein Gesicht, zeigte ihm den kleinen Finger und rieb daran. Weichei, formten seine Lippen lautlos. Roys Augen füllten sich mit Tränen. Er zeigte seinem Bruder beide Stinkefinger, und als Kevin weiterlachte, warf er den dick mit Butter bestrichenen Toast nach ihm. Eine Ecke traf Kevin an der Stirn, dann fiel der Toast mit der Butterseite voran erst auf seine Shorts und dann auf den Boden. Geschrei. Lisa hielt sich die Ohren zu.
„Hört sofort auf! Alle beide!“ Agnes drehte sich um und funkelte die Kinder böse an. Der Kochlöffel zeigte zuerst auf Roy und dann auf Kevin. Die Kinder klappten ihre Münder zu und starrten ihre Mutter an. „Verstanden?“ Der Löffel zeigte weiter auf die Kinder. Beide nickten heftig. Agnes schaute sie einige Sekunden länger an, und als die Kinder sich nicht bewegten, nur mit gestreckten Rücken auf den Kochlöffel starrten, kehrte sie ihnen den Rücken zu, schaltete das Kochfeld herunter und wendete die Pancakes. „Roy, du machst das sauber“, sagte sie.
„Warum ich?“, schrie Roy.
Die Knaben tauschten hasserfüllte Blicke aus. Kevin kickte Roy ans Schienbein; dieser schrie laut auf, strampelte mit den Beinen und trat gegen das Tischbein. Die Milch in den Tassen schwappte über.
„Ich bin kein Baby mehr!“ Roy zitterte am ganzen Körper.
Lisa hielt sich die Ohren zu und stöhnte. Es sind deine Kinder, sag doch was, flehte sie Agnes im Stillen an. Diese stand vor der Kaffeemaschine und rührte sich nicht. Es war, als wäre sie gar nicht da.
„Hört endlich auf!“, rief Lisa ungewöhnlich laut. Sie rieb sich das Brustbein. Seit sie am Morgen aufgewacht war, tat es weh, und sie wusste nicht, warum.
Kevin und Roy blickten sie mit runden Augen an.
„Bin stundenlang wachgelegen“, murmelte sie als Entschuldigung und drückte auf ihre trockenen Augen, bis sie tränten. Sie wusste nicht, wann sie eingeschlafen war. Irgendwann. Agnes war da ganz bestimmt noch nicht nach Hause gekommen. Wie konnte sie nur so ausgeruht aussehen?
Agnes schob Lisa einen Teller mit Pancakes hin. „Bitte alles aufessen.“ Agnes gab sich wirklich Mühe, Lisa gegenüber nett und zuvorkommend zu sein. Jeden Morgen bereitete sie das Frühstück für sie zu.
„Hach, die duften herrlich! Danke. Das ist sehr lieb von dir.“ Lisa schob sich einen großen Bissen in den Mund. Sie registrierte Agnes’ zufriedenen Gesichtsausdruck. Ihr wurde bewusst, wie viel diese Frau für die anderen und auch für sie jeden Tag erledigte. Kevin hatte sein Frühstück bereits verputzt und war gerade dabei, die Küche zu verlassen. Roy rutschte von der Bank, und bevor auch er verschwinden konnte, hielt Lisa ihn am Hemdzipfel zurück. Er hatte seine Flocken nicht angerührt. „Komm, setz dich und iss auf.“
„Ist das dein Nachthemd auf der Leine?“, fragte Agnes, bevor Lisa Roy zum Essen bewegen und ihn über das Ungeheuer in seinem Traum ausfragen konnte. Agnes bückte sich und hob mit einem Seufzer den Toast auf. „Das wäre deine Aufgabe gewesen“, sagte sie und schaute Roy an. Für einen Augenblick wirkte sie erschöpft.
Vor dem Frühstück hatte Lisa mit viel Seife den Fleck ausgewaschen und das Nachthemd draußen über die Wäscheleine gehängt.
Agnes stand plötzlich am Tisch direkt vor ihr und schaute sie an. „Warum hängt dein Nachthemd auf der Leine?“ Es war, als wüsste Agnes, wo sie in der vergangenen Nacht gewesen war.
Lisa schluckte laut. „Ich habe letzte Nacht stark geschwitzt.“ Das war nicht einmal gelogen.
„Unter dem Dach ist es im Sommer besonders heiß. Ich kann dir einen Ventilator ins Zimmer stellen.“
„Das wäre sehr nett.“ Lisa tröpfelte sich Ahornsirup über die Pancakes. Eigentlich mochte sie die Vorstellung nicht, dass Agnes ihr Zimmer betrat. Aber deswegen auf den Ventilator zu verzichten, kam nicht infrage. Gedankenverloren schraubte sie die Flasche zu und stellte sie neben ihren Teller. Roy störte sie. Mit ausgestrecktem Arm versuchte er, an den Ahornsirup zu kommen. Sein Oberteil hing in ihren Pancakes und saugte sich voll. Sie schob ihn weg und gab ihm die Flasche. Er drehte die Verschlusskappe in die falsche Richtung. Normalerweise hätte sie ihm geholfen. Rasch bemerkte er seinen Fehler und schraubte den Deckel ab. Er goss sich beinahe den ganzen Inhalt über seine Flocken.
„Das ist genug.“ Lisa entwand ihm die Flasche und stellte sie weg. Ihre Finger waren klebrig. Nirgendwo war eine Serviette.
„Lisa?“
Sie schreckte hoch und schaute in Agnes’ bernsteinfarbenen Augen. Sie glühten beinahe orange. „Wie bitte?“ Lisa wischte ihre Finger an der Hose sauber. Die Pancakes waren mittlerweile kalt geworden.
„Ob alles in Ordnung ist?“
„Ja, danke. Alles bestens. Bin nur müde, das ist alles.“ Sie unterdrückte ein Gähnen.
Kevin kam in die Küche gerannt. „Wo ist BigWam?“, fragte er außer Atem. „Ich hab’ ihn überall gesucht.“
Lisa spitzte die Ohren.
„Das weiß ich nicht“, sagte Agnes mit so unbekümmerter Stimme, dass Lisa sich beinahe verschluckt hätte.
Kevin ließ die Schultern hängen und trottete davon.
„Du weißt doch“, rief sie ihm hinterher, „er kommt und geht, wie er will.“
Der nächtliche Ausflug in den Stall hatte Lisa nicht mutiger gemacht. Sonst wäre sie jetzt aufgesprungen und hätte Agnes zur Rede gestellt. War schon irgendwie traurig. Sie kratzte mit der Gabel im Teller herum und leckte die Zinken ab. Sobald sie am Abend allein mit BigWam am Feuer sitzen würde, würde sie ihn fragen, was genau letzte Nacht los gewesen war. Sie würde ihm gestehen, dass sie im Stall gelauscht hatte. Vermutlich würde er mehr wissen wollen, und sie würde ihm erklären müssen, dass sie aus einem unerklärlichen Impuls heraus gehandelt hatte. Er würde sie auslachen, und sie würde auch lachen. Dann würde er ihr die Aura schließen. Sie lächelte vor sich hin. Wenn diese einmal geschlossen wäre, würde sie sich nie mehr hilflos fühlen. Sie blickte zu Agnes. Sie stand bei der Spüle und wusch den Lappen aus.
„Wann denkst du, dass BigWam zurückkommt?“, fragte sie.
„Herrgott, ich weiß es nicht. Ist er überhaupt weg? Warum fragen mich immer alle, wo BigWam ist? Er macht, was er will. Ich weiß es einfach nicht.“ Agnes zog die Schürze aus, warf sie achtlos in die Ecke und schmetterte beim Hinausgehen die Tür zu.
„Reagiert sie immer so heftig, wenn man sie nach BigWam fragt?“ Lisa blickte zu Roy.
Roy zog die Schultern hoch. Er hatte Ahornsirup am Kinn und auf dem T-Shirt.
Gewissenhaft hatte sie die Pflanzen gewässert. Nun ließ es sich viel leichter jäten. Lisa kniete in ihrem Beet. Der vertraute Geruch feuchter Erde stieg ihr in die Nase. Tief sog sie die Luft ein.
Die letzten beiden Tage war sie nach dem Hühnerfüttern mit Agnes’ altem Rad direkt zum See gefahren; mit dabei waren Badezeug und Buch. Sie konnte sich kaum auf die Lektüre konzentrieren, machte sich Gedanken über ihre Zukunft und dachte viel zu viel an Tom. Nie wusste sie, wo er war, und wenn sie ihn antraf, sprach er kein Wort. Statt froh zu sein, dass er nichts von ihr wollte, war sie traurig und enttäuscht. Sie konnte nicht anders, sie hatte es versucht. Nur Roy wollte abends beim gemeinsamen Lesen wissen, wo sie gewesen war.
Dave und Agnes waren auf einmal wie verwandelt. Ein Keil trennte die beiden. Lisa hatte erst gedacht, es sei wegen des Bebens, das, ausgelöst durch BigWams Verschwinden, durch die Familie ging. Aber es war nicht deswegen. Es war etwas anderes, das konnte sie spüren.
Sie stützte sich mit der einen Hand auf dem Boden ab, mit der anderen hackte und schaufelte sie unermüdlich die widerspenstigen Wurzeln bis tief in die Erde frei. Nichts gab ihr ein so befreiendes Gefühl wie der Moment, in dem sie eine Wurzel komplett in der Hand hielt.
Von Zeit zu Zeit stand sie auf, klopfte die Erde von den Händen, legte sie in den Rücken, streckte sich durch und atmete tief ein. Sie genoss das Gefühl, wenn das Blut wieder frei zirkulieren konnte. Dann kniete sie sich wieder hin und arbeitete weiter.
Da war etwas – eine kleine Bewegung. Auf Händen und Knien blickte sie hoch. Sie wusste nicht, wie lange er schon am Gartenzaun gestanden und sie beobachtet hatte. Tom schob langsam seinen Hut aus dem Gesicht. Diese vertraute Bewegung zog ihr das Herz zusammen. Sie setzte sich auf die Fersen. Den Schmerz in den Knien beachtete sie nicht. Er stand da und schaute sie aus schmalen Augen an. Es war geradezu lächerlich, wie ihr Herz jetzt flatterte und ihr den Hals eng machte. Und wie erleichtert sie war, als er zu sprechen begann. Sie kannte sich selbst kaum noch.
„Na? Heute mal wieder zu Hause?“
„Hast du mich vermisst?“, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht zu freudig klang.
„Ich gehe auf die Weide.“
„Mach das“, sagte sie.
„Du kommst mit“, sagte er und machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen.
Wie sehr sie sich eine Gelegenheit wie diese gewünscht hatte. Doch das wollte sie ihm nicht zeigen. Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn auf den Boden. Mit dem Handrücken trocknete sie sich scheinbar gleichgültig ihre feuchte Stirn. „Warum?“, fragte sie.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er und ging davon.
Ächzend kam sie hoch und schüttelte ihre Beine aus. Sie kribbelten, als würden tausend Ameisen an ihnen hoch- und runterkrabbeln. Der Wind blies ihr eine Strähne ins Gesicht. Sie klopfte ihre schmutzigen Hände an der Hose ab und begutachtete ihre einst gepflegten, blassen Finger. Die Nägel waren abgebrochen und kurz. Dreck hatte sich daruntergeschoben. Die einstmals weiche Haut war rissig und rot geworden, und plötzlich schämte sie sich für ihre ungepflegten Hände. Sie wickelte die störrische Strähne um den saubersten Finger und zog das Haar langsam hinters Ohr. Beim Wasserhahn wusch sie sich die Finger sauber. Sollte sie ihn auf die nächtliche Begegnung im Flur ansprechen und ihm erklären, dass sie mitten in der Nacht eine gefühlte Ewigkeit halb nackt im Stall gesessen hatte und deswegen etwas durcheinander gewesen war ...?
„Kommst du endlich?“, hörte sie ihn rufen.
Als sie um die Ecke kam, saß er bereits im Fahrzeug. Das Fenster war heruntergelassen, sein Ellbogen hing heraus. Rasch stieg sie ein.
„Was brauchst du so lang?“
Er fuhr viel zu schnell auf dem holprigen Weg. Auf der Ladefläche schepperten die Werkzeuge und die Holzpfähle. Eine Rolle Stacheldraht rutschte hin und her und verkratzte das Metall.
Lisa saß auf dem Beifahrersitz und klammerte sich mit einer Hand am Türgriff und mit der anderen am Armaturenbrett fest. Konzentriert fixierte sie vor sich die beiden braunen Spuren im satten Gras. Tom hatte sie vorhin angelächelt, ihre Wangen waren deswegen heiß geworden. Sie versuchte sich einzureden, dass er ihr gleichgültig wäre; doch die Hitze in ihrem Gesicht ließ sich nicht vertreiben.
„Wir sind da“, sagte er, stoppte den Wagen und stieg aus.
Lisa folgte ihm. Er warf ihr ein paar klobige Handschuhe zu.
„Hast du keine kleineren?“
„Nein, habe ich nicht. Komm her. Du musst das für mich halten.“ Er nahm einen der Pfähle von der Lade und rammte ihn mit Wucht in den Boden.
„Ich soll dir helfen, den Zaun zu reparieren? Da hast du wahrlich die Goldrichtige ausgesucht“, bemerkte sie sarkastisch. „Wäre BigWam nicht geeigneter als ich?“ Sie stapfte durch das feste Gras.
„Schon, ich weiß nur nicht, wo der Kerl steckt. Er wusste doch, dass wir heute den Zaun reparieren wollten. Das ist eigentlich nicht seine Art, einen hängen zu lassen.“ Tom schnallte sich den Werkzeuggürtel um. „Wo ist dein Hut geblieben?“, fragte er.
Lisa griff sich an den Kopf. „Hättest du mich nicht so gehetzt. Ich habe ihn bei den Blumen liegen lassen.“
„Damit du keinen Sonnenstich kriegst“, sagte er und stülpte ihr seinen über den Kopf.
Freute sie sich jetzt tatsächlich wie ein Teenager, dass sie seinen Hut tragen durfte? „Wie lange dauert das Reparieren?“ Sie achtete darauf, dass ihre Stimme normal klang.
„Warum? Hast du noch was vor? Sonnenbaden am See?“
„Warum bist du so? Ich hab dir doch nichts getan.“ Sie schob den Hut aus dem Gesicht und zog die Handschuhe fest nach hinten. Beides war ihr zu groß.
„Mit dir wird’s wohl länger dauern“, brummte er, ohne sie anzuschauen.
Gemeinsam ersetzten sie kaputte Pfähle, reparierten den Stacheldraht und liefen das ganze Gehege ab. Gesprochen wurde kaum. Es war ein gutes Schweigen, welches sie nicht mit leeren Worten füllen mussten.
Regelmäßig warf Lisa einen Blick zur Herde, die sich durch das laute Hämmern nicht aus der Ruhe bringen ließ. Kälber lagen im Gras oder sprangen herum. Lisa suchte den Stier. Roy hatte ihr von ihm erzählt. „Das ist der ohne Euter“, hatte er ihr erklärt. Dort, zwischen ein paar Kühen, stand er. Er war nicht einmal das größte Tier. Abseits, im Schatten einer mächtigen Tanne, stand eine Kuh einsam und verlassen und schaute sehnsüchtig zu den anderen hinüber.
„Warum steht die so allein?“ Lisa hielt mit beiden Händen den Pfosten und Tom schlug ihn ein.
„Wer?“, fragte er.
„Die dort.“ Sie machte mit dem Kinn eine Bewegung zur Kuh. Der Hut rutschte ihr in die Augen.
„Das ist Erna.“
Genervt schob sie den Hut zurück. „Was hat sie? Ist sie krank? Schau mal, wie aufgebläht sie ist. Hat bestimmt zu viel Klee gefressen. Sollte man ihr nicht den Bauch aufstechen?“ Sie war richtig stolz, noch zu wissen, dass Klee die Kühe blähte.
„Wird wohl von allein vorübergehen“, lachte Tom.
„Warum lachst du? Ich dachte, sie könnten daran sterben.“
„In ein paar Wochen wird sie ihr Kalb zur Welt bringen.“
„Kannst du nicht einfach sagen, sie ist schwanger?“
„Sie ist trächtig“, korrigierte er sie.
Lisa blickte Tom von der Seite an. Konzentriert wickelte er den Stacheldraht von der Rolle. Die scharfen Stacheln blitzten in der Sonne. „Ich finde, sie sieht unglücklich aus“, bemerkte sie, nur damit sie etwas gesagt hatte.
„So, findest du. Halt mal den Draht.“
Sie ließ den Pfosten, auf dem sie sich abgestützt hatte, los und hielt mit beiden Händen den Draht fest. „Findest du nicht, dass sie traurig aussieht?“, begann Lisa von Neuem.
„Das findest du nur, weil sie abseits der anderen steht. Konzentrier dich und halt den Draht mit beiden Händen fest, so wie ich es dir gezeigt habe.“
„Ich kann nicht.“ Der Hut drohte wieder über ihre Augen zu rutschen.
„Zieh mit beiden Händen“, sagte er.
„Ich zieh ja schon!“
„Fester! Das ging vorhin viel besser.“
„Was meinst du mit vorhin?“
„Bevor du Mitleid mit der Kuh hattest.“ Tom schlug eine Krampe über den Stacheldraht in den Pfahl hinein. Lisa rutschte aus und stieß gegen Tom. „Verdammt!“ Er zog die Arbeitshandschuhe aus. Aus seinem Arm floss aus einer langen Wunde Blut. Rot rann es über den Handrücken und tropfte zu Boden.
„Tut mir leid. Ich bin ausgerutscht“, sagte sie mit schwacher Stimme. Mit zittrigen Fingern gab sie ihm ein zerknülltes Taschentuch. Er zog die Augenbrauen zusammen und starrte auf das Papiertuch in ihrer Hand. „Sieht nur so aus, ist aber noch unbenutzt. Nimm schon, ich kann kein Blut sehen.“ Sie wandte sich ab und fächerte sich mit dem Hut Luft zu.
Er tupfte den Arm sauber. „Ist nicht schlimm. Blutet schon nicht mehr.“
„Sieh doch, sie ist ganz allein ...“ Sie zeigte mit dem Hut auf Erna. Eine Haarsträhne umspielte Lisas Kinn. Dieser vergessen geglaubte Schmerz ohne Erbarmen, ohne Horizont war wieder da. Ihr Herz füllte sich mit Trauer. Mitten unter Menschen zu sein, und keiner, der dein Leiden sieht. Toms Hämmern holte sie wieder zurück. „Schau ihr in die Augen, sie sieht traurig aus“, sagte Lisa und ignorierte den Blutfleck am Ärmel seines Hemds.
„Du kannst von hier aus ihre Augen sehen?“, fragte er.
„Kannst du das etwa nicht?“
Er schüttelte den Kopf. „Bist du jetzt zu den Tierpsychiatern gewechselt?“
„Warum bist du so?“
„Wie bin ich denn?“, lachte er. „Es ist nicht außergewöhnlich, dass ein Tier sich von der Gruppe absondert.“ Er krempelte den Ärmel wieder hoch und untersuchte die Wunde. Sie blutete nur noch an einer Stelle und war nicht so tief, wie sie gedacht hatte.
„Woher soll ich das wissen? Du bist derjenige, der auf einer Farm aufgewachsen ist“, blaffte sie.
„Habt ihr in Vermont keine Landwirtschaft?“
Lisa verdrehte die Augen. Wieso ärgerte sie sich überhaupt über ihn?
„Wenn wir fertig sind, gehen wir zu Erna. Die freut sich bestimmt, dich kennenzulernen“, sagte er lachend.
Lisa gab ihm keine Antwort.
Noch zwei Pfosten mussten ersetzt werden. Sie arbeiteten schweigend weiter. Jetzt lag das Schweigen wie ein unsichtbarer Graben zwischen ihnen.
Als sie fertig waren, verstaute Tom den Rest des Stacheldrahts hinten auf der Lade, schnallte seinen Werkzeuggürtel ab und warf ihn daneben. Lisa stolperte mit all dem alten Holz, das sie tragen konnte, herbei. Er nahm es ihr ab, lud es hinten auf den Truck und holte den Rest.
„So, jetzt ist Erna dran.“ Tom ging voran. Beim Gatter blieb er stehen und drehte sich um. „Worauf wartest du noch?“, rief er und winkte sie mit ungeduldiger Hand zu sich.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie. Sie hatte keine Lust auf weitere Unfreundlichkeiten und wollte nur noch unter die Dusche.
„Die beißen nicht.“
„Es gibt aber hin und wieder Angriffe von Kühen auf Menschen. Und die Hörner sehen ziemlich gefährlich aus.“ Lisa zupfte an den Handschuhen herum.
„Komm schon“, sagte er.
„Ich habe noch meine Handschuhe an.“
„Wirf sie ins Auto und komm endlich“
„Ich warte im Auto“, rief sie ihm zu und drehte sich weg.
Noch bevor sie einsteigen konnte, stand er bei ihr, rupfte die Handschuhe von ihren Händen, warf sie hinten auf die Ladefläche und nahm sie beim Arm.
„Die Rinder tun dir nichts. Zudem können sie nicht lange schnell laufen.“
„Das kann ich auch nicht“, sagte Lisa. Obwohl es wie ein Witz klang, war es keiner.
Sein Griff war fest wie ein Schraubstock. Sie wollte stehen bleiben und wurde von ihm einfach weitergezogen.
„Macht es dir Spaß, mich zu quälen?“
„Stell dich nicht so an. Du hast behauptet, die Rinder seien unglücklich. Ich zeige dir jetzt, dass sie es bei uns gut haben.“
„Das hab ich doch so nicht gemeint. Au! Du tust mir weh.“
Als hätte sie nichts gesagt, ging er weiter, ohne sie loszulassen. Ihr blieb nichts anders übrig, als hinter ihm herzustolpern. Warum nur hatte sie Ernas traurige Augen ansprechen müssen? Das hatte sie nun davon – sie mit ihrem ewigen Mitleid.
Er verlangsamte das Tempo, sprach mit leiser Stimme beruhigend auf das Tier ein. Die Finger um ihren Arm wurden locker.
„Ich glaube, das ist nah genug für mich.“ Lisa blieb zurück.
Er ging mit ausgestreckten Händen vorsichtig auf Erna zu und streichelte das Tier zwischen den Augen. Erna rieb ihren Kopf an seinem Bauch und begrüßte ihn wie einen alten Freund.
„Siehst du, sie macht nichts. Komm her“, sagte er.
Erna verscheuchte mit ihrem Schwanz die Fliegen. Ansonsten stand sie still da, den Kopf fest an seinen Bauch gedrückt. Tom lachte, als Erna ihn schubste, streichelte sie zwischen den Augen und den Hörnern, tätschelte sie am Hals und sprach ihr gut zu. Lisa gab sich einen Ruck und blieb dicht hinter ihm stehen. Sie musste sich beherrschen, Tom nicht die Arme um seine Mitte zu schlingen und den Kopf zwischen seine kräftigen Schultern zu legen.
„Komm.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie an Ernas Hals. Das Fell war warm und zuckte unter ihrer Hand.
„Siehst du, sie tut dir nichts“, flüsterte er.
Sie hörte ihn kaum; in ihrem Kopf surrte es viel zu laut. Sie hoffte, er würde nicht fühlen, wie sehr sie bebte.
„Komm.“ Er führte ihre Hände zum geschwollenen Leib des Tieres, verschränkte seine Finger mit den ihren und drückte sie an Ernas dicken Bauch.
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie fühlte den Puls im Hals und in den Ohren, fühlte seinen Kopf an ihrem Nacken, seinen Atem an ihrem Ohr, nahm die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken wahr. Sie schluckte.
„Pst.“
„Wieso pst? Ich habe doch gar nichts gesagt.“ Ihre Stimme flatterte bei jedem Wort.
„Spürst du das Ungeborene?“
Sie spürte vor allem seine Wange an ihrem Hals und ihr Herz, das viel zu schnell schlug.
Er verlagerte das Gewicht auf seinen anderen Fuß. „Warte. Da. Es bewegt sich. Da. Hast du es auch gefühlt?“
Der Hut rutschte ihr ins Gesicht, als seine Wange ihr Haar berührte. Seine Lippen streiften leicht ihr Ohr.
Lisas Nackenhaare stellten sich auf, sie konnte kaum atmen. „Der Hut“, sagte sie. Dabei war es ihr egal, dass er ihr vom Kopf glitt.
Er ließ sie los. Seine Fingerspitzen glitten über ihren Arm, und alles war vorbei. Sie hätte sich ohrfeigen können, überhaupt etwas gesagt zu haben. Es hatte sich alles so richtig angefühlt. Warum hatte sie sich nicht auch nur einen Millimeter an ihn gelehnt, statt nur steif dazustehen? Sie griff den Hut vom Boden, setzte ihn wieder auf und zog ihn sich tief ins Gesicht; dann legte sie die Hände wieder an Ernas Leib. Tom kam nicht wieder. Sie konzentrierte sich. Nichts. Sie schüttelte den Kopf, rieb ihre Hände kurz an der Hose ab, sah aus den Augenwinkeln, dass er sie beobachtete und hielt die Hände nochmals an den Bauch des Tieres. „Ja, ja, ich fühle es“, sagte sie mit so viel Begeisterung, wie ihr möglich war. Dabei hatte sie wieder nichts gespürt. Mit festen Schritten ging sie um Erna herum, stellte sich breitbeinig vor sie hin, schob einmal mehr den Hut aus dem Gesicht und beugte sich nach vorn. Die Kuh reckte sich, kam einen Schritt näher und schnaubte sie feucht an. Lisa wich zurück und stolperte.
Er hielt sie fest. „Sie tut dir nichts“, sagte er und lachte leise. Seine Finger berührten seitlich ihre Brust. Und obwohl sie wusste, dass die Berührung ganz harmlos war, fühlte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
Sie befreite sich aus seinem Griff und machte einen Schritt auf Erna zu, riss sich zusammen und streichelte sie mit weit ausgestrecktem Arm zwischen den Augen.
„Jetzt mal ehrlich: Siehst du nicht, wie traurig sie ist?“
Tom schnippte ihr den Hut vom Kopf und fing ihn mit der anderen Hand auf. Er setzte ihn auf sein zotteliges Haar und lachte noch immer, als er auf eine andere Kuh zuging, die am Boden lag und mit großen Augen und ihren langen Wimpern zu ihnen herüberschaute. Gleichzeitig schob sie ihren Unterkiefer hin und her, als würde das Geschehen um sie herum sie langweilen.
„Warum lachst du mich aus?“, rief Lisa ihm hinterher.
„Dort drüben, das ist Zazah, die tut dir auch nichts. Schau ihr in die Augen und sag mir, was du siehst.“
Lisa strich sich mit der Hand über den Arm und schrie auf. Irgendetwas Grünes hüpfte davon.
„Hast du Angst vor Heuschrecken?“ Tom hob seine linke Braue.
„Sie hat mich halt erschreckt. Sei nicht so ein Idiot und lach mich nicht ständig aus.“ Mit festem Schritt ging sie an ihm vorbei und kauerte sich mit einem Meter Abstand vor Zazah hin. „Hm“, sagte sie, kroch etwas näher heran und hielt sofort inne, als Zazah den Kopf zu ihr drehte. So viele Fliegen in den Augen – das musste doch den ganzen Tag kitzeln ...
„Na, was siehst du?“, rief er ihr zu.
„Fliegen“, sagte sie.
„Was?“ Er näherte sich ihr.
„Ich sehe Neugier in ihren Augen.“ Sie stand auf und stand direkt vor ihm. Sein Mund war wieder zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Sie verschränkte ihre Arme und hob ihr Kinn. Um nichts auf der Welt hätte sie zugegeben, auch in Zazahs Blick eine gewisse Melancholie wahrgenommen zu haben.