Читать книгу Geliebtes Gestern - Billy Remie - Страница 10

Kapitel 5

Оглавление

Das Meer lag so ruhig dar, dass es sich wie ein gemalter See in alle Himmelsrichtungen ausbreitete, ohne auch nur eine einzige Welle zu schlagen.

Die Nacht war hereingebrochen und über ihnen breitete sich ein klarer, dunkler Himmel aus. Funkelnde Sterne und ein voller Mond spiegelten sich in der geglätteten Oberfläche des Wassers, sodass kaum zu unterscheiden war, wo am Horizont der Himmel aufhörte und das Meer begann. Die Unendlichkeit des Fundaments befand sich nun auch unter dem Bauch des knarrenden Schiffes, das das Wasser spaltete und sachte Wellen verursachte, als es durch das mitternächtliche Gemälde fuhr, das weder Unten noch Oben kannte.

Allein der Anblick war pure Poesie, mit einem Kohlestift kaum gerecht zu werden, dennoch bemühte Xaith sich sehr, den Zauber der Nacht einzufangen. Er lehnte mit der Hüfte an der Reling, den Blick über das Schiff und über die gegenüberliegende Reling hinaus aufs Meer gerichtet, den Mond im Rücken, und hielt sein kleines in Leder gebundenes Buch waagerecht, sodass die linke Seite oben lag und die rechte unten und er das Bild über zwei breite Seiten zeichnen konnte. Eine Lampe stand neben ihm auf der Reling und spendete ihm etwas Licht, wobei seine magische Sicht auch ohne das warme Leuchten genug gesehen hätte.

Jin lehnte ihm gegenüber auf der Reling und blickte »hinter das Schiff« gen Südwesten. Seine Füße baumelten in der Luft und das silberne Mondlicht küsste seine ohnehin kühle Haut. Xaith blieb trotz Zeichnen durchgehend wachsam, ihn gegebenenfalls rechtzeitig mit einem magischen Sog zurückzuzerren, sollte er das Gleichgewicht verlieren und vornüber ins Wasser kippen.

»War ja mal wieder abzusehen gewesen«, sagte der Rotschopf irgendwann mit einem Hauch trockenen Spott in der honigsanften Stimme.

Nur kurz schielte Xaith hinüber zu Jins zierlicher, winzigen Gestalt auf der anderen Seite des schmalen Decks. »Was denn?«, fragte er gespielt desinteressiert.

Jin schnaubte. »Dass er nicht einfach den Sturm lichtet, nein, nein, warum nur ein paar Wolken wegschicken, wenn man die ganze verdammte See zähmen kann?«

Xaith verbarg sein amüsiertes Schmunzeln in den Seiten seines Buches.

Jin rutschte von der Reling und landete mit seinem leichten Schuhwerk auf den Planken, sein Wolfsmantel stand offen und darunter kam ein einfaches Leinenhemd und Hose zum Vorschein, die ihm ein wenig zu groß waren. »Ich meine, schau dir das an, keine einzige Welle, bis auf jene, die wir verursachen. Ich spüre nicht einmal einen Luftzug.«

Trotzdem war es kühl, allein der Fahrtwind sorgte dafür, dass Jins Wangen lieblich rot vor Kälte schimmerten, ebenso seine freche Nase.

»So ist es leicht für ihn, uns zu verfolgen«, erklärte Xaith gelassen. »Er muss nur unsere seichten Wellen im Blick behalten.«

Jin drehte sich zu ihm um, er hatte sich das Haar nicht gekämmt und die roten Strähnen standen wirr in alle Richtungen ab. »Ich kann ihn aber nicht mehr sehen, seit deine Welle ihn zurückgedrängt hat.«

»Er will nicht, dass ich ihn sehe, aber er ist noch da.« Xaith zeichnete weiter, verwischte mit einem Finger ganz sacht die Silhouette an der Reling, die dort gar nicht mehr stand, aber für ewig schlank und furchtlos auf der Schiffswand im Bild lehnte, und sich wie eine filigrane, anmutige Meerjungfrau auf einen wasserumspülten Felsen darüber beugte.

Jins zimtbraune Augen lagen fragend auf ihm. »Du klingst so gelassen.«

Xaith konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, er schielte über den Buchrand zu Jin, als er antwortete: »Er bleibt fern, mehr kann ich im Moment nicht tun. Riath wird uns nicht aus den Augen lassen, aber er wird uns auch nicht mitten auf dem Meer angreifen. Erst wenn wir an Land gehen, wird er versuchen, uns zu schnappen.« Er machte eine kurze Pause, um das Buch gerade zu halten und die Kohle von den Seiten zu pusten. Dann fuhr er mit zeichnen und reden fort: »Und wenn es so weit ist, werden wir ihm entschlüpfen.«

»Wie?«, fragte Jin neugierig. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass Xaiths Pläne scheitern könnten.

»Wie wir es immer tun.« Xaith tippte sich an die Schläfe. »Mit Verstand. Mein Bruder mag mächtig sein, Jin, aber ich laufe schon so lange vor ihm fort, ich kenne ihn. Er wird denken, dass wir an Land leichter zu fassen sein werden, aber ich kenne den Hafen von Malahnest besser als er. Er wird uns nicht finden, sobald wir vom Schiff runter sind. Versprochen.«

Nach einem kurzen und nachdenklichen Moment schien von Jin die leichte Anspannung abzufallen, die seine Gestalt seit dem frühen Abend, als sie Riaths Schiffs entdeckt hatten, härter und steifer gemacht hatte. Geradezu schwunghaft kam er zu Xaith herüber und hatte ein leichtes und schimmerndes Lächeln auf den Lippen und in den großen Augen. Er zog sich dicht neben ihn auf die Reling, als wäre sie ein Barhocker, und betrachtete Xaiths Profil. »Ich vertraue dir«, sagte er im Brustton der eigenen Überzeugung.

Noch immer konnte Xaith nicht verstehen, womit er das Vertrauen des rothaarigen Schmuckhändlers eigentlich gewonnen oder auch nur verdient hätte, doch er beschwerte sich selbstredend nicht darüber. Nein, wie immer tat er so, als hätte er es nicht gehört, wenn ihn eine von Jins Aussagen und Blicken mal wieder so tief in die Seele reichten, dass er tatsächlich ein Lächeln verkneifen musste. Es fühlte sich schlicht gut an, dass Jin ihm vertraute, es war ein Beweis dafür, dass er nicht so beschissen nutzlos war, wie er sich oftmals fühlte. Und dass er vielleicht nicht alles falsch gemacht hatte.

Dennoch, Vertrauen bedeutete auch Verantwortung und Pflicht und natürlich Erwartungen und Druck, die ihm gleichzeitig zu dem warmen Gefühl des Stolzes, auch mit eiserner Faust seine Kehle packten und zudrückten. Wenn er sich überschätzte… wenn er Riath auch nur einen winzigen Augenblick unterschätzte … wenn er falsch entschied… Er durfte gar nicht daran denken, es hing so viel davon ab, dass alles nach Plan verlief. Er musste seinen Vater zurückholen, ja, aber er durfte auch nicht zulassen, dass Jin und Eri im Zuge dieser Verfolgung zu Druckmitteln wurden.

Er hätte sie nie in diese Gefahr bringen dürfen, doch auch wenn er Jin das Gefühl gab, dass er ihn gerade ignorierte, genoss er auf perfide Weise doch dessen Anwesenheit auf dem Schiff, selbst dann, wenn er ihn scheinbar unbeachtet ließ.

Mit Jin war es leicht, zusammen zu sein und zu schweigen. Auch wenn der Rotschopf ihm beim Zeichnen immer mit diesem seltsamen Blick ansah, statt auf die Seiten des Buches zu blicken, wo es wirklich etwas zu sehen gab. Er kommentierte nicht einmal, dass Xaith ihn ständig als Zeichenvorlage benutzte, er lächelte ihn nur an, wenn er es mitbekam.

Xaith glaubte, dass Jin sich wohl etwas darauf einbildete, doch es war ihm gleich. Selten hatte es sich so richtig und so vertraut angefühlt, Linien zu zeichnen. Jin auf Papier festzuhalten war so leicht und doch immer wieder von neuem so fesselnd, dass es einer Sucht gleichkam. Nichts und niemand ging Xaith so leicht von der Hand wie er, das war schon immer so gewesen, und nun mit den härteren und männlicheren Züge gelang es ihm noch leichter und machte noch mehr Freude.

Wie kann man nur so schön sein? Xaith hasste und beneidete ihn noch immer darum. Aber die schlechten Gefühle hielten ihn und sein Künstlerherz nicht davon ab, diese Schönheit festzuhalten.

Ach, hätte er doch nur eine Leinwand und etwas Farbe…

»Du bist so faszinierend«, sagte Jin irgendwann in die Stille hinein, während er weiterhin Xaith ungeniert beobachtete.

Xaith hatte beinahe vergessen, dass er noch da war. Wahrhaftig anwesend, nicht nur auf der Buchseite, und so dicht an seiner Seite, dass sein Atem beim Sprechen über Xaiths Hals floss.

Ohne aufzusehen, runzelte Xaith kritisch die Stirn. Im Augenwinkel bemerkte er Jins leuchtenden Blick.

»Ich meine…«, begann der Rotschopf beinahe so ehrfürchtig, dass seine Stimme flüsternd klang, »…die Monsterwelle, die du nur mit ein paar unverständlichen Worten beschwören konntest. Das Schiff, das wie durch Geisterhand fährt und durch deine Magie zu etwas Lebendigem wurde! Die Überfahrt, die mehrere Monate dauern sollte, die du aber durch Magie innerhalb weniger Wochen hinter dich bringst… Das ist so unglaublich, Xaith. Du hast keine Ahnung, wie beeindruckend all das auf einen Normalsterblichen wie mich wirkt.«

Xaiths Hand stockte mit dem fast aufgebrauchten Kohlestift in der Hand, er hob den Blick zur Seite und betrachtete Jin einen Moment eingehend. »Du bist kein Normalsterblicher, Jin. Normalsterbliche sind… einfältig und in ihrem Denken und Handeln auf einen einzigen Horizont beschränkt. Du bist anders, es gibt nicht viele die deinen Mut und deine Klugheit besitzen. Vielleicht kannst du nicht selbst zaubern, aber du verstehst die Magie, weil du mehr als einen Horizont kennst.«

Rote Augenbrauen zogen sich überrascht und bewegt über zimtbraunen Augen zusammen.

Bevor er jedoch etwas Schnulziges erwidern konnte, wandte Xaith sein Gesicht wieder seiner Zeichnung zu und milderte seine Wortgewalt ab, indem er nüchtern erklärte: »Die Welle war ein einfacher Trick, im Grunde war sie schon immer da gewesen, ich habe nur die Massen an Wasser dazu gebracht, sich zusammenzuschließen und zu überlappen. Und das mit dem Schiff ist eigentlich auch kein Wunderwerk, ich habe es eben vor einiger Zeit verzaubert. Viele Hexen, ich möchte sogar meinen, alle, sind darin bewandert, Dinge zu verzaubern. Ketten, Schlüssel, Ringe, ja selbst Türen oder einen einfachen Stein. Vor allem alten Dingen kann man leicht Leben einhauchen, denn alles, was wir berühren, saugt einen Teil von unseren Schwingungen auf. Du kennst das sicher von dunklen Gassen oder dem Kerker, wo man sich sofort so fühlt, als könnten die Wände davon erzählen, was sie schon alles erlebt hatten. Man fühlt sich sofort unwohl. Weil der Ort dich anbrüllt, sein Leid zu sehen, er will mit dir reden.«

»Geister?«, fragte Jin einen Hauch unwohl.

Xaith lächelte amüsiert und schüttelte den Kopf. »Nein, nur Schwingungen und Gefühle. Vor allem Holz und Stein nehmen Emotionen auf und behalten sie bis zum Ende der Zeit. So kommen uns alte Kriegsschauplätze oder Ruinen oft mystisch oder gespenstisch vor, weil der Stein und die Erde, der Stahl und das Holz, das Leid der dort Gestorbenen eingefangen haben. Und durch diese Schwingungen kann ich etwas verzaubern und ihm … so etwas wie eine Seele einhauchen.« Er nickte hinauf zum Mast des Schiffes. »Dieses Schiff hier ist schon oft zur See gefahren, es hat nur darauf gewartet, dass ich sein Wissen befreie und ihm die Macht gebe, selbstständig zu segeln.«

Jins Augen leuchteten ihn regelrecht fasziniert und gebannt an, während er aus Versehen ein wenig zu leidenschaftlich über das Leben in unbelebten Gegenständen berichtete. Jin lauschte ihm wie ein wissbegieriger Junge, der seinem größten Helden zuhörte.

Xaith hob die Schultern und zeichnete weiter. »Das macht man schon seit Beginn der Zeit«, fuhr er bemüht gleichgültig fort.

»Aber ein Ring ist schon etwas anderes als ein Schiff!«, erwiderte Jin und wollte nicht lockerlassen, Xaiths Fähigkeiten in den Himmel zu loben.

»Tatsächlich macht man das auch schon seit Jahrhunderten so«, warf Xaith ein. »Viele betuchte Händler erkaufen sich die Dienste eines Magiebegabten, um die Überfahrten zu verkürzen. Überall auf der Welt kannst du in den Schenken der Häfen nachfragen, ob ein Magier derzeit anwesend ist, der nach Arbeit sucht. Sie können auch Vorräte haltbar machen.«

Jin blickte mit recht geringer Intelligenz drein, als er darüber nachdachte, und stieß dann einen ungläubigen Laut aus. »Das wusste ich nicht, mein Vater kaufte zwar Waren aus Carapuhr und Elkanasai, doch Mittelsmänner segelten für uns über das Meer, ich habe nie gefragt, wie das vonstattenging.«

Xaith schmunzelte über ihn. »Brauchst du ja auch nicht, wenn andere für dich reisen. In Malahnest wirst du alles finden, was du für den Schmuckhandel brauchst. Du solltest lieber in eine Schmiede investieren, statt in ein Schiff.«

»Stimmt, ich hab ja eh dein Schiff«, konterte Jin neckend.

Xaith brummte nur.

»Was?« Jin lehnte sich noch weiter zu ihm rüber, ein herausforderndes Grinsen auf den blassen Lippen. »Gefällt dir nicht? Tja, aber was glaubst du denn, wer all deinen weltlichen Besitz bekommt, sobald du ins Gras gebissen hast? Ich kann dann mit all deinen schönen Sachen machen, was ich will. Ich könnte zum Beispiel dieses Buch hier« - er wagte es, auf die Zeichnung zu tippen und ernte einen warnenden Blick von Xaith - »in einem Haus der Malerei ausstellen lassen. Alle Welt würde deine Kunst sehen und bewerten, während du still aus der Nachwelt zusehen und nicht eingreifen könntest.«

Dieser kleine, rothaarige Scheißkerl kannte Xaiths wunde Punkte leider zu genau. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als wenn unwürdige Menschen seine Bilder ansahen und dann bewerteten, ohne dass er Kritikern die Haare in Flammen aufgehen lassen konnte.

Xaith zog eine Augenbraue hoch, zeichnete aber scheinbar gelassen weiter. »Ich glaube«, überlegte er laut, »ich werde dir eine Warze verpassen. Genau hier, auf deine Nasenspitze, groß wie eine Traube.«

Jin lachte in sich hinein. »Tu es, es stört mich nicht. Irgendwann habe ich vielleicht wirklich eine, oder mehrere. Und Altersflecken und Falten, schütteres Haar, gelbe Zähne und einen richtig dicken Bauch, wenn mir das Leben hold ist und ich in Malahnest wirklich Kisten voll Gold mit meinem Schmuck verdienen kann. Ich könnte ja auch kostbare Waffengriffe und verzierte Schwertscheiden herstellen, was meinst du? Ich werde schlemmen, wie ein König, und bald so fett sein, dass Stühle unter mir brechen.« Er feixte wieder. »Und dann bist du nicht mehr da, um meinen alten, faltigen Arsch zu kommentieren. Du verpasst einfach, wie meine angebliche Schönheit Tag für Tag verblasst, wie ich an Beweglichkeit einbüße und mich gehen lasse, und dann bekommst du niemals Genugtuung.«

Xaith wusste, dass Jin ihn reizen wollte und mal wieder auf seine Art versuchte, ihn von seiner Mission abzubringen – ihn zur Vernunft zu bringen, wie er es ausdrückte. Er wollte sich einen Spaß erlauben, ihn necken. Doch plötzlich überkam Xaith eine derart niederdrückende Traurigkeit, dass er kaum noch zu atmen vermochte. Er senkte das Buch und starrte in die dunkle, aber durch die Sterne funkelnde Nacht hinaus.

Jin bemerkte die Veränderung und verlor sein Lächeln. Unbehaglich betrachtete er Xaith und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte, um die Stimmung zu retten.

Xaith kam ihm zu vor. »Weißt du, Jin« - er drehte ihm das Gesicht zu - »ich bin verdammt froh, dir niemals beim Sterben zusehen zu müssen. Ich will gar nicht da sein, wenn all das passiert, es würde mich nicht mit Schadenfreude erfüllen, ob du es glaubst oder nicht.«

Betroffen – vielleicht sogar einen Hauch gerührt – starrte Jin ihn an und furchte die zierliche Stirn, sodass die Sommersprossen darauf zusammenliefen wie kleine, dunkle Pfützen.

Sie sahen sich einen Moment an. Ein Moment, der Xaith kalte Unsicherheit in die Beine trieb und seinen Knien die Stärke aus den Knochen saugte. Er hasste solche Momente, da Jin ihm beinahe bis auf den Boden seiner Seele blickte, und er sich einfach nicht aus eigener Kraft abwenden konnte.

Dann wurde Jins Blick weicher. »Meinst du denn nicht, dass du dich selbst um so viele wunderbare Jahre und noch so winzige, aber bedeutsame Momente mit den Menschen, die dir auch nur einen Hauch bedeuten, betrügst? Auch, wenn wir alle früher als du sterben, Xaith, verpasst du nicht unsäglich viele Momente des Lebens, wenn du uns einfach nur auf unsere frühen Tode begrenzt?«

Xaith wandte den Blick ab und schluckte gegen den Kloß im Hals an, den er der aufkommenden Beklemmung durch Jins Worte zu verdanken hatte. Es klang gefährlich logisch.

»Bis der wirkliche Moment des Abschiedes kommt, verpasst du so viele schöne Momente, die jeden Tod am Ende wettmachen«, sprach Jin leise und verletzlich auf ihn ein. »Ich bin mehr als ein schnell verwelkender Mensch, genauso wie dein Vater mehr ist als ein toter König. Du hast so viele schöne Erinnerungen an ihn, jede einzelne davon zählt. Wenn du sie nur zulassen würdest, statt dich von deiner Trauer ersticken zu lassen … Wenn du einfach zulässt, dass die Erinnerungen an die vielen Momente, die das Leben euch schenkte, dich heilen, dann wäre sein Tod im Vergleich zu all der Zeit, die er dir im Leben schenkte, all das Glück, nicht mehr als ein einziger, trauriger Moment, der leicht getröstet werden könnte.«

Xaith schluckte noch einmal, doch sein Herz zog sich krampfend und blutend zusammen, wenn er an seinen Vater dachte. »Es geht nicht nur darum«, hörte er sich düster und abweisend erwidern. »Die Welt braucht ihn.«

Jins Gesicht verlor seine Eindringlichkeit, er wirkte matt und traurig. Doch dann sagte er entschlossen zu ihm: »Wenn du denkst, ich würde dich wirklich für ihn sterben lassen, dann täuschst du dich gewaltig, Xaith.«

Das brachte ihn doch tatsächlich zum Schmunzeln. »Wie willst du mich aufhalten?« Er wandte ihm spöttisch das Gesicht zu. »Willst du mir doch noch mit einem Ast eins über den Schädel ziehen?«

Doch Jins Blick blieb bitterernst. »Ich werde dich nicht sterben lassen.«

Wie er das sagte und wie er ihn dabei mit dieser tiefen und unerschütterlichen Überzeugung ansah, ließ Xaith sich doch tatsächlich unwohl fühlen. Was absurd war, er brauchte Jin nicht zu fürchten, er war ihm in allen Belangen absolut überlegen, vor allem was seine Entschlossenheit anging. Xaith wollte seinen Vater mehr ins Leben zurückholen, als Jin bereit war, Xaiths armseliges Dasein zu retten. Davon war er überzeugt. Dennoch, irgendetwas behagte ihm nicht an Jins Schwur. Außerdem kam ihm die Nähe plötzlich zu intensiv vor, zu wahrhaftig. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er Jins Wärme und seinen süßen Duft wahrnehmen konnte – und wie sehr es ihm gefiel.

Ruckartig wandte Xaith den Blick ab, legte den Kohlestift in die Seiten seines Buches und schlug es mit einer endgültigen Geste zu. »Ich sehe nach Eri und Riaths Bastard«, beschloss er und zog sich aus der Unterredung und dem spannungsgeladenen Moment zurück. Jin hielt ihn nicht auf, er blickte ihm nur stumm und mit unergründlicher Miene nach.

Manchmal blieb Xaith nichts anderes übrig, als vor Jin zu fliehen. Doch gleichzeitig konnte der Rotschopf eine anziehende Ruhe und Heiterkeit verbreiten, die ihn dummerweise doch immer und immer wieder in seine nähere Umgebung lockte.

Er schob das Buch in seine Mantelinnentasche und verschwand hinkend in der Tür, die unter dem Steuerruder lag. Vier Stufen führten hinab zu einer weiteren Tür, hinter der es warm und muffig war, weil Eri das Fenster wieder geschlossen und sich dann zurück ins Bett gelegt haben musste.

In der Kabine war es still und die Kerzen waren bereits bis zu einem kurzen Stumpen runtergebrannt. Im Bett erkannte Xaith nur eine schlanke Gestalt, die sich in die Decke gewickelt und die Beine angezogen hatte, schwarzes Haar breitete sich auf dem vergilbten Kissen aus.

Der blonde Schopf seines Neffen lugte aus Stoffbahnen der Decke hervor.

Xaiths magische Aura nahm ruhige Atmungen wahr, doch da war noch mehr. Siderius´ Leib sonderte rötliche Schwingungen ab, fast wie Xaiths verletztes Bein, doch sie wirkten auf eine beruhigende Art so rein natürlich, dass er nicht sofort besorgt reagierte. Vielleicht war es eine Erkältung.

Er ging zunächst zum Tisch und wollte aus dem Wassertopf einen Becher für sich einschenken, doch dieser war restlos leer. Eri hatte wohl Durst gehabt, war aber nicht zu den Vorräten hinabgestiegen, um den Topf in ihrem Trinkwasserfass aufzufüllen.

Der Junge war nicht faul, er bemühte sich sogar stets, nützlicher zu sein als jeder Kammerdiener, wenn auch mit deutlich größerer Klappe. Es ging etwas anderes vor sich.

Zwar war es tiefe Nacht, doch genau wie Xaith, hatten die beiden Jungen den halben Tag verschlafen, weshalb er sich nun über sie beugte, und die Decke lichtete, um Eris Gesicht zu sehen.

Er wirkte blass und erschöpft mit dicken Augenringen, aber nicht krank. »He, Schlafmütze. Willst du nicht kurz aufstehen und mal etwas essen?«

Eri brummte und versuchte, schwerfällig die Augen zu öffnen. Als er Xaith erkannte, der die Brauen fordernd hochzog, packte er die Decke und zerrte sie wieder über sein Gesicht.

Xaith wusste nicht, ob er beleidigt sein sollte. Er packte das Laken erneut und riss es herrisch herunter. »Essen. Sofort. Du hast seit gestern Abend nichts gegessen!«

»Keinen Hunger.« Grüne Augen funkelten ihn trotzig von unten herauf an. »Lass mich schlafen, mir ist nicht wohl!«

»Nicht?« Xaith ging vor dem Bett in die Hocke und fuhr mit der Hand unter Eris dickes, schwarzes Haar, damit er mit dem Handrücken seine Wärme erfühlen konnte. »Fieber hast du jedenfalls nicht.«

»Aber so seltsame Bauchschmerzen«, klagte er und drehte das Gesicht in die Kissen.

Daher also die angezogenen Beine und der Unwille, aufzustehen. »Sticht es?«, hakte Xaith nach.

»Nein, aber mir ist schlecht.«

Xaith betrachtete ihn einen Moment, während Eri durch den Mund atmete, weil er die Nase im Kissen vergraben hatte, um dem Licht auszuweichen. »Lass mich deinen Bauch abtasten«, forderte Xaith.

»Nein, er ist nicht hart«, versicherte Eri, »hab schon gefühlt.«

»Eri…« Xaith wusste nicht, wie er das beklemmende Gefühl in seiner Brust deuten sollte. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er behaupten, er verspürte Angst um Eri. Dabei würde er es spüren, würde er ernstlich erkrankt sein. Dennoch… er konnte seine Besorgnis nicht leugnen, auch wenn sie keiner logischen Schlussfolgerung folgte.

»Lass mich einfach schlafen«, bat der Junge ihn gequält.

Nun, solange er nicht fieberte, konnte es nichts Schlimmes sein. Doch auch damit konnte Xaith seine Sorge kaum beruhigen. »Gut«, lenkte er dennoch ein, überwiegend aus Ratlosigkeit, »aber ich sehe gleich nach dir und bringe dir Brühe und Tee.«

»Mag nichts essen, es tut zu weh.«

»Du isst«, beschloss er konsequent und streckte beide Arme nach dem Bündel aus, das Eri an seine Brust presste, als wäre es eine leblose Puppe. »Und er muss jetzt auch essen.«

Eri protestierte und wollte Riaths Bastard festhalten. »Er ist so schön warm.«

»Ich mache dir heiße Tücher.«

»Nein…«

»Soll er hungern? Gleich plärrt er los, Eri, und auch wenn es dich nicht stört« - Xaith zog den Bastard seines Bruders aus Eris schwachen Händen und stand mit ihm auf - »überkommt mich jedes Mal der fast unüberwindbare Drang, ihn in die Fluten zu werfen, wenn er schreit. Also lass mich ihm Blut geben, damit es nicht dazu kommt.«

»…kann ihn Blut geben…«, flüsterte Eri kaum verständlich ins Kissen.

Es war nicht so, dass der Junge vor Schmerzen keine Kraft zum Sprechen besäße, er hatte sich nur nicht getraut, sie wahrhaftig laut auszusprechen.

War ja klar, dachte Xaith düster bei sich, eines Tages hatte es ja so kommen müssen. Und er konnte sich nicht selbst belügen, Eris Besessenheit von dem Kind behagte ihm überhaupt nicht. Deshalb hatte Eri das Kind wohl auch so an seine Brust gepresst, nahe seines Halses. Er wollte derjenige sein, der den Bastard fütterte.

»Das ist zu gefährlich, Eri«, wandte Xaith mit strenger und unnachgiebiger Stimme ein. »Denk ja nicht daran! Es könnte schlecht für dich enden.«

Er brauchte sich nur das Bild seiner Mutter in Erinnerung zu rufen, die geglaubt hatte, ihm sein erstes Blut aus der Vene anbieten zu können, damit er an körperlicher und magischer Kraft gewann. Er sah sie noch heute vor sich, ganz klar und deutlich, wie ein Bild auf einer Leinwand, das niemals verblasste. Ihre aufgerissene Kehle, das Blut unter ihr, dick und rot wie ein Teppich. Er hatte sie nie so geliebt wie seinen Vater, aber er hatte sie dennoch nie umbringen wollen.

Eri sagte nichts weiter dazu, er packte den Zipfel des Lakens und wickelte sich wieder darin ein, indem er Xaith den Rücken zudrehte und entweder schlief oder schmollte.

Mit dem munter werdenden Bastard seines Bruders im Arm, hinkte Xaith zu einem Stuhl bei den Fensterluken, durch deren Spalten kalte Luft in den Raum drang.

Der kleine Fratz auf seinem Arm hob eigenständig den Kopf und grinste so unverschämt breit und charmant, wie es sein leiblicher Vater stets zu tun pflegte. Grüne Augen blitzten freudig, als sie ihren Onkel erkannten. »Liebe!«, brabbelte er und betatschte Xaiths Gesicht, der zurückwich, aber nicht entkommen konnte. »Liebe! Liebe!«

»Ich befürchte langsam, dass du entweder ein einfältiges, kleines Ding wirst«, sagte Xaith und hielt ihn etwas von sich, »oder dein Verstand wächst nicht so schnell wie dein Körper.« Was wiederum bedeuten würde, dass Xaith zwar durch Magie in der Lage war, Kinder schneller altern zu lassen, aber ihr Verstand blieb davon unberührt. Die geistige Entwicklung schien durch Magie langsamer zu wachsen als der Körper.

Gut möglich, dass er dadurch einen Erwachsenen schuf, der die geistige Entwicklung eines Kleinkindes besaß.

»Hunger!« Die kleinen Fäuste grabschten aufgeweckt nach Xaiths Gesicht, der Bengel lachte dreckig und klang dabei wie sein Vater. Es war beinahe zum Gruseln.

Xaith hielt ihn unter den Achseln und hob ihn dicht vor seine geschlitzten Drachenaugen. »Dass du mir nicht wie dein Vater wirst, kleiner Sturmbändiger. Und boar…« Mit angewiderten Gesicht hielt er den Stinksack von sich und schöpfte Atem, indem er die Nase zur Seite drehte. Der beißende Geruch trieb ihm die Tränen in die Augen und ließ ihm übler werden als vom Schwanken der See. »Kein Wunder, dass Eri schlecht wurde. Zuerst wirst du neu gewickelt, bevor du Futter bekommst, du kleine Morchel.«

Der Fratz lachte und strampelte vergnügt, als Xaith wieder aufstand und ihn weit von sich hielt, als trüge er einen vollen Aborteimer vor sich her. Wobei dieser vermutlich noch angenehmer geduftet hätte.

»Stinki, stinki«, brabbelte der Bengel voller Freude.

»Jetzt bist du wirklich der Sohn deines Vaters«, sagte Xaith und drehte sich so, dass er ihn auf dem Tisch ablegen konnte. »Voll mit Scheiße.«

Geliebtes Gestern

Подняться наверх