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Lisa begann mit dem Garten, da konnte sie nicht viel falsch machen. Sie goss die Pflanzen und jätete das Unkraut zwischen den Blumen.

Kurz nach dem Frühstück erschien Agnes, schwer beladen, und sie half ihr, die Jungpflanzen zu setzen.

„Das sind Gurken“, sagte Agnes, ohne dass Lisa gefragt hatte. „Das ist eines der wenigen Dinge, die Roy gern isst.“

Lisa antwortete nicht, nickte nur. Roy braucht keine Gurken, nur etwas mehr Zuwendung und Unterstützung, dachte sie.

„Hast du was gesagt?“, fragte Agnes.

„Ich? Nein.“ Mit ihrem ganzen Gewicht drückte Lisa den Setzling in die Erde.

„Nicht so fest. Schau, so.“ Agnes drückte mit weichen Fingern die Erde um die Pflanze an.

„Roy erinnert mich an meine kleine Schwester. Sie hatte es gerne, wenn ich ihr Geschichten vorlas.“ Lisa klopfte genauso auf die Erde, wie Agnes es ihr gezeigt hatte. Roy kam lärmend herangerannt und blieb vor Lisa stehen.

„Pass auf, du stehst auf den Gurken“, rief Agnes und schob den Jungen beiseite.

„Tom hat gesagt, ich soll Lisa zeigen, wie man Hühner füttert“, sagte Roy. Die Hände hatte er, wie sein Vater es manchmal tat, in der Taille abgestützt. Obwohl die Sonne schien und es bereits sehr warm war, steckten seine Füße in abgetretenen, roten Gummistiefeln.

Lisa seufzte leise und folgte Roy mit einem großen Abstand zu den Hühnern. Roy wartete beim Gehege auf sie und gab ihr den Eimer mit dem Hühnerfutter in die Hand. Ausführlich erklärte er, wie man die Hühner fütterte. Als er mit ihr ins Gehege kommen wollte, winkte Lisa ab.

„Das kann ich, ist kinderleicht.“ Mit erhobenem Kopf ging sie in den Käfig. Roy schloss das Gittertor hinter ihr. Dass sich alle Hühner auf sie stürzen würden, damit hatte sie nicht gerechnet. „Hilfe, Hilfe!“ Gefolgt von der ganzen Hühnerschar lief Lisa samt Futter zum Ausgang, entriegelte das Gatter und schmetterte es hinter sich zu. Tief atmend lehnte sie sich an das Drahtgeflecht und schob mit dem Ellbogen den Riegel vor.

Die Hennen drängten sich dicht an den Maschendrahtzaun und machten einen Riesenlärm. Lisa sprang nach vorn. Zwei Hühner hatten ihre Köpfe durch das Geflecht gesteckt und ihr in die Wade gepickt. Die anderen standen zum Teil mit gereckten Hälsen auf dem Rücken ihrer Artgenossinnen. Und Roy saß inmitten von blühendem Löwenzahn, klopfte mit seiner Faust auf den Boden und lachte.

Bienen flogen um die gelben Blumen und waren mit Sammeln und Summen beschäftigt.

„Lach nicht, ich mach das heute zum ersten Mal. Pass du lieber auf, dass dich keine Biene sticht“, rief Lisa ihm zu.

„Du hast doch nicht wirklich Angst vor den Hühnern?“ Roy hielt seine runde Hand vor den Mund und kicherte. Auf seinem frisch angezogenen T-Shirt klebte seit sechs Uhr fünfzehn ein Kakaofleck.

Hier konnte sie nicht wieder hinein. Allein der Gedanke daran, wie die Hühner auf sie zugerannt und an ihr hochgeflattert waren und ihr mit den scharfen Schnäbeln in die Füße und Beine gehackt hatten, ließ ihren Puls in die Höhe schnellen.

„Die stürzen sich alle auf mich“, keuchte sie und lachte kurz, obwohl ihr nicht danach war.

„Du hast wirklich Angst. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Erwachsener sich vor Hühnern fürchtet.“

„Roy, du weißt es vermutlich nicht, aber das sind keine normalen Hühner.“ Lisa verdrehte die Augen, bis es sie tief im Hirn schmerzte. „Das sind Killerhennen. Ihre Schnäbel sind Monsterwaffen, und sie sind gnadenlos.“

Für einen Moment hielt Roy mit Lachen inne, als würde ihm die Vorstellung gefallen, Killerhennen zu haben. „Dass du dich vor Hühner fürchtest, muss ich in der Schule erzählen.“

„Du könntest auch erzählen, wie ich die Augen verdrehen kann“, sagte Lisa. Der metallene Griff des Kübels begann, in ihre Finger zu schneiden.

„Das kann Simon auch.“

„Du könntest aber auch erzählen, dass ihr Killerhennen habt.“ Sie stellte den Futtereimer ab, machte einen Satz auf den Jungen zu und bewegte mit erhobenen Händen jeden Finger einzeln. „Aahh“, schrie sie mit tiefer Stimme.

Roy blieb ungerührt und winkte ab. „Nein, das glaubt mir keiner. Aber dass du dich fürchtest, ist wirklich lustig.“

Lisa ließ ihre Arme fallen. „Da kann ich nur von Glück reden, dass bald Sommerferien sind.“

Dieses Kind voller Lebensfreude, so rein und unschuldig wie frisch gefallener Schnee, brachte es fertig, dass die Kruste, die sich um ihr Herz gelegt hatte, Risse bekam.

„Du hast vorhin zu lange gewartet. Du musst ihnen die Körner früher geben.“ Roy stand auf und kam auf sie zugehüpft.

„Kannst du die Killerhennen festhalten, während ich sie füttere?“, fragte sie leise.

„Ja, Roy, halt die Hühner fest.“

Lisa drehte sich ruckartig um. Hinter ihr stand Tom und grinste sie an. Er war verschwitzt. Getrocknetes Gras klebte an seinen von der Sonne gebräunten Armen. Den Lederhut auf seinem Kopf hatte er tief ins Gesicht gezogen. So sehen Cowboys in Wildwestfilmen aus, dachte sie.

„Onkel Tom, hast du gewusst ...“, Roy grinste, sprang zwischen ihr und Tom hin und her, drehte sich um die eigene Achse und schrie zwischen seinen Atemzügen, „hast du gewusst, dass sich Lisa vor unseren Hühnern fürchtet?“

„Ich dachte, du bist mein Freund.“ Lisa verschränkte die Arme. „Das machen Freunde nicht.“

Roy schnappte den Eimer mit dem Hühnerfutter und schlüpfte durch das Tor. Sofort war er von den Hennen umringt und wurde in die Gummistiefel gepickt. Jetzt war Lisa klar, warum die Füße des Jungen bei schönstem Wetter in diesen roten Stiefeln steckten.

„Kommst du?“, rief Roy, nahm eine Handvoll Körner und warf sie mit einer schwungvollen Bewegung über die Köpfe der Hühner hinweg. Der enge Kreis um ihn löste sich auf, und die Hühner formierten sich neu.

„Lisa soll sie füttern“, sagte Tom mit Blick zu ihr.

„Ich weiß, ich helfe ihr nur.“ Roy warf den Hühnern eine weitere Handvoll Futter zu.

„Soso, Killerhennen. Das ist ja echt gefährlich bei uns.“ Tom machte ein paar Schritte auf sie zu und schob beim Gehen den Hut aus dem Gesicht. Sie sah seine dunklen Augen und blickte weg. Ihre Wangen glühten. Sie konnte nichts dagegen tun.

„Abgemacht war, dass du die Hühner fütterst“, sagte er dicht vor ihr und lachte leise.

„Ach, leck mich doch“, zischte sie und drehte sich weg.

„Wiederholst du dein Angebot?“ Er war ganz nah an sie herangetreten – so nah, dass sein Atem wie heiße Finger über ihren Nacken streifte.

„Bestimmt nicht.“ Mit festen Schritten und ohne sich nach ihm umzudrehen, ging sie zum Gatter. Vor dem Eingang zu den Hühnern blieb sie stehen und sammelte sich. Dann trat sie mit erhobenem Haupt in den Käfig, bückte sich, hob zwei tönerne Schalen vom Boden auf und hielt sie Roy hin. Die Hühner scharten sich um sie, pickten in ihre Füße und Beine. Lisa schrie nicht, versteifte sich lediglich und schielte kurz zu Tom. Er stand noch am selben Ort, beobachtete sie und grinste. Roy hielt den Eimer in beiden Händen und grinste ebenfalls. Tom hatte etwas über die schöne Aussicht gesagt, als sie sich bückte.

„Gib schon her“, zischte Lisa und riss den Eimer an sich.

„Au!“ Roy ließ den Kübel los.

„Entschuldige“, sagte sie rasch, als sie Roys rote Hände sah. „Das wollte ich nicht.“

Das Gegacker schwoll an, die Hühner schlugen mit den Flügeln wild um sich. Lisa unterdrückte einen Schrei und trat nach den Tieren. Einige wichen zurück, andere füllten sofort die Lücke. Hinter sich hörte sie Toms Lachen.

„Du musst sie füttern“, sagte Roy und warf Futter auf die andere Seite des Geheges. Die Hennen rannten den Körnern hinterher.

Lisa bekam wieder Luft und stellte den Futtereimer auf den staubigen Boden. Dann tauchte sie erst mit der linken, dann mit der rechten Hand die Schalen in die Körner. Die Hühner scharten sich wieder um sie, flatterten an ihr hoch, versuchten, an das Futter in ihren Händen zu gelangen, andere wollten in den Eimer steigen. Lisa blieb reglos mit den beiden Gefäßen in den Händen stehen. Um nichts in der Welt wollte sie sich erneut vor Tom blamieren.

„Du hast ja gar keine Angst mehr.“ Roy verjagte die Hühner vom Kessel und warf eine weitere Handvoll Körner in die Ecke. Die Hennen rannten über den Boden, wirbelten den Sand auf.

„Tut mir leid, wenn du jetzt enttäuscht bist. Aber mir wird ganz anders, wenn ich mir vorstelle, deine ganze Klasse käme hier vorbei, nur um zu sehen, wie dämlich ich mich anstelle.“ Lisa lächelte kurz. „So, das hätten wir. Hab’ ich das nicht gut gemacht? Und jetzt, wohin damit?“ Sie hielt ihm die vollen Schalen hin.

Roy nahm sie ihr aus der Hand und leerte die Körner in den Kessel zurück.

„Was machst du da?“

„In die kommt Wasser rein“, sagte Roy und stellte die Schalen auf den Boden zurück.

Tom hörte nicht auf zu lachen, und als Roy auch noch mitlachte, wäre sie am liebsten aus dem Hühnergehege gerannt. Doch aus irgendeinem Grund wollte sie Tom diesen Gefallen nicht tun. Der ist mir sowas von egal, dachte sie, nahm den Futterkübel mit beiden Händen und blieb mit fest zusammengepressten Lippen stehen.

Roy tauchte seine Hand in den Kessel. „Hin und her. Nicht alles auf einen Haufen“, erklärte er leise und streute das Futter wie ein Sämann auf den Boden. „So, jetzt du.“

Lisa klopfte sich die Hand an ihrer Jeans ab und blickte hinein. Alle Hühner kamen wie auf Kommando angerannt.

„Willst du deine Händchen nicht schmutzig machen?“, rief Tom. Er war dicht an das Gehege herangetreten. Seine Finger umklammerten das Drahtgeflecht; das ärmelfreie Shirt war hochgerutscht und gab seinen gut trainierten Bauch frei.

„Ich mag deinen Onkel nicht“, sagte sie so laut zu Roy, dass Tom sie verstehen konnte.

„Er kann ganz nett sein“, sagte Roy und blickte kurz zu Tom.

„Das kann ich kaum glauben.“

„Doch, ich mag ihn.“ Roy blickte wieder zu Tom. „Er kann super Geschichten erzählen.“

„Bestimmt nicht so toll, wie ich das kann.“ Lisa griff ins Futter und verstreute die Körner so, wie Roy es ihr gezeigt hatte.

„Die geborene Hühnerfütterin“, bemerkte Tom mit viel Pathos in der Stimme.

Lisa drehte sich blitzschnell um und warf ihm die restlichen Körner an den Kopf. Ein paar Hühner rannten los, klatschten an den Draht, reckten die Hälse durch die Lücken, pickten nach dem verlorenen Futter.

Tom machte einen Schritt zurück. „Roy, kannst du Lisa die wichtigste Regel erklären?“

„Kein Tier darf zum Spaß gequält werden“, sagte Roy wie aus der Pistole geschossen.

„Nein, nicht diese. Die andere.“ Tom sammelte einige Körner zusammen und hielt sie dem Huhn hin, das als Einziges noch immer versuchte, an das Futter auf der anderen Seite zu kommen. Vorsichtig pickte das Tier aus seiner Hand und ließ sich von ihm am Kopf streicheln.

„Immer vor dem Essen die Hände waschen?“ Roy warf einen hilfesuchenden Blick zu Lisa, die nur den Kopf schüttelte und mit den Schultern zuckte.

„Auch gut, aber ich meine nicht die.“ Tom hob seinen Kopf und sprach weiter, dabei ließ er Lisa nicht aus den Augen: „Futter vergeudet man nicht.“

„Ich versteh’ nicht, was du so toll an ihm findest“, sagte Lisa. Dabei hatte sie sein liebevoller Umgang mit einem gewöhnlichen Huhn vorhin wirklich beeindruckt.

Tom zog langsam den Hut in die Stirn. Der Schatten der Hutkrempe verdeckte seine gefährlich schmalen Augen. „Roy, vergiss das Wasser für die Hühner nicht“, sagte er und ließ die beiden stehen.

Der Knabe hob die Gefäße vom Boden und stapfte mit finsterer Miene aus dem Gehege.

„Was ist los?“ Lisa eilte ihm nach. „Du vergisst das Wasser regelmäßig, stimmt’s?“

Roy sagte kein Wort und füllte die Schalen mit dem Gartenschlauch. Mit hängendem Kopf ging er an Lisa vorbei. Sie öffnete für ihn das Gehege, und er stellte den Tieren das Wasser hin. Roy kam aus dem Hühnertrakt und stapfte davon.

„Das ist doch nicht schlimm“, rief sie ihm nach. Jetzt, wo sie das Hühnerfüttern hinter sich hatte, konnte sie wieder durchatmen.

Roy verharrte mit dem Rücken zu ihr. „Warum sagst du das?“, fragte er.

Lisa setzte sich ins Gras. Roy hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und stand jetzt mit hochgezogenen Schultern da und starrte auf den Boden.

„Es ist doch nicht schlimm, wenn man mal etwas vergisst“, sagte sie mit weicher Stimme.

Roy drehte sich zu ihr und schaute sie mit großen Augen an. „Man darf doch nicht vergessen, den Tieren Wasser zu geben. Sie verdursten ohne Wasser. Dad sagt, verdursten sei der schlimmste Tod.“

„Da hast du natürlich recht“, sagte Lisa. „Aber du hast es doch gar nicht vergessen. Wir waren ja noch nicht richtig fertig mit dem Füttern.“ Lisa ließ sich nach hinten auf die Ellbogen fallen. Sie legte den Kopf in den Nacken, ihr Haar streifte den Boden. „Hättest du es vergessen?“, fragte sie mit geschlossenen Augen. Die Sonne schien auf ihr Gesicht. Ein lauer Wind raschelte durch die Blätter des Apfelbaums.

Roy kam auf sie zu. „Nein, hätte ich nicht.“

„Also. Warum ärgerst du dich dann so?“

„Alle sagen, ich hätte einen Kopf wie ein Sieb.“

Sie hörte vorsichtige Schritte herannahen. „Sagt wer?“ Sie öffnete ihre Augen und sah, wie Roy hastig eine Träne wegwischte. „Sagt wer?“, wiederholte sie mit weicher Stimme.

„Alle.“ Er drückte die dünnen Arme fest gegen seinen Oberkörper.

„Ach komm, das ist doch gar nicht wahr. Ich jedenfalls nicht. Wer sind alle?“

„Alle halt, außer du.“ Roy kickte dem Löwenzahn den gelben Kopf ab.

„Komm, setz dich zu mir.“ Lisa klopfte mit der Hand neben sich auf den Boden.

„Frau Luffman“, stöhnte Roy und ließ sich neben sie fallen.

Lisa streckte sich auf dem Boden aus und gähnte laut. „Wer ist Frau Luffman?“

„Meine Lehrerin.“ Roy drehte sich auf den Bauch und stützte sich auf seinen Unterarmen ab. Sein Atem streifte ihr Gesicht.

„Und wer noch?“

„Mom und Dad.“

Lisa tat es in der Seele weh, als sie ihn das sagen hörte. „Ach, die plappern doch nur nach, was Frau Luffman sagt. Ich kenne das. Ich mag Frau Luffman nicht.“

„Ich auch nicht“, kicherte Roy.

„Mach dir nichts aus dieser Lehrerin, was weiß die denn schon? Wahrscheinlich mag sie sowieso nur die braven Mädchen“, meinte Lisa.

„Ja, und sie ist alt und mag keinen Lärm.“

„Ach, so eine ist das.“ Lisa kam hoch und setzte sich im Schneidersitz hin. Ein Marienkäfer hatte sich verirrt und krabbelte an Roys Rücken hoch. Sie beugte sich über das Kind und nahm das Insekt behutsam auf ihren Finger. Der rote Käfer mit den sechs schwarzen Tupfen krabbelte vom Finger auf ihren Handrücken und blieb stehen. „Du darfst dir etwas wünschen. Augen zu und fest pusten. Wenn er nicht mehr auf meiner Hand ist, geht dein Wunsch in Erfüllung.“ Lisa hielt Roy den Marienkäfer unter die Nase. „Achtung, gleich fliegt er weg“, sagte sie. Doch das Tierchen hatte es sich anders überlegt und verstaute seine durchsichtigen Flügel wieder unter den Deckflügeln.

„Das ist Mädchenkram.“ Roy zog seine Nase kraus. Er drehte sich auf den Rücken und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf.

„Wünsche sind nur was für Mädchen? Echt jetzt? Das habe ich gar nicht gewusst. Da habe ich ja richtig Glück, dass ich eines bin.“ Lisa schielte zu ihm – und holte tief Luft.

„Warte, warte, ich will.“ Roy setzte sich auf, seine Wangen glühten.

Lisa hielt ihm die Hand unter die Nase. „Augen zu“, befahl sie.

Roy blies, so fest er konnte. Als er auf ihre Hand blickte, war der Käfer weg. „Geht mein Wunsch wirklich in Erfüllung ...?“, fragte er.

Lisa nickte und hielt verschwörerisch ihren Finger an die Lippen. „Nur, wenn du deinen Wunsch keiner Menschenseele verrätst.“

„Und meinem besten Freund?“ Roy flüsterte auch. Seine Augen funkelten wie zwei kleine Feuer.

„Nein, niemandem.“

Roy schnappte nach Luft. „Und wenn der Wunsch in Erfüllung gegangen ist und ich es dann erzähle?“

„Dann verlierst du alles“, sagte Lisa mit dramatischer Stimme.

Roy schluckte.

„Du kannst den Wunsch natürlich deinem Tagebuch anvertrauen“, fuhr Lisa fort.

Unwillkürlich zuckten ihre Mundwinkel nach unten. Kaum hatte sie als Kind schreiben gelernt, hatte sie von ihrer Mutter ein Tagebuch geschenkt bekommen. ‚Da drin ist dein Geheimnis gut verwahrt‘, hatte Dana versprochen. Lisa hatte ihr damals diese Worte geglaubt.

„Ich hasse schreiben“, sagte Roy und drehte sich weg.

„In deinem Tagebuch kannst du schreiben und zeichnen, was du willst. Keiner liest es, und keiner korrigiert es. Es ist für dich ganz allein.“ So sollte es jedenfalls sein, dachte Lisa.

„Schreibst du denn in ein Tagebuch?“, fragte Roy.

„Ich schrieb viele Jahre lang Tagebuch“, antwortete Lisa.

„Und hier bei uns?“

Lisa schüttelte den Kopf und sagte nichts. Es war noch gar nicht lange her, dass sie all ihre Tagebücher im Garten verbrannt hatte. Das Feuer brannte einen braunen Fleck in den satten, weichen Rasen. Ihre Mutter flippte total aus. ‚Was ist los mit dir? So kenn ich dich gar nicht!‘ Zwei Wochen lang goss und pflegte Dana den Rasen. Die Tränen in ihren Augen versiegten erst, als er wieder in sattem Grün erstrahlte.

„Was hast du da?“ Roy zeigte auf eines ihrer Handgelenke. Das langärmlige, dünne Shirt war hochgerutscht und entblößte ihre Narbe.

„Ach, das ist nichts.“ Lisa zog energisch den Ärmel über die Hand. Der Stoff gab mit einem reißenden Geräusch nach. Sie ließ das Ärmelende los und untersuchte die Naht.

„Mom hat gesagt, ich darf dich das nicht fragen.“ Obwohl Roy noch keine acht Jahre alt war, kindlich in seinen Gesichtszügen, erahnte Lisa in diesem Moment den Mann, zu dem er einmal heranwachsen würde.

„Hat sie dir gesagt, was es ist?“

Roy schüttelte den Kopf. „Aber Kevin sagte, das seien Narben. Darf ich sie mal anfassen?“

„Wie bitte?“ Lisa starrte Roy an. Hatte sie richtig gehört? „Warum willst du sie anfassen?“, fragte sie und presste beide Handgelenke an ihre Brust.

„Kevin hat gesagt, wer zuerst deine Narben berührt, hat gewonnen.“

„Ihr macht Spiele mit meinen Narben?“ Lisa war verwirrt und zugleich von der Unschuld dieses Kindes auf eine sonderbare Weise berührt.

„Nein, eigentlich ist es eine Mutprobe.“ Roys Hals bekam rote Flecken.

„Aha ...“, sagte Lisa lang gedehnt.

Dann war es eine Weile still. Nur das gleichmäßige Summen der Bienen, das zufriedene Gackern der satten Hühner und das leise Pfeifen, das Lisas Atem begleitete, waren zu hören.

„Ja“, sagte sie, nur um die Stille zu durchbrechen, und schwieg wieder.

Roy rührte sich nicht, wartete geduldig wie bei einem scheuen Tier, dessen Zutrauen er gewinnen wollte.

„Das ist natürlich etwas anderes“, sagte sie – mehr zu sich selbst als zum Kind. Gedankenverloren wickelte sie eine Haarsträhne um ihren Finger und ließ sie wieder vom Finger springen. Dann schaute sie Roy mit festem Blick an. „Sie sind noch empfindlich und tun mir manchmal weh. Versprich mir, dass du sie ganz vorsichtig berührst.“

„Yes.“ Roy stieß die Faust in die Luft.

„Noch hast du sie nicht berührt!“ Sie presste die Handgelenke wieder an ihre Brust.

Roy legte seinen Zeigefinger an seinen Mund und schluckte. „Ich bin ganz vorsichtig. Versprochen“, flüsterte er.

Lisa war in Gedanken wieder in der Klinik. ‚Die Narben gehören zu Ihnen, Lisa. Sie müssen lernen, mit ihnen zu leben‘, hörte sie Dr. Bird sagen.

Sie fühlte förmlich, wie es Roy vor Anspannung beinahe zerriss. Ihr war klar, dass er nichts anderes wollte, als die Narben als Erster zu berühren. Das Kind wusste ja nicht, warum sie sie hatte.

„Ich habe mich letztes Jahr an einer Kerze verbrannt“, begann Roy und hielt ihr seinen Handrücken unter die Nase. „Es brauchte echt lange. Wenn du gut hinschaust, kannst du noch die Narbe sehen.“

Lisa nahm seine kleine Hand. „Ja, ich kann sie sehr gut sehen. Hat es sehr wehgetan?“ Sie berührte leicht die Stelle auf seinem Handrücken.

„Ach, geht so.“ Er versteckte den ganzen Arm hinter seinem Rücken. „Kevin hat mich ausgelacht. Dabei hat er sich noch nie verbrannt.“

Langsam zog sie beide Ärmel bis über die Ellbogen hoch und hielt ihm ihre Handgelenke hin. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Die Narben schwollen an, wurden dunkler.

Roys Wangen glühten, seine Zunge klebte an der Oberlippe. Die Spannung stieg und wurde unerträglich. Erst als sein Finger die Narbe berührte, konnte sie ausatmen. Die Berührung war weich und sanft. Einige Stellen kitzelten, als er darüberfuhr. Still hielt sie ihm die Arme hin. Nur ein Mal zuckte ihr linker Arm.

„Warum hast du solche Narben? Hast du gekämpft?“

„Nein“, sagte sie mit kaum vernehmbarer Stimme. Angestrengt schaute sie zum Horizont und massierte gleichzeitig mit beiden Daumen die Narben. Sie spürte die Einstiche, wo früher die Fäden waren, die ihre Haut zwangen, sich wieder zu verschließen. „Ich habe mich selbst verletzt.“ Obwohl in der Ferne nichts zu sehen war, schaute sie noch immer zum Horizont.

„Echt?“ Roy brachte seinen Mund nicht mehr zu. „Bist du über den Stacheldraht gerutscht?“

„Roy, kannst du ein Geheimnis bewahren?“ Lisa musterte den Jungen, suchte in seinem Gesicht etwas, das sie nur erkennen konnte, wenn sie es sah. „Ich meine ein wirklich großes und ungeheures Geheimnis?“ Dann sah sie es in seinen Augen, als sie sich kurz weiteten. „Du darfst es keinem erzählen, nur in dein Tagebuch schreiben.“

Roy begann zu hicksen. „Ich hab kein Tagebuch.“ Sein Schluckauf ließ ihn den Satz zweimal sagen.

„Du kannst auch in ein Schulheft schreiben. Du darfst nur nicht ‚Tagebuch‘ oder ‚geheim‘ draufschreiben. Wenn du es mit ‚Schönschrift‘ oder ‚Religion‘ betitelst, liest es keiner“, erklärte sie.

„Ach so.“ Roy wandte sich ab. In regelmäßigen Abständen schüttelte es seinen Körper wie kleine Erdbeben. „Muss –“, er unterbrach sich und hickste. „Muss ich in ein Tagebuch schreiben?“ Roy riss Gras aus und legte es auf einen Haufen. „Du bist, hicks, du bist wie die anderen. Du tust, hicks, tust nur so geheimnisvoll. Ich hasse, hicks, hasse schreiben, und ich hasse rechnen.“ Er hickste noch ein paarmal, dann versiegte der Schluckauf.

„Nein. Wie gesagt, du brauchst nichts aufzuschreiben. Ich will nur, dass du es keinem erzählst.“ Eine Weile blickte sie ihn an. Roy bewegte sich nicht. Seine Augen waren starr auf den Boden gerichtet. „Ich sage dir das, weil mein Geheimnis zu bewahren tausendmal schwieriger ist.“

„Tausendmal schwieriger als was?“, fragte Roy mit gesenktem Kopf.

„Als dein Wunsch.“

Er zuckte mit den Schultern, fuhr fort, Grashalme auszureißen und auf den Haufen zu legen.

„Von mir aus kannst du auch eine Zeichnung davon machen. Ich verlange einzig, dass du es keinem erzählst.“

„Ich kann gut mit Geheimnissen. Frag Dad. Wir haben eins.“ Roy blickte sie mit trotzigem Ausdruck um den Mund an.

Sollte sie ihm sein Geheimnis entlocken, nur um ihm zu zeigen, wie schnell er alles ausplapperte? Das wäre gemein. Er ist doch noch ein Kind, ermahnte sie sich. „Ich will eine Gegenleistung.“

„Ich habe in meinem Sparschwein zwölf Dollar und dreiundzwanzig Cent.“

Lisa schüttelte den Kopf. „Ich habe selbst Geld. Ich will etwas anderes. Ich will, dass du mir jeden Tag etwas vorliest“, sagte sie.

Roy ließ die Schultern hängen.

„Dann lassen wir das“, Lisa stand auf.

„Ich tu’s. Ich tu’s“, sagte Roy schnell.

„Schwöre es bei allem, was dir lieb ist.“ Lisa setzte sich im Schneidersitz direkt vor Roy hin.

Die roten Flecken am Hals färbten sich dunkel und wanderten in sein Gesicht. Mit weit gestrecktem Arm hob er drei Finger in die Luft und beteuerte ernst und feierlich: „Ich schwöre es beim Grab meiner Mutter.“

„Wir wissen beide, dass deine Mutter noch lebt. Schwör auf was anderes.“

„Ich schwöre es beim Grab meiner Großmutter.“ Roy ließ den Arm auf sein Bein fallen.

„Kanntest du deine Großmutter?“

Roy schüttelte den Kopf. „Muss ich sie gekannt haben?“

„Der Schwur ist stärker, wenn du die Person gekannt hast, die jetzt im Grab liegt.“

„Meine Großmutter und mein Großvater sind vor meiner Geburt gestorben. Nur Tobias habe ich gekannt, das war mein Meerschweinchen.“ Seiner Stimme war anzuhören, wie viel Angst er hatte, Lisa würde ihm das Geheimnis doch nicht verraten.

Lisa kamen Zweifel. Sie sollte aufstehen und gehen. Wie sollte sie einem Kind erklären, wie es ist, wenn es rein gar nichts mehr gibt, was dich ans Leben bindet? Wenn du nichts mehr fühlst, nur noch den bleischweren Deckel, der auf dir lastet und dich kaum noch atmen lässt. Wenn du mit jedem Tag, der ins Land zieht, immer mehr zur Überzeugung kommst, der Tod sei das Beste für dich und deine Umwelt? Wenn du, obgleich alle so tun, als wollten sie dir helfen, in ihren Augen erkennst, dass du es nicht verdient hast, am Leben zu sein? Wenn die eigene Mutter nicht müde wird, vorzugeben, wie sehr sie dich liebt, und tagtäglich ihre ganze Kraft dafür aufbringt, so zu tun, als wäre nichts geschehen? Dass die Einsamkeit unter den Menschen, die dich lieben, ein Gewicht, eine Farbe und einen Klang hat und es nichts Grauenvolleres gibt?

Nach ihrem Suizidversuch war es ihr noch schlechter gegangen. Die vorwurfsvolle Trauer, die ihr am Krankenbett begegnete, saugte ihr die letzte Energie aus dem Körper. Ihre Kraft reichte noch knapp zum Atmen. Sie war so geschwächt gewesen – sogar zu müde, um zu sterben. Wie sollte sie das einem Kind erklären? Wie sollte sie das irgendjemandem erklären?

Sie hatte Medikamente bekommen, die ihren Tag in Gleichgültigkeit verwandelten. Es hatte sich nicht viel anders angefühlt, als tot zu sein. Das war eine im Vergleich herrliche Zeit gewesen. Sie verfluchte lange den Tag, als die Medikamente durch andere, weitaus weniger effektive ersetzt worden waren. Heute brauchte sie keine Tabletten mehr – vor einem Jahr noch unvorstellbar.

Sie gab sich einen Ruck, beugte sich ganz nah an sein Ohr. Schnell und leise flüsterte sie:

„Ich habe es absichtlich getan.“ An seinen aufgerissenen Augen und seinen Händen vor dem Mund erkannte sie, dass Roy sie verstanden hatte.

„Warum hast du das gemacht?“ Seine Stimme klang dumpf hinter seinen Händen.

Lisa blickte wieder zum Horizont. Sie hätte es ihm nicht sagen sollen.

„Lisa?“ Diesmal klang seine Stimme ängstlich.

Eine durchsichtige Glocke stülpte sich über sie. Lisa hielt den Kopf gesenkt. Konzentriert schaute sie zwischen ihre Füße, als würde ihr dort das Geheimnis der Schöpfung offenbart.

Die Bienen summten nicht mehr. Die Hühner starrten mit gereckten Hälsen zu ihnen herüber. Das laue Lüftchen blieb stehen, und mit ihm stand die ganze Welt still. Als sie endlich sprach, klang ihre Stimme, als käme sie von weit her.

„Ich wollte nicht mehr leben.“ Sie hob langsam den Kopf. Eine ihr vertraute, bleierne Müdigkeit hatte sie befallen.

Er schnappte nach Luft. „Willst du immer noch sterben?“ Seine Stimme schwoll an. „Sterben ist voll doof ...!“ Er machte eine Pause, blickte Lisa an, wartete, und als Lisa nichts sagte, sprach er weiter: „Mein Großvater ist gestorben, da war Mom noch ganz klein.“

„War er ein netter Mann?“, fragte sie.

Roys Gesichtszüge entspannten sich. „Ach, du weißt doch.“ Er winkte mit der Hand ab. „Da war ich noch gar nicht geboren.“

„Hat deine Mom nie von ihm gesprochen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nur dass er starb, als sie noch klein war. Soll ich sie fragen?“

„Nein, ist nicht nötig.“ Lisa schaute sich um. Sie hatte ein Rascheln gehört, konnte aber niemanden entdecken.

„Du bist jetzt bei uns und willst nie mehr sterben!“ Er fasste mit beiden Händen ihr linkes Handgelenk und drückte zu. Ihre Narbe begann zu pulsieren, wand sich unter den Kinderhänden wie ein gefangener Wurm und beruhigte sich wieder. „Du kannst für immer bei uns bleiben“, versprach er.

„Ja, Roy. Ich will leben.“ Lisa strich diesem Engel, denn das musste dieser Junge sein, über den Kopf. Wie kann ein Kind stark wie ein Fels und zugleich leicht wie eine Feder sein? Etwas sickerte in ihr Herz – und sie lächelte.

Erst später, als sie sich zurückerinnerte, sollte ihr klarwerden, dass sich Roy in diesem Moment wohl in sie verliebt hatte.

Rosa-weiße Marshmallows

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