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Kapitel 2
ОглавлениеObwohl er es hasste, wahrhaftig zu schlafen, tat er die meiste Zeit des Tages kaum etwas anderes. Nur in der Nacht schlich er sich hinauf und glaubte sich unbeobachtet, wenn er sein in schwarzes Leder gebundenes Buch hervorzog und im Schein einer einzelnen Laterne zu zeichnen anfing.
Es gab auf dem kleinen Schiff nur eine Kabine, die direkt unter dem Steuerbord lag. Unter Deck befand sich noch ein dunkler Lagerraum, gerade groß genug für ein paar Fässer und Kisten mit haltbaren Vorräten. Eine Ziege und der Fuchshengst Baron hatten dort unten Quartier bezogen, sodass es deutlich zu stark nach Tier roch, um zwischen ihnen ein Lager aufzuschlagen. So geschah es, dass sie zu viert in dem einzigen Bett schliefen, das das Schiff zu bieten hatte. Es war nicht mehr als ein Holzbrett, das in einer Nische kniehoch in die Bordwand eingebaut worden und von drei Seiten mit Holzlatten umgeben war, mit Stroh und Decken gepolstert und flachgelegenen Kissen geschmückt. Sie nahmen sich vor, sich mit Schlafen und Wache halten abzuwechseln, doch da das Schiff verzaubert war und von allein fuhr, geschah es mehr als oft, dass vor allem Siderius und der kleine Prinz zu Xaith ins Bett krabbelten, kaum dass er eingeschlafen war und sich nicht mehr wehren konnte.
Xaith ruhte, um seine Kräfte aufzufrischen, das wusste Jin nur zu gut. In den letzten Wochen hatte er so viel zaubern müssen, dass er aussah wie ein Geist, weiß wie der Schaum auf den Wellen, schlaff wie ein Schluck Wasser. Doch er wehklagte nie über seine Erschöpfung, war sturer als jeder Esel und kümmerte sich um die Kinder, wie es kaum eine fürsorgliche Mutter getan hätte. Ließ seinen Neffen von seinem Herzen trinken und kochte für alle, nachdem er stundenlang für sie geangelt hatte, bereitete ihnen Kräutertees und Suppen zu, wenn sie sich verkühlten, schrubbte sogar das Deck, wenn es nötig war, spannte bei einem drohenden Sturm kreuz und quer Seile über das Deck, damit sie sich festhalten konnten, hämmerte Bretter über Lecks, wenn das Schiff bei hohem Wellengang trotz der Verzauberung von der Gewalt der Natur gegen Felsen, die unter dem Wasser lauerten, geschleudert wurde.
Doch meistens war es auf hoher See erstaunlich ruhig. Sie waren schon seit einigen Wochen unterwegs, doch bisher hatten sie nur drei wirklich schlimme Stürme erlebt, auch das Meer war atemberaubend glatt und wurde immer ruhiger, beinahe wie ein unbewegter See, je weiter sie gen Nordosten segelten. Jin hatte festgestellt, dass sie bald den Rand der ihm bekannten Karten überschreiten würde, er kam sich fast wie ein Entdecker vor und konnte nur bedingt etwas Schlechtes an ihrer Reise finden. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er für den Rest seines Lebens mit den anderen über die See segeln können, fern aller Reiche und Pflichten und Sorgen. Das hatte natürlich vor allem damit zu tun, dass Xaith ihm hier nicht davonlaufen konnte, dass sie zusammen waren, und zwar so eng wie nie zuvor. Sie schliefen sogar dicht zusammen in einem Bett und nutzten eine Decke und ein Kissen. Auch wenn er wusste, dass diese Umstände der Not geschuldet waren, machte es ihn froh und er genoss die Zeit in vollen Zügen. Vor allem wenn er, genau wie in diesem Moment, vor seinen Mitreisenden wach war, an die Wand gedrängt neben Xaith lag, den Kopf auf den Ellenbogen gestützt, um auf sein schlafendes, nahes Gesicht herabblicken zu können, und das völlig ungestört.
Selbst im Tiefschlaf wirkten Xaiths Züge angespannt, die Kiefermuskulatur hart und die Falte zwischen seinen schwarzen, dünnen Brauen war tief. Er wirkte grübelnd und ernst, so wie er es auch im Wachzustand war. Jin musste sich das ein oder andere Mal regelrecht mit geistiger Gewalt davon abhalten, ihm diese harten Züge nicht zärtlich aus dem Gesicht zu streichen.
Es war nicht so, dass er Xaith nicht genauso wie er war mögen würde – ernst und grübelnd – doch er hätte ihm gern die Sorgen genommen, wenigstens damit er Ruhe und Erholung im Schlaf finden konnte.
Gleichsam war seine Nähe so wohltuend, dass Jin sich trotz aller Strapazen in seinem ganzen Leben noch nie so gut und aufgeweckt gefühlt hatte. Als könnte er wahrhaftig Berge versetzen.
Völlig zufrieden blickte er auf Xaiths schlafendes Gesicht herab, das ihm zugeneigt war, als wollte er sich mit ihm unterhalten. Seine Lippen standen etwas offen und warmer Speichel sickerte auf das Kissen. In Xaiths Armbeuge lag Siderius, in der Spalte zwischen ihren Körpern schlief Kleiner Prinz.
Sie waren so bezaubernd, dass Jin sich wünschte, er könnte auch nur ansatzweise so meisterhaft zeichnen wie Xaith, denn dann hätte er dieses Bild der dreien auf ewig festgehalten.
Die Wellen schaukelten das Schiff sanft hin und her und wiegten sie alle im Schlaf. Ihre Kabine besaß so viel Geborgenheit, dass er sich kaum vorstellen konnte, sich jemals wieder so heimelig zu fühlen wie in diesem Moment. Er wollte sie gar nicht stören, doch Xaith hatte ihn gebeten, ihn bei Einbruch der Abenddämmerung aufzuwecken.
Stattdessen legte er selbst nun wieder den Kopf auf den umständlich verdrehten Arm und bekam nicht genug davon, das Gesicht zu betrachten, das direkt vor ihm lag. Er konnte Xaiths Atem spüren, ihn riechen und schmecken. Wenn er jetzt sterben würde, würde er verdammt glücklich von dieser Welt scheiden.
In diesem wunderbar stillen Moment wagte er es, die Hand auszustrecken und einige der schwarzen Strähnen von Xaiths Wange zu zupfen und vorsichtig nach hinten zu legen, um mehr von ihm betrachten zu können. Doch dann konnte er sich nicht zurückhalten und in einem Moment der Schwäche legte er die Fingerspitzen an Xaiths hohen Wangenknochen. Zärtlich und andachtsvoll strich er über die Haut und die Narben in Richtung Kiefer und wollte schreien vor Glück. Er ließ die Berührung bis zum Kinn gleiten und lächelte in sich hinein, als Xaith im Schlaf wohlig schmatzte und die andere Hälfte seines Gesichts genüsslich an dem weißen Kissen rieb, als verlangte er nach mehr.
Wie gerne Jin die schmalen Lippen berührt hätte, die ihm plötzlich so nahe waren. Doch er war bereits zu weit gegangen, zog die Hand zurück und knabberte verstohlen an seinen Fingerkuppen, um nicht doch noch einmal schwach zu werden.
»Wie spät?«
Jin rutschte das Herz in die Hose, als Xaiths dunkle Stimme den Raum erfüllte. Hatte ihn die Berührung geweckt? Hatte er mitbekommen, was Jins sich erlaubt hatte?
Nein, unmöglich. Xaith mochte keine Berührungen, vor allem nicht in seinem Gesicht, er hätte sich sofort weggedreht und ihn angemault, doch er lag noch immer wie zuvor neben Jin auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Beinahe wirkte es, als hätte er nur im Schlaf gesprochen.
Jin antwortete leise: »Die Abendsonne fällt durch das Fenster, es dunkelt bald.«
Xaith brummte verschlafen, unter seinen Augen hatten sich feine Linien gebildet, die ihn wie ein zerknittertes Kissen aussehen ließen – und unheimlich anziehend, sodass man ihn auf sich ziehen und festhalten wollte, um ihm ein weiches und warmes Bett zu sein.
»Schlaf noch ein bisschen, noch ist es Tag«, versprach Jin und musste erneut dem Drang widerstehen, ihn zu berühren und beruhigend zu streicheln.
Xaith rollte sich plötzlich herum, sodass Siderius und Kleiner Prinz quengelten, und legte unverhofft den Arm um Jins Mitte, kroch noch näher heran und sog den Atem so tief ein, als wollte er den Duft auf dieser Seite des Bettes inhalieren. Ihre Nasenspitzen berührten sich und Jin glaubte, dass er sterben musste, weil sein Herz wie wild pochte. In diesem Moment konnte er sich nicht rühren und war wie erstarrt vor Unglauben und Sehnsucht, denn er wollte auf keinen Fall, dass diese Nähe durch irgendetwas unterbrochen wurde.
Für einige Augenblicke war er im Paradies und hielt still, um den Traum nicht zu verscheuchen. Verblüfft betrachtete er Xaiths Gesicht, es wirkte plötzlich weicher, da die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen verschwunden war. Jins Herz zog sich zusammen, er konnte nicht anders, als genüsslich einzuatmen. Es war so schön, das Gewicht von Xaiths Arm zu spüren, wie es sich um seinen Körper legte, warm und stark. Sie waren beide keine Muskelberge, aber Xaith war so unglaublich groß, dass Jin locker in seinen Armen versinken konnte.
Da schlug Xaith plötzlich die Augen auf und musste beinahe schielen, als er Jin ansah.
»Was machst du da?«, fragte Xaith rau.
Jin lächelte über ihn. »Gar nichts, du liegst doch auf mir!«
Sofort tauchte die Falte zwischen den schwarzen Augenbrauen wieder auf. Xaith nahm brummend den Arm von Jin runter und rollte sich zurück auf den Rücken. Wie jeden Tag wachte er mit einem Augenaufschlag auf und wirkte sofort hellwach. Er brauchte nicht erst zu blinzeln und sich zu orientieren. Sobald seine Lider aufklappten, war er wach.
»Entschuldige«, grummelte er sichtlich unangenehm berührt. »Halbschlaf.«
Jin kämpfte mit einem Schmunzeln, denn er konnte für Xaith kaum mehr Zuneigung empfinden, wie in Momenten, wenn dieser sich vor ihm zurückzog. »Mir tut es nicht leid«, entgegnete er mutig, »es ist wenig Platz, wir sollten uns öfter auftürmen.«
Xaith erwiderte darauf nichts, mit einem Stöhnen setzte er sich auf und rieb sich das Gesicht. Seine schwarzen Strähnen hatten sich größtenteils aus seinem Zopf – den er locker im Nacken zusammengebunden trug – gelöst und kitzelten seine Schultern und Wangen. Er hatte kein Hemd an, und Jin konnte die schlanke Rückenmuskulatur beobachten, als Xaith sich reckte und die Decke zur Seite warf.
»Langsam bekomme ich Nackenschmerzen von diesem Bett«, beschwerte er sich und warf einen Blick auf die andere Seite. »Oder besser gesagt, davon, mich nicht bewegen zu können.«
Jin stützte schmunzelnd den Kopf auf einen Ellenbogen und beobachtete ihn. Trotz seines noch immer steifem Beines kletterte er behände über die schlafenden Jungen und nahm seinen schwarzen Mantel vom Stuhl, um ihn ohne Hemd über den Oberkörper zu streifen und den Stehkragen hochzuschlagen. Dann humpelte er durch die winzige Kabine, öffnete ein Fenster und spähte auf die See hinaus.
»Es wird kühler«, stellte Jin fest und zog die Decke über die Schulter, als der eiskalte Wind ihn traf.
»Es wird Winter, auch in Malahnest«, erklärte Xaith und setzte sich auf seinen Stuhl, um seine Stiefel anzuziehen. »Du solltest die Felle der Barbaren tragen, wenn du an Deck kommst.«
»Ist Malahnest noch weit entfernt?«, fragte Jin ihn besorgt. Er wollte ihren Zielort gar nicht erreichen, aus so vielen Gründen nicht.
»Nein«, antwortete Xaith und zerschlug jede Hoffnung. »Zum Glück nicht.«
Sein Tonfall ließ Jin aufhorchen. »Wieso?«
Xaith stand auf, seine Stiefelabsätze klangen dumpf und entschlossen auf dem Holz des Bodens. Mit grimmiger Miene hinkte er zur Tür und antwortete dabei: »Weil ich Riaths Segel sehen kann. Er hat uns eingeholt.«
*~*~*
Xaith zog sich mühsam zum Steuerbord hinauf, die wenigen Stufen kamen ihm dabei so vor, als wären sie der höchste Berg ihrer bekannten Welt. Sein Bein war nach all den Wochen der Ruhe noch immer steif und schmerzte, wenn er es zu oft belastete. Die kühle und feuchte Luft der Hochsee schien die Verletzung noch zu verschlimmern. Obwohl alles abgeheilt schien, bereitete der Oberschenkelknochen ihm weiterhin Schmerzen. Wieso das so war und ob es für immer so bleiben würde, wusste er nicht, denn auch mittels Magie konnte er kaum eine Wunde im Inneren ausfindig machen, selbst wenn er täglich heilte, blieb das steife und schmerzende Gefühl vorhanden, mal schlimmer, mal weniger schlimm, sodass er fast unbelastet laufen konnte, aber es kehrte doch immer wieder in sein Bein zurück, wie ein lästiger Dämon des Leids.
Es waren weder Muskeln, Sehnen noch Fleisch, die verletzt waren, sondern etwas Heißes und Rotes leuchtete im Inneren des Knochens, wie eine Entzündung. Risse so dünn wie Haare, durch die eine pulsierende Magie schimmerte, die sich wütend in ihm festgesetzt hatte.
Er träumte seitdem häufig von Vaaks, von seiner verformten Klauenhand und seinen beunruhigend dunklen Augen, seiner dunklen Stimme. Doch die Träume waren keine verwirrten Spuren ihrer letzten Begegnung, Xaith spürte mit seiner magischen Aura, dass etwas von dem, was Vaaks befallen hatte, jetzt auch in ihm war, in dieser verheilten und doch niemals verheilenden Wunde.
Aber über sein Bein und über Vaaks machte er sich an diesem Morgen am wenigsten Sorgen. Als er an die Reling am Heck trat, riss der kalte Wind an seinem schwarzen Haar und seinem Umhang, der wie eine Fahne hinter seinem Leib flatterte und sich um sich selbst wickelte. Es kümmerte ihn nicht, mit grimmiger Miene umfasste er die Reling und starrte hinten hinaus gen Südwesten.
Das Wasser war dunkelblau und tief, der Wind verursachte ein paar sanfte Wellen und drückte das Segel durch. Mit einer unwirschen Handbewegung sorgte Xaith dafür, dass sich das Segeltuch wieder bauschte und dem Wind trotze, der ihre Fahrt verlangsamt hatte.
Er hörte Schritte hinter sich die Stufen emporkommen, eilig und ungeschickt. Es war nicht nötig, über die Schulter zu blicken. Mit noch zerzaustem rotem Haar und die schlanke Gestalt eingewickelt in einen Wolfspelz, lehnte Jin sich neben ihn und spähte zum Horizont. Der Rotschopf strengte die Augen an. »Ich kann nichts sehen«, sagte er und blickte Xaith fragend an, seine Stimme war wegen des Windes erhoben, der nun immer kräftiger toste.
»Ich schon«, entgegnete Xaith mit ebenso lauter Stimme und starrte auf die dunklen Segel, die nicht mehr als ein Punkt im Südwesten waren.
Jin folgte seinem Blick und verengte die zimtbraunen Augen angestrengt, legte sogar die Hand wie einen Schirm an die Stirn, damit ihn die rote Abendsonne nicht blenden konnte. »Bist du sicher, dass es ein Schiff ist? Könnte doch alles Mögliche sein!«
Xaith schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass er es ist.« Er konnte ihn spüren, wie ein Flüstern im Nacken oder eine eiskalte, tote Hand auf der Schulter. Das Gefühl hatte ihn geweckt.
Jin widersprach nicht länger, sein Protest hatte wohl eher seiner eigenen Beruhigung dienen wollen, selbstverständlich vertraute er Xaiths Worten.
Ernst besahen sie den schwarzen Punkt in der Ferne, der immer näher rückte. Auch Riath nutzte Magie, um wesentlich schneller voranzukommen als ein übliches Segelschiff, doch da er Stürme kontrollieren und den Wind beherrschen konnte, war er um einiges stärker als Xaith es je sein könnte. Zumal Xaith versuchte, sich zu schonen. Riath wusste das, er holte unermüdlich auf.
Jin wandte sich wieder Xaith zu. »Wird er einen Sturm auf uns hetzen? Oder seine Bestie?« Sorgenvoll blickte er nach droben, dann wieder zum Horizont.
Der auffrischende Wind zerrte an dem Segel, ließ es klimpern und den Mast knarren.
»Nein, der Wind ist natürlichen Ursprungs«, erwiderte Xaith und wandte sich humpelnd ab, um sich backbord über die Reling zu beugen und das Wasser zu betrachten. »Er wird nicht riskieren, uns zu versenken, sein Sohn ist auf diesem Schiff und er will ihn lebend.«
»Was nicht unbedingt für uns gilt«, meinte Jin und folgte ihm irritiert, während er kaum den Himmel aus dem Blick lassen konnte, wo sich das tiefe Rot der Dämmerung mit malvenfarbenen, gewaltigen Wolkengebilden vermischte, als ob die Götter einen Farbtopf über ihren Köpfen ausgegossen hätten. Die Wellen wurden höher und schwärzer. »Es sieht aus, als würde es sich zuziehen.«
»Ein Sturm kommt auf, ja. Er wird die Nacht schnell herbeibringen.« Xaith blickte die Schiffswand außen nach vorn und hinten ab, sie hatte schon einige Macken davongetragen.
»Was schaust du dir an?«, wollte Jin wissen und beugte sich mit ihm zusammen über die Reling, doch er war wesentlich kleiner und musste sich regelrecht hochhieven, sodass Xaith bei der nächsten Welle, die das Schiff traf, befürchtete, er würde kopfüber ins Wasser fallen.
»Ich sorge dafür, dass er uns nicht zu sehr auf die Pelle rückt«, erwiderte er und schloss dann die Augen, um seine Macht zu bündeln. Er streckte die Hand nach dem Wasser aus und flüsterte ein paar Worte, die Jin verwirrt verfolgte und dann in die dunklen Massen starrte.
Eine Welle schäumte auf, erhob sich neben dem Schiff und hielt zielgerade auf den südwestlichen Horizont zu, wurde größer und größer.
Xaith keuchte erschöpft auf und hielt sich an der Reling fest.
»Wird ihn das aufhalten?«, fragte Jin hoffnungsvoll. Man konnte es durchaus naiv nennen.
»Nein.« Xaith sah ihn grimmig an, versuchte sich aber an einem gewitzten Lächeln. »Aber es wird ihn warnen.«
Jin starrte der Welle hinterher, die bald die Sicht versperrte, dann drehte er das schmale Gesicht, das so stark mit Sommersprossen übersät war, als wäre er vom Haaransatz bis zum Brustbein mit Dreck bespritzt. Forschend betrachtete er Xaiths Profil. »Aber du hast noch andere Pläne, ihn fernzuhalten, richtig?«
Xaith schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
»Das gefällt mir irgendwie nicht.«
»Du wirst staunen und später in Malahnest viele interessante Geschichten zu erzählen haben.« Xaith humpelte an ihm vorbei zu den Stufen. »Vertrau mir einfach.«
Jin fuhr herum und folgte ihm mit den Worten: »Das klingt, als würde es mir wirklich nicht gefallen. Die guten Geschichten sind immer die, in denen man selbst fast umkam. Und davon habe ich derzeit wirklich mehr als genug auf Lager.«
»He, wolltest du nicht Abenteuer erleben?«
»Ich habe dich gesucht, um dich heil nach Hause zu bringen, und nicht um Abenteuer zu erleben.« Doch Jin klang nicht empört, in seiner Stimme lag ein breites Lächeln, das vor Lebensfreude geradezu pulsierte.
Xaith schmunzelte in sich hinein, sagte aber nichts weiter dazu. Und Jin war klug genug, nicht weiter zu bohren, auch wenn er mit neugierigen Augen Xaiths Nacken löcherte.
»Und wenn dein Bruder uns einholt, bevor du ihn zurückdrängen kannst?«, befürchtete er.
»Das wird er nicht«, versprach Xaith. »Wir nehmen an Fahrt zu und er wird nicht zulassen, dass dieser Sturm seinem Sohn gefährlich wird. Er wird wegen des Sturms bald andere Probleme haben als uns.«
»Na ich hoffe, du hast recht«, hauchte Jin und blieb stehen, während er noch einen Blick über die Schulter warf und sich die kalten Hände rieb. »Es sieht nämlich ganz so aus, als wollte der Himmel über uns hereinstürzen.«
*~*~*
Die Welle hielt unaufhaltsam auf sie zu, wurde größer und größer, bis sie fast so hoch aufragte wie die unüberwindbare Mauer einer Festung.
»Runter vom Mast!«, schrie Marks dem Späher zu.
Der arme junge Kerl klammerte sich an die Streben und versuchte, so hastig es ihm eben möglich war, mit vor Angst bleichem Gesicht, hinunterzuklettern. Die drei angeheuerten Bootsmänner rannten umher und der Kapitän rief vom Ruder zu Marks hinab: »Zeit, sich irgendwo festzuhalten, Generalleutnant!«
Generalleutnant. Eine schlechte Übersetzung seines Rangs von Elkanasai in die Gemeinsprache. Sein wahrer Rang war eigentlich nicht leicht zuzuordnen, der General des Hexenprinzen befand sich nicht mit auf diesem Schiff, er saß gemütlich mit seinem Arsch zuhause in Nohva und vertrat dort die Interessen ihres Prinzen, sein Generalleutnant war bei ihm. Nur während ihrer Reisen hatte Marks den Befehl über die Truppen, aber Riath hatte ihm nie einen Rang zugeordnet. Er gehörte zu den Getreuen, war allerhöchstens ihr Leutnant, aber vor allem war er Riaths Leibwächter, Riaths Berater und Riaths Freund. So gesehen war er wohl mehr das Mädchen für alles. Weshalb er sich über die Anrede des angeheuerten Kapitäns auch nicht beschwerte. Zwar würde er es nie zugeben, doch sie schmeichelte ihm.
Das Schiff schwankte, die zwei Masten knarzten. Marks angelte sich an der Reling entlang und half mit, die Segel einzuholen. Wasser spritzte ihm ins Gesicht, bis seine dunklen Locken schwer auf seiner Wange kleben blieben. Das Salz der See brannte in seinen Augen, die Kälte traf ihn wie einen Schlag und raubte ihm die Luft, aber er zog unerbittlich an den Seilen.
Die Welle kam langsam, aber dafür nahm sie an Höhe immer mehr zu und warf einen deutlichen Schatten über sie.
Marks blinzelte nach droben, er sah den Rand der Welle weit oben am Himmel und fluchte. »Abdrehen!«, schrie er dem Kapitän am Ruder zu.
Doch der grimmige, alte Elkanasai schüttelte mit einem verbissenen Ausdruck den Kopf. »Ausgeschlossen, Generalleutnant! Es gibt nur eine Regel, immer gerade draufzuhalten und beten.«
Diese Seeleute! Marks biss die Zähne hart zusammen und half dem Bootsmann, die Segel festzuziehen.
»Festhalten!«, rief der Kapitän über das Deck und duckte sich hinter das Ruder.
Marks fuhr zum Bug des Schiffes herum und sah noch, wie es von einer anderen, kleineren Welle angehoben wurde, bevor er sich der dunklen Wasserwand gewahr wurde, die direkt vor ihnen lag und die Galionsfigur – einen Leoparden – verschluckte.
»Götter!«, fluchte er und packte mit aller Kraft ein Seil, das an der Bordwand gespannt war.
Die Welle stülpte sich über sie, als habe sie nur darauf gewartet, sie zu erreichen, um nach vorn zu fallen und das Schiff wie ein hungriges Maul zu verschlingen.
Xaith… du verdammter…, dachte Marks noch, drehte sich innerlich fluchend weg und holte Luft, um sie auf unbestimmte Zeit anzuhalten. Seine Muskeln waren darauf vorbereitet, sich mit aller Kraft gegen die gewaltige Wassermasse zu wehren, seine Finger klammerten sich so stark an das Netz, dass das raue Seil seine Haut aufschürfte.
Er hörte das Schiff knarren und das Wasser laut und wütend seitlich vom Schiff auf das Meer aufschlagen, es spritzte hoch und duschte ihn, bis er bis auf die Knochen feucht war.
Doch mehr geschah nicht.
Verwunderung wurde auf dem Deck laut und Marks wagte es, aufzublicken. Um das Schiff herum war die See unruhig und schäumte, da die Welle zusammengeschlagen war. Das Deck schwankte hin und her, aber es war erstaunlich trocken, auch die Masten waren unversehrt.
Als er hinaufblickte, sah er das dunkle Schimmern, das sie wie ein Schirm umgab. Die Welle brach daran, wie über Glas rann das Wasser seitlich herab und verschonte das Schiff.
Die Besatzung richtete sich zögerlich auf und bestaunte den Zauber mit offenen Mündern.
Marks drehte sich um. Sein Prinz nahm die Hand herunter, der Schutzschild löste sich auf und ein feiner, salziger Regen rieselte auf das Deck.
Der Wind zerrte an dem langen, blonden Haar, das mit zwei Strähnen aus dem aristokratischen Gesicht gebunden war, und ließ ebenso den schwarzen Samtumhang flattern, wodurch das purpurne Innenfutter Preis gegeben wurde.
Riaths grüne Augen blitzten zufrieden, als die Aufmerksamkeit aller mal wieder auf ihm lag und er nur ungläubiges Staunen erntete.
Marks ging tropfend auf ihn zu und wrang den Saum seines Mantels aus. »Das war knapp.«
»Du weißt doch, dass du mich früher wecken musst«, scherzte Riath völlig gelassen, »ich brauche meine Zeit, bis ich aus dem Bett komme.«
»Ich dachte, es ginge schneller, wenn du allein schläfst.« Marks stellte sich neben ihn und blickte auf den nun wieder freien Nordosten. »Außerdem hatten wir nicht viel Zeit, die Welle hat uns überrascht.« Er wandte seinem Prinzen das Gesicht zu, doch dieser starrte nur auf das helle Segel, das sich nun immer weiter entfernte. »Langsam macht er mich wütend.«
Noch einen Moment länger starrte Riath dem Schiff nach, seine Miene wurde dabei ernster. »Ich liebe dich wie einen Bruder, doch vergiss nicht, dass Xaith ein Sohn meines Vaters ist, somit ist auch er dein Prinz.«
Marks ließ den Saum seines Mantels los, der mit einem feuchten Geräusch auf die Planken platschte. Flatsch. »Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen Respekt vor ihm hätte, nur dass er uns gerade fast auf den Grund des Meeres geschickt hätte.«
»Nein, er wusste ganz genau, dass ich seinen kleinen Trick vereiteln würde, es war nur eine Warnung«, erwiderte Riath gelassen.
»Ich würde es nicht gerade als kleinen Trick bezeichnen, dass er uns fast versenkt hätte!«
Ein leichtes Schmunzeln trat auf Riaths volle Lippen, er wirkte beinahe stolz. »Er wird härter gegen uns vorgehen, wenn wir weiter aufholen.«
Marks fuhr sich mit dem Handrücken über die tropfende Nase. »Sag mir nicht, er könnte Schlimmeres planen als eine Monsterwelle.«
Ein Donnergrollen rollte wütend über die von der Sonne angestrahlten und malvenfarbenen Wolken, helle Blitze durchzuckten die dichten Gebilde.
Riath und Marks blickten nach droben. Der Hexenprinz runzelte die Stirn und nagte einen Moment an der Lippe. Dann sah er wieder nach vorne und sagte, ohne über die Schulter zu blicken, zu ihrem Kapitän. »Sorgt dafür, dass wir ein wenig zurückfallen und außer Sicht geraten.«
»Aber…«, wandte Marks ein, doch Riath marschierte bereits in Richtung Bug und löste dabei seinen Samtumhang. Marks folgte ihm auf dem Fuße, noch immer tropfend und allmählich auch frierend. Die nassen Kleider schmiegten sich unangenehm an seinen Leib, als er sich bewegte, und der tosende Wind war fast so eiskalt und stechend wie die See selbst.
»Mein Prinz!«, beschwor Marks Riath. »Wir haben aufgeholt und könnten ihn sogar bald eingeholt haben!«
»Und was dann? Versenken?« Riath schnaubte und warf den Umhang einem Bootsmann zu, als wäre er ein Kammerdiener. Der junge Mann ließ erschrocken die Seile fallen, die er gerade aufnehmen wollte, um das gute Kleidungsstück aufzufangen.
»Nein«, antwortete Marks und sah irritiert zu, wie Riath auf die Reling kletterte. »Aber wir könnten nahe genug heran, um ihn zu… wie sagt man? Entern?«
»Mein Sohn ist auf diesem Schiff, Marks! Ich riskiere nicht, dass ihm im Zuge dieser Verfolgung auch nur ein Haar abbricht!« Riath drehte sich noch einmal zu ihm um, sein schwarzes Hemd flatterte im Wind und wurde gegen seinen muskulösen Oberkörper geblasen. »Wenn Xaith merkt, dass wir ihn einholen, wird er jede noch so waghalsige Idee unternehmen, um mich von ihm fernzuhalten. Und ich traue ihm durchaus zu, dass er meinen Sohn vor die Zähne eines Haies hält, um mich zurückzudrängen. Also nein, wir werden ihn nicht in Panik versetzen und auch nicht in die Enge treiben. Wir verfolgen sie und warten auf einen günstigen Moment, damit niemand zu Schaden kommt, kapiert?«
Marks konnte nicht verbergen, dass er enttäuscht war, denn sie waren so knapp an ihrem Ziel dran gewesen. Aber er musste sich am Ende dem Befehl seines Prinzen beugen. Dennoch sanken seine breiten Schultern herab und er seufzte leise. Es hatte ihm so sehr in den Fingern gejuckt, diese Verfolgung nach all den Jahren endlich erfolgreich zu beenden.
»Marks«, sein Prinz lächelte über ihn, »wir haben ihn! Er kann uns nicht mehr entwichen, hör endlich auf, dich zu sorgen! Sobald er an Land geht, gehört er uns!«
Marks spürte ein deutliches Unbehagen seinen Nacken hinaufkriechen, als stünde der Tod in wahrhaftiger Gestalt hinter ihm. »Du willst, dass er es bis in die Ruine schafft.«
Riath grinste wölfisch. »Das wird er so oder so, Marks, aber wenn wir die Möglichkeit haben, ihn vorher zu schnappen, dann werden wir das tun!«
Marks entspannte sich etwas, Riath hatte ihn noch nie angelogen und auch noch nie enttäuscht, er vertraute auf dessen Worte, und er wusste sehr wohl, was er von diesem zu erwarten hatte. Riath hatte aus seinen Plänen und Vorgehen nie einen Hehl gemacht, nicht vor Marks. Vertrauen war das, was sie verband. Ohne Vertrauen, so sagte Riath, könnten sie sich nie aufeinander verlassen, nie überleben.
»Außerdem bringt es nichts, ihn einzuholen, ich werde mich erst einmal um dieses Gewitter kümmern müssen.« Er drehte sich um und balancierte halsbrecherisch zur Galionsfigur. Marks blieb das Herz in der Brust stehen, als er seinen Prinzen den schmalen Steg entlang gehen sah, um sich so weit vorne, wie es ihm möglich war, hinzusetzen. Nur die Bugnetze beruhigten Marks etwas, jedoch äußerst bedingt. Das Schiff schwankte stark und der Sturm blies die Wellen noch höher.
»Xaith weiß, dass ich diesen Sturm aufhalten werde, um uns alle zu schützen«, sagte Riath, während der Wind ihm die blonden Strähnen ins Gesicht peitschte. Dennoch schloss er die Augen und nahm eine meditierende Haltung ein, um seinen Geist zu lösen und den Sturm zu bändigen. Leise hörte Marks ihn noch hinzufügen: »Und er weiß auch, dass ich danach zu geschwächt bin, um mich ihm zu stellen.«
Marks sagte nichts dazu, besorgt beobachtete er den Rücken seines Prinzen, während dieser seine Macht dazu aufbrachte, sie vor diesem Gewitter zu bewahren. Die Besatzung sah staunend dabei zu, während sie ihre Arbeiten verrichtete.
Magie knisterte in der Luft und verband sich mit dem Wind und dem Donner, Marks glaubte beinahe, die gewaltige Kraft zu spüren, mit der sein Prinz das Wetter zum Gehorchen brachte.
Oh ja, Riath war mächtig und obwohl Marks schon so einiges an Zaubern mitangesehen hatte, bestaunte er doch immer wieder mit gleichwohl Faszination und Unbehagen, wenn Riath eines seiner Wunder vollbrachte.
Doch nicht nur Riath war mächtig, auch Xaith war es, was nicht nur die Welle bewiesen hatte.
Mit einem beengten Gefühl in Brust und Kehle, starrte Marks gen Nordosten. Die beiden Brüder waren zwei Naturgewalten, Erben göttlichen Blutes, und zu so überwältigender Macht fähig, dass er sich ein ums andere Mal darum sorgte, was geschehen würde, wenn sie bald wirklich aufeinandertrafen. Denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Xaith sich noch einmal so leicht gefangen lassen nehmen würde wie in Elkanasai. Und durch freundliche Bitten würde er seine wahnsinnige Mission, den toten König von Nohva wiederzuerwecken, wohl kaum aufgeben.
Nein, es würde ein gewaltigeres Donnerwetter geben als jenes, das Riath gerade abwehrte. Marks spürte es in den Knochen, wenn eine Katastrophe bevorstand.