Читать книгу Rosa-weiße Marshmallows - Bettina Ehrsam - Страница 16
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ОглавлениеDas Wochenende war viel zu schnell vorbeigegangen, und auch die Tage danach verflogen im Nu. Sollte Lisa wieder nach Boston ziehen? Sie seufzte leise. Es hatte ihr dort zu viele Menschen. Zudem wäre es nicht mehr dasselbe. Maude würde bald eine verheiratete Frau sein und wohl kaum mit ihr zusammenwohnen wollen.
Agnes war das ganze Wochenende über freundlich zu Maude gewesen, hatte sie sogar mehrmals umarmt und beim Abschied Tränen in den Augen gehabt. Vielleicht tat Lisa ihr unrecht und Agnes war gar nicht so garstig – dann könnte sie länger auf der Farm bleiben. Das nächste Mal wollte sie BigWam fragen, was er von Agnes hielt.
Lisa lag im Bett und presste ihre Handgelenke an die Wangen. Die Narben waren weich geworden, nicht mehr so geschwollen. Ihr Herz schlug kräftig, ihr Kopf war leicht. Sie drehte sich zum offenen Fenster. Die Füße suchten eine kühlere Stelle auf der Matratze. Die Grillen zirpten, Katzen zankten sich, ein Nachtvogel schrie hell und lang, ein Auto fuhr unten auf der Hauptstraße vorbei und hupte. Sie atmete zufrieden aus.
Als sie an diesem Abend auf BigWam zuging, bekam sie mit, wie er ein Bündel getrocknete Kräuter ins Feuer legte und etwas dazu murmelte. Erst dachte sie, er hätte mit ihr gesprochen, und machte ein paar weitere Schritte auf ihn zu. Doch dann sah Lisa, dass BigWams Augen geschlossen waren, und blieb stehen. Flammen schossen hoch in den Himmel. Es roch nach Räucherstäbchen.
„Warum so schüchtern? Setz dich an deinen Platz“, begrüßte er sie.
„Ich will nicht stören“, sagte sie, und blieb, wo sie war.
Er hatte die Baumstämme verschoben und winkte sie mit seiner großen Hand zu sich. Sie setzte sich ihm gegenüber hin und schaute ihn erwartungsvoll an. Plötzlich klebte ihr hinten im Hals ein bitterer Geschmack. Sie blickte sich um. Nirgends war die Kühltasche zu sehen. Dabei hätte sie so gerne ein Bier getrunken.
„Was willst du eigentlich?“, fragte er und nahm ihre Handgelenke in seinen Schoß.
Ein Bier, um den bitteren Geschmack hinunterzuspülen, wollte sie sagen. Aber sein Blick ging so tief, dass sie kein Wort über die Lippen brachte. Seine Augen veränderten sich, wurden rabenschwarz und bodenlos. Sie wollte sich an den Hals greifen, doch ihre Arme lagen bleiern auf seinen Oberschenkeln. Die Bitterkeit breitete sich aus, ein feiner Film umhüllte ihre ganze Mundhöhle. Die Zunge wurde lahm. Sie atmete ein. Alles roch anders. Sie wollte ihm sagen, dass sie Bitterkeit riechen konnte, vergaß es aber gleich wieder. Ihr Kopf begann sich zu drehen.
„Konzentrier dich. Das hier ist wichtig. Was willst du?“, fragte er.
„Frei sein“, brachte sie mühsam hervor.
Er nickte, seine Daumen berührten die Narben und begannen, sie zu massieren. Ihr Körper fing an zu zittern. Sein Griff um die Handgelenke wurde fest. Das Licht des Lagerfeuers beleuchtete schemenhafte Gestalten, die um sie beide herumtanzten. Sie kniff die Augen zusammen. Da war nichts. Sein langes schwarzes Haar schimmerte in einem dunklen Violett. Es roch nach Erde und grünem Gras, nach Sonne und Wind, nach Hitze und Eis. Seine Augen weiteten sich. Ein Ozean floss aus ihnen heraus und umspülte sie. Sie klammerte sich an irgendetwas fest, rutschte ab und wurde vom Strom mitgerissen.
„Schließ deine Aura“, hörte sie ihn von irgendwoher sagen.
„Wie?“, fragte sie mit bleierner Stimme. Alles drehte sich immer schneller. Plötzlich schwebte sie kopfüber. Ich fliege. Ich fliege! Hatte sie laut gesprochen? Sie spürte den Griff um ihre Handgelenke. Nicht loslassen! Sie hörte sich selbst nicht. Panik stieg auf. Der Druck um ihre Handgelenke verstärkte sich. Nein, er ließ sie nicht los. Sie schaukelte hin und her wie ein Boot bei Wind. Etwas in ihrem Innersten löste sich.
„Du versteckst dich. Nimm deinen Platz ein, sonst füllen andere die Lücke “, dröhnte BigWams Stimme in ihr.
Sie schaukelte. Ich bin doch da. Diesmal wusste sie, dass sie nicht sprach. Sie hatte keinen Körper mehr.
„Denk an dein Herz, deinen Bauch. Wo sind deine Füße?“ Er sprach mit fester Stimme.
Der Schwebezustand war zu Ende. Sie fiel zurück in ihren Körper und fiel durch ihn hindurch. Sie wollte die Augen aufreißen und konnte es nicht, wollte schreien, aber der Mund ließ sich nicht öffnen. Sie fiel in die Tiefe.
„Keine Angst, dir geschieht nichts.“
Sie fühlte als Erstes seinen festen Griff um ihre Handgelenke. Dann bewegte sich um sie herum eine Kraft, zog an ihr, zwang sie in ihre Mitte. Während Lisa ihren Körper wiederfand, rissen plötzlich die Narben auf, wurden durchlässig, und eine Kraft, die von BigWam ausging, floss in sie hinein und umfing ihr Innerstes sanft.
„Ist meine Aura jetzt geschlossen?“ Sie saß wieder auf dem Baumstamm und atmete schwer.
„Konzentrier dich auf deine Mitte. Bis ich sage, es ist gut.“
Ihr Herzschlag beruhigte sich. Es wurde warm und wärmer, zum Schluss konnte sie nicht sagen, ob nicht das Lagerfeuer für die Hitze in ihrem Körper verantwortlich war.
„Du bist wieder da“, sagte er.
Sie öffnete die Augen und blinzelte. Das Blut floss wieder durch ihre Adern. In den Zehen begann es zu kribbeln. „Was war das?“
„Was war denn?“
„Ich bin geschwebt und dann gefallen.“
BigWam lächelte. „Für den Anfang ist das genug.“
„Was war mit deinen Augen?“
Er formte sie zu schmalen Schlitzen, als wollte er das Geheimnis verbergen, das in ihnen steckte.
„Ist meine Aura jetzt geschlossen?“ Mit der Zunge fuhr sie in der Mundhöhle herum, rieb die Lippen aufeinander; es war, als hätte sie Ameisen im Mund.
„Nein, noch nicht ganz“, sagte er.
„Wirst du sie mir ganz schließen?“
Er nickte und schwieg, schaute sie mit seinen dunklen Augen an.
„Wann?“
„Bald.“ Er lachte hell und kramte in der Kühltasche nach einem Bier.
„Die war doch vorhin noch nicht da.“
„Was?“ BigWam blickte sie verständnislos an.
„Die war vorhin nicht da“, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die Kühltasche.
„Doch, natürlich.“ Er lachte erneut und öffnete ihr ein Bier.
„Danke.“ Sie prostete ihm zu und nahm einen großen Schluck. Würde sie sich an dieses glockenhelle Lachen je gewöhnen können? Sie klemmte die Dose zwischen ihre Füße. Ihr Blick blieb bei der Kühltasche hängen. Sie war sich sicher: Da war vorher keine gewesen.
Lisa richtete sich auf und schüttelte ihr Kopfkissen. Bald würde BigWam ihre Aura ganz schließen. Das hörte sich gut an. Mit einem langen, zufriedenen Seufzer streckte sie sich auf dem Bett aus.
Dr. Bird wusste haargenau, was wo im Gehirn abgespeichert war und dass die Amygdala, zwei kleine Kerne mitten im Kopf, für Emotionen und das Erkennen von Gefahren verantwortlich war. Dabei hatte der Psychiater die farbige Zeichnung auf seinem Pult zu ihr hingedreht und mit dem Kugelschreiber auf die zwei roten Punkte geklopft.
Sie drehte sich auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Was sie an diesem Abend mit BigWam erlebt hatte, berührte sie tief. Sie fragte sich, ob das die Freiheit war, und wusste es nicht. Sie wälzte sich auf den Rücken. Was hat mich früher glücklich gemacht? Sie atmete langsam ein und hielt den Atem an. Nichts. Sie war dreiundzwanzig, da sollte doch etwas da sein. Eine Erinnerung schwappte hoch: Sie, Lisa, kurz vor ihrem sechsten Geburtstag. Sie hatte Elinor nicht einladen dürfen.
„Elinor ist zu dick. Willst du wirklich, dass sie als Einzige kein Prinzessinnenkleid trägt?“, fragte ihre Mutter und presste die Lippen zu einem schmalen Schlitz zusammen. Die Nasenspitze wurde dabei weiß. Lisa hörte diesen leisen Pfeifton, der manchmal Danas Atem begleitete und sie beinahe an den Rand des Wahnsinns trieb. Sie wagte nicht, sich die Ohren zuzuhalten. Sie hob das Kinn und schaute ihre Mutter an, die mit ihren eisblauen Augen jede Regung im Gesicht der Tochter beobachtete. Lisa hatte Elinor damals einladen wollen, weil diese versprochen hatte, ihr eine Kinderbibel zu schenken. Das konnte sie aber nicht sagen. Wenn sie schon nicht in die Sonntagsschule gehen durfte, sollte sie bestimmt auch keine Bibel mit den schönen Bildern geschenkt bekommen.
Lisa rieb sich die geschlossenen Lider. Sie erinnerte sich, wie sie den Blick ihrer Mutter nicht mehr ausgehalten hatte, wie sie trotzdem weiter in dieses steinharte Gesicht geblickt und dabei so echt gelächelt hatte, dass ihre Mutter die Angst nicht entdecken konnte. Denn Dana konnte Angst bei ihr nicht ausstehen. Da wurde sie richtig wütend.
„Ich will dir nicht vorschreiben, wen du einladen sollst, es sind deine Freunde. Du könntest Ava einladen. Was meinst du?“, sagte ihre Mutter und lächelte liebevoll.
Dankbar für die Wärme in der Stimme, hätte Lisa bei jedem ihrer Vorschläge genickt.
Sie stöhnte und drehte sich zur Seite. Sie hatte immer als liebes und verständnisvolles Kind gegolten, aber in Wahrheit hasste sie ihre Mutter in solchen Momenten. Die Kleider aus rosa Rohseide und weißem Tüll kamen nur an ihrem Geburtstag zum Einsatz. Dana hatte für sie beide haargenau dasselbe Kleid genäht, eines in Klein und eines in Groß. Für die eingeladenen Kinder waren die Kleider etwas schlichter ausgefallen. Beim Kuchenessen hatte ihre Mutter jedes Kind angewiesen, die weißen Stoffservietten am Halsausschnitt ordentlich hineinzustopfen. Dann war sie reihum gegangen, um bei allen die losen Ecken hinten am Rücken mit einer goldenen Wäscheklammer zu befestigen.
Lisa suchte mit den Zehen die ganze Matratze ab. Nicht ein Zentimeter war noch kühl. Sie schlug die Bettdecke zurück; die Hitze blieb. Im Dunkeln tappte sie zum offenen Fenster, stellte sich davor und hoffte, etwas Luft würde ihr entgegenwehen. Sie zupfte an ihrem dünnen, ärmellosen Nachthemd. Das Haar klebte am Hals und im Nacken. Sie lockerte es und flocht mit geschlossenen Augen einen Zopf. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Sie hörte Blätter rascheln, stützte sich auf der Fensterbank ab und öffnete den Fensterladen. Der schwarze Abgrund der Nacht blickte ihr entgegen. Über ihr dehnte sich weit der dunkle Himmel. Nicht ein Stern war zu sehen; die Wolken waren zu dicht. Noch immer zirpten die Grillen. Mitternacht musste längst vorüber sein.
Plötzlich fiel ein Lichtstreifen unter ihrem Fenster auf den Platz. Eine schlanke Gestalt huschte durch den Spalt ins Freie und ließ die Tür leise ins Schloss zurückfallen. Lisa rückte ein Stück vom Fenster weg. Ihr Herz klopfte wild, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Von unten ertönte ein leises ‚Pling‘. Vorsichtig schob Lisa den Kopf zum Fenster hinaus. Die Person unter ihr zog ein Handy aus der Handtasche. Im schwachen Licht des Displays erkannte sie Agnes. Sie hatte das Haar hochgesteckt und trug ein helles Sommerkleid mit großen dunklen Tupfen. Der Rock war weit geschnitten, und ein brauner oder schwarzer Gürtel betonte ihre schlanke Taille. So hatte sie Agnes noch nie gesehen. Lisa hob die Hand – doch etwas ließ sie innehalten. Agnes blickte sich verstohlen um, tippte mit dem Daumen eine Nachricht in ihr Telefon und ging anschließend mit schnellen Schritten über den Platz. Das schwache Licht des Handys leuchtete ihr den Weg. Sie verschwand hinter dem Stall. Was tat sie in dieser Aufmachung mitten in der Nacht?
Eine Stimme drängte sie zurück ins Bett: Das geht dich nichts an! Lisa hörte nicht hin, schlüpfte rasch in ihre Turnschuhe. Im knappen Nachthemd schlich sie die Treppe hinunter und blieb mit angehaltenem Atem vor der Haustür stehen. Nochmals die warnende Stimme, klar und deutlich: Was machst du da? Kehr um! Lisas Hand an der Türklinke zitterte. Sie wusste nicht, warum sie nicht einfach nach oben ins sichere Bett zurückging. Vielleicht waren es die neu gestochenen Symbole auf ihrem Rücken, die sie so handeln ließen; sie hingen mit zartgliedrigen Kettchen am Traumfänger-Tattoo.
Lisa öffnete die Tür und schlüpfte ins Freie. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, löste sie sich von der Hauswand und schlich über den Platz. Ein Auto fuhr langsam den Weg herauf. Der Kies knirschte unter den Rädern. Bevor das Scheinwerferlicht den Hof erfasste, rannte sie los und flüchtete in den Stall.
Er war leer; Lisa rümpfte die Nase. Tom hätte den Stall mit etwas Schärferem als nur mit Wasser putzen sollen. Sie kauerte sich unter das offene Fenster und sog die frische Luft ein. Licht glitt durch den Stall. Sie konnte für Sekunden die gegenüberliegende Wand sehen. Dann saß sie im Stockdunkeln. Warum hatte Rufus nicht gebellt? Sie verfluchte sich, so kopflos gehandelt zu haben. Die Wolken rissen auf, und der fahle Schein des Halbmondes tauchte Hof und Stall in ein unterweltartiges Zwielicht. Sie hörte, wie eine Autotür leise geschlossen wurde. Kurz darauf vernahm sie schwere Schritte.
„Wo bist du?“, hörte Lisa einen Mann flüstern.
„Hier drüben“, vernahm sie direkt über sich.
Agnes musste vor dem Fenster stehen. Lisa biss sich auf die Lippen. Was, um Himmels willen, hatte sie da geritten? Am liebsten wäre sie aus ihrem Versteck gekommen, hätte fröhlich ‚He, Leute, ich wollte einfach nur mal mutig sein‘ gerufen und dabei ihr helles Nachthemd als Zeichen des Friedens geschwungen.
Agnes zog sich nun am Fensterbrett hoch und setzte sich geschmeidig wie eine Katze ins Fenster.
Lisa hielt den Atem an. Wie konnte sie sich in diesem Moment fragen, ob Agnes ihr Kleid schmutzig machen würde? Das war doch jetzt nicht wichtig. Mittlerweile stand der Mond so, dass er in den Stall hineinschien. Agnes brauchte jetzt nur den Kopf zur Seite zu drehen, und schon wäre Lisa entdeckt.
Lisa dachte an ihr sicheres Bett. Kurz darauf begannen ihre angezogenen Beine zu brennen. Sie hätte sie gerne ausgestreckt, traute sich aber nicht. Sie biss die Zähne zusammen. Sich vorzustellen, sie läge im Bett, klappte nicht mehr. Sie musste unbedingt von hier verschwinden. Ganz leise rückte sie vom Fenster weg in die dunkle Ecke. War der Boden feucht oder nur kalt? Sie verdrängte den Gedanken an all den Kuhmist. Zentimeter um Zentimeter kroch sie in den Schatten. Mit der Hand stieß sie gegen die Schaufel. Sie kniff die Augen zu und verfluchte Tom, der das Ding dort stehen gelassen hatte: Die Schaufel war zur Seite geglitten und scheppernd zu Boden gefallen. Eine Katze rannte miauend aus dem Stall.
„Wer ist da?“ Ein Kopf lugte durchs Fenster und zog sich sogleich zurück, als die zweite Katze auf das Fensterbrett sprang.
„Scht, nicht so laut, du weckst das ganze Haus“, sagte die Männerstimme.
Lisas Herz raste. Das war BigWam! Was hatten die beiden vor? „Ist dir jemand gefolgt?“, hörte sie ihn flüstern.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Was mache ich da? Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie mutig gewesen. Warum hatte sie nicht damit begonnen, ein Huhn zu küssen? Das wäre für den Anfang weiß Gott mutig genug gewesen. Lisa presste ihren Mund zusammen. Sie befürchtete, der Herzschlag hoch im Hals würde sie verraten. Weshalb wollte sie überhaupt beweisen, dass sie keine Angst hatte? Ihre Mutter war doch gar nicht da.
„Das waren die Katzen. Wer sollte mir gefolgt sein?“, flüsterte Agnes.
„Ich weiß nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl. Da ist jemand im Stall“, sagte BigWam.
Lisa schnappte nach Luft. Er, der so viel mehr wahrnahm als alle anderen. Was sollte sie ihm sagen, wenn er sie hier am Boden kauern sähe?
„Das sind die Katzen“, wiederholte Agnes.
Lisa schloss die Augen und atmete leise aus.
„Ich höre etwas. Lass uns nachsehen.“
Lisa begann, stark zu schwitzen. Jetzt würde BigWam sie entdecken.
„Es war ein anstrengender Tag. Alle sind früh ins Bett gegangen. Sag lieber, was du von mir willst.“
Aha, Agnes wusste es also auch nicht. Obwohl Lisa es eigentlich nicht wollte, spitzte sie die Ohren.
„Sei nicht so schnippisch, meine Kleine. Du weißt ganz genau, was ich von dir erwarte.“
„Ich dachte, wir müssen dir das Geld nicht sofort zurückzahlen“, sagte Agnes.
„Hör dir an, was er zu sagen hat.“
„Ich weiß nicht ...“
„Früher hattest du an solchen Sachen richtig Spaß.“ BigWam lachte heiser.
„Da war ich ja noch ein halbes Kind. Alles, was nicht mit Schule zu tun hatte, machte Spaß.“
Lisa fragte sich, warum Agnes Stimme so klang, als wäre sie auf der Hut.
„Nicht doch“, flüsterte er. „Du hast mir ewige Treue geschworen. Wir zwei gegen den Rest der Welt.“ Sein leises Lachen klang, als hätte er eine Erkältung.
„Ich hatte ja nur dich.“
„Ist dort nicht Lisa?“, fragte er.
„Verdammte Scheiße. Wo?“ Agnes rutschte vom Sims.
„Ist das nicht Lisas Fenster, das da oben offen steht?“ hörte sie BigWam flüstern, als säße er direkt neben ihr. Alles an ihr zog sich zusammen, die feinen Härchen an Nacken und Armen stellten sich auf. Wo war der Schamane, der Abend für Abend ihr Innerstes berührt hatte?
„Es ist ja auch heiß. Alle haben das Fenster und die Läden offen“, entgegnete Agnes. „Jetzt sei nicht so paranoid.“
„Sie ist hier. Ich kann sie fühlen.“
Lisa hielt sich die Nase zu, damit ihr Schnaufen sie nicht verriet.
„Ach komm, hör auf. Die schläft wie die anderen.“
„Nein. Lass mich im Stall nachschauen.“
Lisa schloss die Augen. Seine Hartnäckigkeit verrät mich am Ende noch! Sie wäre jetzt gern im Boden versunken.
„Lisa und im Stall? Echt jetzt? Für sie stinkt ja schon das Hühnerfutter. Aber wenn du willst, na bitte, such den Stall ruhig mit deinem Handylicht ab. Ich dachte, du wolltest ihn nicht unnötig warten lassen.“ Agnes murmelte noch etwas, das sich wie ‚muss morgen früh wieder auf der Matte stehen‘ anhörte. Schritte entfernten sich. Dann fielen Türen leise zu. Kurz darauf wendete das Auto und rollte ohne Licht davon.
Lisa stützte sich auf dem Boden ab und streckte vorsichtig die Beine aus. Sie horchte, doch das Auto kam nicht zurück. Nur ihre Zähne klapperten, sonst war es ruhig. Das Herz hämmerte gegen die Rippen. Sie lehnte den Kopf an die Wand und ließ die angehaltene Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie blieb noch eine Weile so sitzen. Das Blut begann, wieder gleichmäßig zu zirkulieren. Als sie aufstand, stützte sie sich an der Wand ab und wartete, bis sie nicht mehr schwankte. Dann schlich sie langsam aus dem Stall – und blieb wie angewurzelt stehen. Im Bruchteil einer Sekunde schärfte sich ihr Blick: Rufus stand breitbeinig auf dem Hof. Die Kette war straff angezogen, und er knurrte leise. Der Mond leuchtete in seine irr verdrehten Augen. In diesem Moment begann er zu bellen. So schnell sie konnte, lief sie ins Haus. Drinnen wartete sie mit dem Rücken gegen die Tür auf irgendeine Reaktion. Alles blieb still. Glück gehabt – keiner war aufgewacht. Das fahle Mondlicht schien durchs Fenster und erhellte schemenhaft den Flur. Lisa schlich auf Zehenspitzen zur Treppe. Sie hielt sich am Handlauf fest und zog sich Stufe für Stufe hoch. Mit weichen Knien verschwand sie in ihrem Zimmer. Rasch streifte sie ihre Schuhe von den Füßen, roch an den Händen und stieß einen leisen Fluch aus. Wie gern wäre sie jetzt einfach ins Bett gekrochen. Doch die Hände stanken nach Stall – und die Beine und das Gesicht? Das konnte nicht bis morgen warten. Sie schlich in dieser Nacht ein zweites Mal aus dem Zimmer und huschte ins Bad. Um diese Zeit konnte sie die Dusche nicht anstellen; das prasselnde Wasser hätte definitiv alle im Haus geweckt. Sie zog das Nachthemd aus und wusch sich am Waschbecken mit viel Seife das Gesicht, die Beine und den Po. Agnes und BigWam? Was ging da vor? Waren die beiden ein heimliches Liebespaar? Am meisten war sie über BigWam bestürzt, den sie beinahe nicht wiedererkannt hatte. Konnte ein Schamane auch eine dunkle Seite haben? Sie schrubbte ihre Finger, jeden einzeln. Sie seifte sich ihre Lippen ein. Der bittere Geschmack blieb. Leise klopfte es an der Tür.
Sie hielt erschrocken inne. Wasser und Seife tropften von den Händen auf den Boden. „Wer ist da?“, fragte sie leise. Erneutes Klopfen, dann vernahm sie dumpf Toms Stimme hinter der Tür.
„Ist alles in Ordnung da drin?“
„Ja, ja, alles gut“, sagte sie und spülte rasch die restliche Seife weg.
„Brauchst du noch lange?“
„Nein, einen Moment noch.“ Sie nahm das Handtuch von der Stange, trocknete sich flüchtig ab, wischte den Boden auf, schüttelte es aus und hängte es wieder auf. Dann schlüpfte sie ins Nachthemd, zerrte daran, weil es an ihrem feuchten Körper klebte. Auf den Zehenspitzen drehte sie sich vor dem Spiegel und erschrak. Ihr erster Impuls war, das Nachthemd sofort wieder auszuziehen. Der Fleck ist nicht groß, beruhigte sie sich. Mit den Händen versteckte sie ihn in einer Falte. Im Finstern wird Tom nichts sehen, dachte sie, löschte das Licht im Bad und öffnete die Tür.
Die Lampe im engen Flur brannte grell. Lisa blieb stehen und blinzelte.
„Endlich“, brummte Tom. „Hat dich der Köter auch geweckt?“
Sie nickte. Er trug nichts außer Boxershorts, die tief auf seinen Hüften saßen. Die Hände hinter ihrem Rücken kneteten nervös den Saum des Nachthemds. „Ich konnte nicht gut schlafen. Es ist so heiß in meinem Zimmer“, sagte sie mit belegter Stimme und schlich, den Rücken an die Wand gepresst, an ihm vorbei.
„Was hast du?“ Er trat ihr in den Weg und stützte seine Hände links und rechts neben ihrem Kopf ab. Sie spürte seine Wärme. Er roch nach Schlaf und getrocknetem Heu. Seine Armmuskeln spannten sich an.
„Nichts“, sagte sie. Zu mehr war sie in dieser Lage nicht fähig.
Er lachte leise. Sein sinnlicher Mund näherte sich ihren Lippen. Sie schluckte und schloss die Augen. Hinter ihr war die Wand. Sie konnte ihm nicht entkommen. Ihr wurde schwindelig, und beinahe hätte sie sich an ihm festhalten müssen. Sie wollte nicht entkommen und hob den Kopf. In dem Moment stieß er sich ab. Ihr Kuss blieb verloren in der Luft hängen. Mit verschränkten Armen lehnte er an der gegenüberliegenden Wand und grinste sie an.
„Du riechst so eigenartig“, sagte er.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und strich die feuchten Handflächen über ihre Hüften, bevor sie sie ihm unter seine Nase hielt. „Das ist Seife. Ist wohl ein fremder Geruch für dich.“
„Tja“, sagte er und verschwand im Bad. Die Tür fiel leise ins Schloss.
Da war noch nie etwas zwischen ihnen gewesen, und trotzdem kam sie sich wie eine verlassene Frau vor. Sie ging in ihr Zimmer, zog sich aus und warf das Nachthemd achtlos auf den Boden. Nackt lehnte sie sich an das kühle Holz der Tür. Vergiss ihn, vergiss die ganze Sache. Du lebst wieder. Die Gefühle sind zurück. Im Dunkeln tastete sich Lisa zur Kommode und zog aus der obersten Schublade das erstbeste T-Shirt und einen Slip heraus. Sie kroch ins Bett. Unter der Tür drang das Licht vom Flur in ihr Zimmer. Sie hörte leise Schritte und sah, wie sich ein Schatten vor das Licht schob. Tom, dachte sie, und ihr Herz begann zu flattern. Sie wollte aus ihrem Bett springen und ihm die Tür öffnen. Sie zögerte zu lange. Der Schatten glitt vorbei. Sie drückte ihr Gesicht fest ins Kissen, als könnte sie verhindern, dass Tränen ihre Augen füllten. Es war lange her, dass sie sich zuletzt so gefühlt hatte. Dabei hatte sie sich doch vorgenommen, nichts für ihn zu empfinden.