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Kapitel 7

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Es dauerte ewig, bis er endlich länger als zwei Herzschläge lang allein war. Zwischenzeitlich war er wieder eingeschlafen, doch nun weckte ihn das junge Licht eines neuen Tages und er hörte Stimmen auf dem Deck. Sie schienen beschäftigt.

Vorsichtig hob Eri den Kopf vom Kissen und sah sich in der Kabine des Kapitäns um. Jemand hatte wieder eine Fensterluke geöffnete und frische, kalte Luft strömte in den winzigen Raum. Das Meer rauschte und plätscherte draußen, etwas Gischt spritzte hoch und ein paar Tropfen landeten auf dem Tisch und den Büchern, die Xaith dort nachlässig liegen gelassen hatte.

Er hatte Eri die restliche Nacht regelrecht beobachtet, wenn nicht sogar bewacht. Zwar hatte Xaith die Nase in seinen Büchern vergraben, während Jin die wenigen Arbeiten auf Deck erledigt hatte – die beiden gingen sich anscheinend mal wieder aus dem Weg –, doch es war zu offensichtlich gewesen, dass er Eri nicht allein hatte lassen wollen. Ob aus Sorge, oder um ihn zu beobachten, wusste Eri nicht, doch es war eine Zerreißprobe gewesen, geduldig zu warten. Denn hätte er Xaith angefaucht, wäre er erst recht geblieben, dieser misstrauische Sack.

Immerhin hatten diese blöden Krämpfe etwas nachgelassen, nachdem er noch einmal eingeschlafen war, doch er fühlte sich noch immer wie von einer Kutsche überrollt. Außerdem hätte er sofort weiterschlafen können, so müde war.

Kaum traf frische Luft sein Gesicht, atmete er genüsslich ein und spürte, dass seine Übelkeit verschwunden war, allerdings knurrte ihm nun heftig der Magen.

Das musste warten.

Vorsichtig richtete er sich auf, dabei rutschte Kleiner Prinz in eine kleine Kuhle und quengelte im Schlaf ein wenig grantig.

Die rosigen, dicken Wangen und das liebliche Schmatzen erwärmten Eri sofort das Herz. Er konnte nicht beschreiben, wie sehr er den kleinen Fratz liebhatte. Er war der kleine Bruder, den er sich immer gewünscht und nie gehabt hatte. Aber er war noch so viel mehr. Was auch immer sie durchgemacht hatten, wie gefährlich es auch gewesen war, in Momenten der größten Angst, hatte Eri ihn an sich gepresst und seine bloße Anwesenheit hatte ihm Mut geschenkt. Denn er hatte sich bemüht, für ihn durchzuhalten, ihn zu beschützen, auch wenn er selbst wie gelähmt vor Furcht gewesen war. Immer und immer wieder hatte Kleiner Prinz ihn erinnert, dass er mutig sein und über sich hinauswachen musste. Für ihn.

Es war, als ob der Kleine mit ihm sprach. Ohne Worte, auf einer stillen Ebene, über Empfindungen und über eine unsichtbare Bindung. Als ob Kleiner Prinz ihm seine Gefühle und Gedanken übermitteln konnte. Als ob er ihn auserkoren hätte, sein Beschützer zu sein.

Und Eri wollte es gut machen, er wollte für den Kleinen da sein. Musste es.

Er lächelte auf das in Tücher gewickelte Bündel hinab, Xaith zurrte den armen Kleinen immer viel zu fest zu, sodass er wie eine Raupe in einem Kokon aus Stoff dalag. Als ob Xaith nicht wollte, dass Kleiner Prinz sich selbstständig machte. Er sah vermutlich in dem Kind zu viel von seinem Bruder. Doch da täuschte er sich, Kleiner Prinz war nicht wie sein Vater, er war etwas ganz Besonderes.

Schläfrig blinzelten die grünen Augen zu Eri auf und ließen ihn für einen Moment das Gefühl vergessen, dringend Wasser lassen zu müssen.

»Guten Morgen, kleine Hoheit«, flüsterte Eri und legte den Kopf schief, zärtlich strich er mit einem Finger über die rosige Wange.

Kleiner Prinz erkannte ihn sofort und quiekte voller Freude, wie ein Lämmchen, das auf der großen Weide erst seine Mutter verloren und dann wiedergefunden hatte.

Eri sah sich noch einmal verstohlen über die Schulter, dann wandte er sich wieder dem Kleinen zu. »Na, hast du schon Hunger?«

*~*~*

»Das ist doch nicht möglich!« Jin warf die Worte über die Schulter Xaiths Rücken zu. »Du schummelst doch!«

Xaith schmunzelte in dem Wissen, dass der Rotschopf es nicht sah, und steckte das Mundstück der Pfeife zwischen die Lippen, um kurz beide Hände zu nutzen, damit er die Angelschnur erneut auswerfen konnte. Geschickt wickelte er sie um seine Finger, denn eine Angelrute besaß er nicht, auch keinen geeigneten Stock dafür. Sie angelten nur mit Schnüren, Haken und ein paar Essensresten wie Brotkrumen und Käsestückchen. Doch es funktionierte einwandfrei. Nun ja, zumindest bei einem von ihnen. Schon der dritte Fisch war im hohen Bogen aus dem Wasser in dem Eimer gelandet, der auf Deck neben ihm stand. Jins Eimer blieb seit Stunden leer.

Gelassen nahm Xaith die Pfeife wieder in die Hand, mit der anderen hielt er locker die Schnur und zog nur hin und wieder sanft daran, um einen Fisch anzulocken. »Ich weiß nicht, wie man beim Angeln schummeln kann, aber ich gestehe wohl ein, dass angesichts deines gewaltigen Versagens der Eindruck entstehen könnte, es ginge nicht mit rechten Dingen zu!«

Jin stieß einen empörten Laut aus und drehte wieder den Kopf halb über die Schulter, um ungefähr in Xaiths Richtung zu blicken. »Sieh an, dazu hat er plötzlich was zu sagen!«

Xaith zog grinsend an seiner Pfeife.

Sie saßen auf der Reling, jeder auf einer anderen Schiffsseite, die Rücken einander zugewandt. Seit dem Gespräch in der Nacht, war Xaith ihm aus dem Weg gegangen, doch als er ihn so einsam auf der Reling hatte angeln sehen, hatte er sich zu ihm gesellt, wenn auch mit deutlichem Abstand und ohne ihn ansehen zu müssen, dafür spürte er ihn umso mehr.

Jin hatte gelächelt, einfach nur froh darüber, dass Xaith immer und immer wieder von allein zurückkam.

»Nur damit du es weißt«, fuhr Jin fort, »ich kann sehr gut angeln, bei mir beißen immer Fische an. Du musst meinen Haken mit einem Fluch oder so etwas belegt haben!«

Xaith kam nicht umhin, darüber zu lachen. »Das würdige ich mit keiner Erwiderung. Ein Fluch?« Er schnaubte herablassend. »Unwürdige Taschentricks, damit gibt sich göttliches Blut nicht ab, Sterblicher.«

Jin grunzte, er klang wie ein kleines Ferkel. »Sterblicher… Ah, verstehe. In Ordnung, oh großer Gott, dann gib zu, dass du deine überlegene Macht dazu verwendest, die Fische auf seiner Seite durch bloßen Willen freiwillig anbeißen zu lassen.«

»Niemand hat gesagt«, Xaith lachte auf, »dass das gegen die Regeln verstößt.«

Nun fuhr Jin mit echter Empörung auf dem Gesicht zu ihm herum. »Ich habe es doch gewusst! Wie machst du das?«

Xaith hatte Mühe, nicht vor lauter Belustigung laut zu lachen. Es kam bei ihm seltsam vor, dass er so erheitert war, so entspannt, doch was sollten sie während der langen Tage auf See sonst tun? Und Jin ließ kaum einen Versuch aus, ihm ein Schmunzeln – besser noch ein Lachen – zu entlocken.

Dennoch, er hatte nicht die geringste Ahnung, wann er in seinem Leben zuletzt so häufig einfach nur hatte lachen müssen.

»Göttliche Macht eben«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen, und hob wie zum Gruße die Pfeife.

Er konnte Jins vernichtenden – gleichwohl spöttischen – Blick förmlich im Nacken prickeln fühlen.

»Banause!«, kommentierte dieser und drehte sich wieder um, um seine Schnur einzuholen und erneut auf das Meer hinauszuwerfen. »Wart‘s nur ab, die Gerechtigkeit wird obsiegen.«

»Dann werde ich wohl warten müssen, bis ich hier zu Staub verfalle, denn ich befürchte, du wirst mich nicht mehr schlagen.«

»Oh oh, ist das eine Herausforderung?«

»Nein.« Grinsend biss Xaith auf das Mundstück seiner Pfeife. »Es ist Logik.«

»Haha«, stieß Jin trocken über die Schulter aus. Dann leiser, beinahe schmollend, murmelte er hinab ins Meer: »Klugscheißer.«

Xaith lachte vergnügt in sich hinein. »Sag nicht, ich habe es tatsächlich geschafft, deinen Stolz zu verletzen?«

Es blieb einen Moment still. Zu still. Sodass Xaith doch tatsächlich besorgt war, zu weit gegangen zu sein, und sich neugierig umdrehte.

Jin wandte ebenfalls das Kinn über die Schulter und lächelte ihm frech zu. »Nein, aber es ist gut zu wissen, dass du fürchtest, ich könnte böse auf dich sein.«

Noch nie in seinem Leben hatte er sich so ertappt und schachmattgesetzt gefühlt. Nun war er es, der sich schmollend abwandte und ein »Klugscheißer« murmelte, das Jin erheitert glucksen ließ.

Das Geplänkel geriet ins Stocken, als an Xaiths Angel ein weiterer Fisch anbiss. Genau wie die letzten drei war auch dieser eine Saphirhochseeflosse. Ein kleinerer Fisch, nur knapp so lang wie der Unterarm eines Kindes, dessen Schuppen blassblau und trocken waren, während seine starken und kurzen Flossen schimmerten, als wären sie aus purem Saphir. An ihm war viel dran und er war besonders nahrhaft.

Der Fisch sprang wie von selbst aus dem Wasser, als er in Reichweite war, flog im hohen Bogen über die Reling und zog eine Spur aus Wassertropfen hinter sich her, bis er mit einem feuchten Laut im Eimer landete.

»In Ordnung, das genügt für ein üppiges Mahl«, beschloss Xaith und kletterte von der Reling auf das Deck. Er wickelte die Schnur auf und bückte sich, um den Haken aus dem Maul des Fisches zu entfernen.

Jin holte seine Schnur ebenfalls ein, entfernte den Köder zum Haken und warf ihn ins Meer, dann kam er mit seinem leeren Eimer zu Xaith rüber.

»Bereitest du sie vor?«, fragte Xaith und reichte Jin seine Angelschnur. »Dann gehe ich kurz runter und wecke Eri.«

Um es sich einfach zu machen, spießten sie die Fische auf einem Stock auf und legten diesen auf eine kleine Konstruktion aus weiteren Stöcken, sodass sie wie über einem Lagerfeuer hingen. Doch da sie natürlich kein Feuer auf den Planken entzünden konnten, briet Xaith die Fische mit seiner Magie. Mit einem einzigen Feuerstoß war somit das Essen – in diesem Fall ein spätes Frühstück – fertig zum Verzehr. Es sparte an Zeit und Mühen, und da Xaith so leicht Feuer beschwören konnte, wie andere niesen mussten, kostete es ihn nicht einmal sonderlich viel Kraft.

Feuer, Wasser, Luft in Form von Druckwellen, Erde und Pflanzen waren leicht zu manipulieren, weil sie ihn immer umgaben und einen rein natürlichen Ursprung besaßen. Schwieriger wurde es für ihn, wenn er magische Tore in andere Welten erschaffen oder sich selbst in einen Schwarm schwarzer Falter auflösen musste.

Jin nickte zustimmend und griff bereits nach dem vollen Eimer, den Xaith noch in der Hand trug und ihm entgegenstreckte. Xaith würde es nie zugeben, aber er hasste es, den wehrlosen Fisch zu töten. Irgendwie… ging dabei sein Mitleid mit ihm durch. Ob Jin es an seiner Statt gerne tat, wagte er zu bezweifeln, dennoch beschwerte sich der Rotschopf nie, wenn er die Drecksarbeit für ihn übernehmen sollte.

Was nach genauerer Betrachtung doch ziemlich ironisch war, denn Xaith fühlte bei dem Anblick von Leichen nichts mehr, während sie Jin noch immer Übelkeit verursachten, doch ging es um das Töten des Abendessens, besaß Jin die stärkeren Nerven.

Als dieser nun das Seil des Eimers ergriff, ließ Xaith nicht los und nickte ihm zu. »He!«

Verwundert, weil er mit den Gedanken schon mit seiner Aufgabe beschäftigt war, fuhr Jins Blick zu Xaith auf. Zwei ahnungslose, große Augen starrten ihn erwartungsvoll an.

»Danke«, sagte Xaith betont in Jins Gesicht.

Dieser wirkte verdutzt. »Dass ich nichts gefangen habe?«, scherzte er.

Ein Schmunzeln wollte sich auf Xaiths Lippen stehlen. »Nein«, konterte er, »dass du niemals nachtragend bist, meine ich. Nie irgendetwas übelnimmst.«

Damit meinte er, dass er nach ihrem Gespräch die Flucht ergriffen und ihn gemieden hatte, und so viele andere Gelegenheiten, als er ihn vor den Kopf gestoßen oder einfach stehengelassen hatte. Jin war ihm niemals böse, trug ihm niemals etwas nach, und empfing ihn immer wieder mit offenen Armen, als wäre nichts gewesen.

Aufmerksam sah Jin ihn an, seine zimtbraunen Augen leuchteten.

Xaith ließ den Eimer los. »Das… macht vieles sehr viel angenehmer«, gestand er noch.

Jin lächelte sachte mit süß geschürzten Lippen. Falls er etwas dazu zu sagen hatte, verkniff er es sich. Er nahm den Eimer und wandte sich noch immer schmunzelnd ab. Es bedurfte keiner Worte.

Xaith atmete tief durch und widerstand dem Drang, ihm nachzusehen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er ihn lieber über Bord geworfen, statt auch nur einen Herzschlag lang in seiner Nähe zu verbringen, und nun war es so leicht und angenehm, ihn bei sich zu haben. Beinahe unkomplizierter als seine Beziehung zu seinem Mündel Eri. Jin war… einfach Jin. Unaufdringlich und genügsam, niemals fordernd oder reizbar, dafür unzerstörbar fröhlich und harmonisch. Also das genaue Gegenteil von Xaith, und irgendwie schien ihre seltsame Freundschaft dadurch bestens zu funktionieren.

Plötzlich war ihm das Gesagte peinlich, der winzige Moment der »Schwäche«, als er seine Gefühle gezeigt und sich bedankt hatte. Bedankt? Was stimmt nicht mit dir?, fragte er sich und schnaubte über sich selbst, als er sich abwandte und über das Deck hinkte.

He Jin, danke, dass du so freundlich bist und so viel Nachsicht mit mir hast…

»Trottel«, knurrte er über sich selbst, als er durch die Tür unter dem Steuerruder trat und die Stufen hinabstieg.

Als er die Tür zur Kabine öffnete, schimpfte er noch mit sich in einem tiefen, inneren Dialog, dass er gefälligst nachdenken sollte, bevor den verdammten Mund aufmachte, weil es ansonsten nur peinlich für ihn wurde. Er grübelte gerade darüber, ob er Jins Lächeln vielleicht falsch gedeutet hatte und es doch eher peinlich berührt und distanziert, statt freundlich und verstehend gewesen war. So in Gedanken versunken nahm er die Szenerie im Raum erst überhaupt nicht richtig wahr.

Er blieb in der Tür stehen und stockte, weil sein Verstand instinktiv wusste, dass an dem Bild, das sich ihm bot, irgendetwas faul war, doch für einen Herzschlag lang wusste er nicht, was es war.

Eris erschrockenes und bleiches Gesicht riss ihn schließlich aus seiner Verwunderung.

»Was machst du da?«, platzte er schockiert heraus.

Der Junge hockte in seinem weiten Leinenhemd und Lederhosen auf dem Boden vor einem Holzeimer und rieb verzweifelt weißen Stoff über ein Waschbrett. Schimmernde Pfützen waren um ihn herum verteilt und verdunkelten fleckenartig die Dielen. Das Wasser im Eimer schwankte, der Stoff in Eris Hand und seine blasse Haut waren mit verdünntem, rosafarbenem Blut bedeckt.

Xaith rutschte das Herz in die Hose. Er warf einen schnellen Blick zum Bett, wo Riaths Bastard umgeben von einem Kissenwall friedlich und zufrieden schlummerte.

Dann starrte er zurück zu Eri. »Was hast du getan?«, fragte er sofort mit Grauen in der Stimme.

Stumm bewegte sich Eris Mund, als er ihn noch immer erschrocken anstarrte. Doch gleichzeitig setzten sich seine Hände in Bewegung und drückten eilig das blutige Stück Stoff ins Wasser, als könnte er es noch verstecken. »Ich… gar nichts… ich hab… also… ich wollte…«

»Du dummer Junge!« Xaith ließ die Tür los und stampfte auf ihn zu. »Du solltest ihn nicht füttern!«

Eri riss die dunkelgrünen Augen auf, die schimmerten wie ein Waldteich. »Hab ich nicht!«, warf er unheimlich überzeugend ein. Er war so blass geworden, dass seine grünen Augen noch grüner und sein schwarzes Haar noch schwärzer im Vergleich zu seiner weißen Haut schienen.

Xaith glaubte ihm kein Wort, er packte ihn grob am Arm und riss ihn auf die dürren Beine. »Wo hat er dich verletzt?«, herrschte er ihn an und suchte panisch mit den Augen Eris Hals und Brust ab. Vermutlich hatte er es wie Xaith getan, ihn von seinem Herzen trinken lassen, oder von einer anderen Stelle, die er unter einem sauberen Hemd verstecken konnte. Vermutlich war es das, was er in dem Eimer wusch: ein blutgetränktes Hemd.

Eri schien nur von Xaiths hartem Griff aufrechtgehalten, denn er schwankte und starrte ihn noch immer um Worte ringend absolut überrumpelt an. »Ich… gar nicht… ich hab nicht…«

»Lüg mich nicht an!«, zischte Xaith und stieß ihn von sich.

Eri taumelte und fiel beinahe in den Stuhl, der neben dem Tisch stand.

»Weißt du eigentlich, wie dämlich du bist? Er hätte dich töten können, verdammte Scheiße, was denkst du dir nur?«

Eri wurde noch bleicher und hielt sich den Unterleib. »Ich hab ihn nicht gefüttert, Xaith, ich schwöre…«

»Ach nein?« Xaith konnte nicht glauben, wie unheimlich dumm der Junge war. Und wie unglaublich naiv er selbst gewesen war, ihn und seinen Neffen auch nur für einen Augenblick allein und aus seinen Augen zu lassen. Er hätte es wissen müssen, er hätte Eri misstrauen müssen. Die Wut in ihm kochte hoch, denn es hätte alles Mögliche geschehen können, und er stellte sich vor, wie er hereingekommen und Eris kalten, aufgerissen Leib vorgefunden hätte, nur weil er nicht auf Xaith gehört hatte. Verdammt, Eri hätte sterben können, während sie oben friedlich das Essen geangelt hatten! Xaith hätte sich das niemals verzeihen können.

»Und was ist das?«, fragte er zornig und griff in den Eimer.

Eri sah aus, als würde noch mehr Farbe aus seinem Gesicht weichen, er streckte flehend den Arm aus und rief panisch: »Nein, nicht!« Doch es war zu spät, Xaith hatte das Beweisstück in der Hand.

»Ist das etwa kein Blut?«, fragte Xaith. Er war so wütend, er konnte nicht einmal den Duft der roten Flüssigkeit riechen, die ihn sonst stets vor lauter Durst und Gier die Kehle abschnürte. Wütend hielt er Eri das feuchte und tropfende Stück Stoff entgegen, wo ein großer roter Fleck derart stark eingetrocknet war, dass…

Moment mal…?! Eingetrocknet?!

So lange hatte er die beiden doch nicht aus den Augen gelassen, dass das Blut so stark hätte eintrocknen können, dass es bereits verdunkelt war.

Xaith stockte noch während er anklagend den nassen Fetzen Eri entgegenhielt. Der Junge wich schamhaft seinem Blick aus und schluckte.

Stirnrunzelnd faltete Xaith den Stoff auseinander und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er da in der Hand hielt. Verständnislos starrte er auf die lange Unterhose in seinen Händen.

Er sah Eri an und musterte ihn. »Hast du ihm etwa… von deinem Schenkel zu trinken-«

Eris verzweifelter Blick ließ ihn sich unterbrechen. Kleinlaut und seinem irritierten Blick ausweichend, murmelte der Junge: »Dann… dann wäre das Blut wohl kaum im Schritt…«

Es dauerte noch einen weiteren Moment, bis Xaith begriff, dass dieses Blut nicht von einem schiefgegangenen, tiefen Biss stammte.

»Ich blute«, weihte Eri ihn peinlich berührt ein und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt schon… da… unten.«

Xaith stand noch eine Weile einfach so da und wollte sich in diesem Moment selbst ohrfeigen.

Mit hängendem Kopf ließ Eri sich auf den Stuhl fallen und winkte in Richtung Bett. »Ich habe auch das Laken gewechselt, es war alles voll. Ich wollte nicht… dass …«

Xaiths Schultern sanken herab, er atmete ruhiger aus. »Warum kamst du nicht zu mir?«, fragte er und warf die Hose in den Eimer zurück, dann ging er hinüber zu Eri.

Dieser lachte humorlos, während er sich vor Scham auf dem Stuhl krümmte und es bevorzugte, seine vor Kälte blassen Zehen anzustarren. »Weil ich nicht wollte, dass es jemand weiß.«

»Deine erste Monatsblutung?« Dumme Frage, Xaith war so lange mit ihm zusammen, er hätte es wohl mitbekommen, falls Eri zuvor je geblutet hätte.

Ein stummes Nicken antwortete ihm.

Xaith zog den anderen Stuhl zurück und setzte sich neben Eri, auch er beugte sich nach vorne und stützte die Ellenbogen auf die Schenkel. »Daher also die Krämpfe und die Übelkeit.« Irgendwie war er erleichtert, dass Eri nicht krank war und sein Unwohlsein auf etwas so Natürliches zurückzuführen war. Doch ihm war bewusst, warum Eri das nicht so locker sehen konnte.

»Ich will das nicht«, vertraute er sich Xaith an und sah so verzweifelt aus, dass man nur Mitleid mit ihm haben konnte.

»Es ist doch nicht so schlimm«, versuchte Xaith, ihn zu beruhigen. »Viele Menschen bluten.«

Eri warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Immerhin konnte Xaith über sich glucksen. »Ich meine doch nur«, versuchte er, ihn aufzumuntern, »das ändert nicht, wer du bist, Siderius. Es gibt eben auch Männer, die bluten, so wie es Frauen gibt, die es nicht tun. Das ändert nichts!«

Ein kleines Lächeln huschte über Eris Gesicht, das jedoch schnell wieder verschwand. »Aber niemand wird mich jemals als das wahrnehmen, was ich bin«, sagte er matt und am heutigen Tage schien es ihn hart zu treffen.

Bevor Xaith etwas einwenden konnte, fuhr der Junge frustriert fort: »Ich bin kein Kind mehr, ich kann mich nicht mehr so gut verstellen. Viele in meinem Alter bekommen schon Haare, ich hingegen werde niemals einen Bart haben können.« Die Traurigkeit in seiner Stimme ließ Xaith schweigend die Stirn runzeln. »Meine Stimme wird immer hell sein, mein Körper immer weicher und runder werden.«

»Das ist nicht wahr«, warf Xaith ein. »Ich habe dir doch versprochen, dass wir einen Weg finden, ein paar Dinge so werden zu lassen, dass sie so sind, wie du sie gerne hättest.« Es gab Kräuter, die das Haarwachstum steigerten, Kräuter, die das Wachstum aufhielten, Magie hatten sie auch zur Verfügung, um Eris Entwicklung ein wenig aufzuhalten, sodass er schlank und kindlich bleiben würde.

Doch Eri stieß einen hoffnungslosen Laut aus. »Aber was wir auch tun, wir konnten die Blutung nicht aufhalten! Und wir können auch nicht verhindern, dass die hier« - er schlug sich grob auf die Brust - »einfach immer weiterwachsen.« Eris grüne Augen fuhren trostlos zu Xaith herum. »Sie sind wieder größer geworden, auch jetzt tun sie wieder weh, ich kann sie kaum noch so abbinden, dass sie verschwinden. Ich ziehe die Wickel so fest, dass ich kaum noch atmen kann, aber wenn der Wind gegen das Hemd bläst, sieht man sie…«

Xaith wusste nicht, was er sagen sollte, außer ein dummes: »Na und? Die entscheiden nicht, wer du bist, Eri.«

Eri wandte kopfschüttelnd wieder den Blick ab. »Es tut mir leid, aber du bist eben kein Gott, der diese Dinge von Grund auf ändern kann. Ich… bin was ich bin, alles andere war nur eine Illusion«, meinte er so niedergeschlagen, dass es herzzerreißend war.

Xaith runzelte die Stirn, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. »Das ist es!«

Verwundert sah Eri ihn erneut an.

»Eine Illusion!« Xaith verdrehte über sich selbst die Augen, dann sah er Eri an. »Aber natürlich! Es ist so offensichtlich! Du bist Illusionist, Eri!«

Der Junge starrte ihn an und schüttelte ratlos den Kopf. »Was hat das damit zu tun?«

Xaith breitete die Arme aus. »Du kannst aussehen, wie auch immer du aussehen willst! Du wirst einfach selbst zur Illusion! Ich habe davon schon gehört, viele von deinesgleichen können ihr Aussehen ganz beliebig verändern!«

Der winzige Hauch der Hoffnung in Eris Augen erlosch sofort, sein Gesicht wurde wieder härter und abweisend. Er drehte sich weg. »Aber es wäre nur eine Illusion und nicht echt…«

»Du bist begabt, es wird also immer so sein, als wäre es echt, ganz wie du willst«, warf Xaith ein. Dann grunzte er abfällig. »Und was ist daran falsch? Ob wir mit Magie deinen Körper zu einer geringen Veränderung zwingen, sie aufzuhalten versuchen, oder ob du mittels Magie eine Maske anlegst, ist doch gleich. Eri!« Er packte den dünnen Arm des Jungen und zog ihn zu sich herum. »Du könntest sein, wer immer du willst, und da die Magie deiner eigenen Macht entstammt, bist das wirklich du, nicht nur eine Illusion! Verstehst du das?«

Doch Eri wirkte noch nicht überzeugt. »Aber es wäre nicht mehr als ein durchscheinendes Traumgebilde!«

Xaith lehnte sich zu ihm herüber und blickte ihm eindringlich in die Augen. »Wer es vermag, aus Regentropfen so wirkungsvoll echte Falter zu zaubern, die eine ganze Armee täuschen, der vermag es ja wohl auch, sich selbst den Körper zu schenken, den er will!«

Langsam schlich Neugierde auf Eris Gesicht, er runzelte die Stirn und wandte sich ihm zögerlich zu. »Und… und du glaubst, es könnte echt genug sein, dass…?«

»Es sich auch echt anfühlt? Dass du vergisst, dass diese Dinger dich stören?« Er wedelte mit der Hand vor Eris Brust und brachte ihn damit zum Auflachen. »Ja, natürlich ist das möglich! Denn auch eine Illusion ist echt, Eri. Du wirst lernen, sie zu etwas Echtem zu machen. Und du wirst genau der sein, der du schon immer sein solltest. Deshalb hat dir das Schicksal diese Macht verliehen.«

Eris Augen gewannen an Mut. »Aber… ich weiß doch gar nicht… wie! Das mit dem Regen habe ich seitdem nicht ein einziges Mal mehr geschafft!«

»Dann werden wir zusätzlich zum Schwertkampf«, beschloss Xaith, »auch die Kunst der körperlichen Veränderung üben.«

Eri musste leicht lächeln. »Aber du kannst es doch selbst nicht.«

»Aber ich habe eine große Macht in mir.« Xaith streckte ihm die Hand entgegen. »Und ich kann dich damit speisen und führen. Zehre einfach von mir, dann finden wir zusammen deine Innere Kraft.«

Eri starrte ihn an, als wagte er nicht noch einmal, zu hoffen.

Xaith nickte auf seine wartende Hand.

Beinahe unschlüssig, blickte Eri darauf, dann wieder zu Xaiths Gesicht. Seine schmalen Schultern strafften sich und er klatschte seine Hand entschlossen auf Xaiths, sie drückten ihre Finger umeinander zu. Und zum ersten Mal verband Xaith seine mächtige, wallende Aura mit Eris ruhigem und jungem Lebensfluss.

»Kann ich dann auch einen Bart haben?«, fragte der Junge hoffnungsvoll.

Xaith sah ihm in die Augen, während er tief in Eris Geist eindrang, und erwiderte: »Du kannst so sein, wie du willst, Eri.«

Daraufhin strahlte Eri so breit und froh, wie noch nie zuvor. Und mit ihm wallte seine Aura auf, als würde er sie regelrecht zwingen, endlich ihre volle Macht zu entfalten.

Und er war mächtig, erkannte Xaith, als er so mit ihm verbunden war. Mächtig an absoluter Reinheit und Ehrlichkeit – seine Magie hingegen brauchte einen verdammt großen Stoß, doch das würde er ihm natürlich nicht sagen.

»Du wirst es schaffen«, versprach er Eri stattdessen, denn manchmal war Mut und Entschlossenheit alles, was man zum Erfolg brauchte. »Ich verspreche es.«

»Hoch und heilig?«

Xaith schmunzelte schief. »Hoch und heilig.«

Das stimmte den Jungen zufrieden und sie lösten ihre Hände.

»Gut.« Eri nickte, dann wandte er den Blick ab und starrte wieder einen Moment düster auf den Eimer, der im Raum stand. »Sag es nicht Jin, okay?«

Xaith schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin?«, meinte er nur und stand auf. »Komm, wir essen erst einmal was, ja?«

Er ging zur Tür, stockte dann aber und drehte sich noch einmal um. Zögerlich fragte er: »Brauchst du irgendetwas?«

Eri sah ihn kurz schweigend an, dann wandte er kopfschüttelnd den Blick in eine andere Richtung. »Ich blute nicht mehr alles voll, keine Sorge, hab dafür gesorgt.«

»Es gibt einen Trank gegen die Krämpfe, den mach ich dir gleich.«

»Nein, ich möchte ihn selbst zubereiten.«

Xaith stockte, sah aber wohl ein, dass Eri bezüglich dieser Sache lieber so tun wollte, als würde sie nicht existieren, dabei hatte sich für Xaith seit dem Morgen, als er es nicht gewusst hatte, bis jetzt, da er von den Blutungen wusste, überhaupt nichts geändert. Für ihn war Eri immer noch Eri.

Bis auf eine kleine Sache, die ihn nicht losließ.

»Also gut.« Er zeigte zum Tisch. »Im Rezeptbuch.«

Eri warf einen Blick auf die Bücher, dann sah er ihn wieder an. »Sag nicht, es steht unter Frauenleiden oder so. Direkt neben dem Kinder-weg-mach-Trank.«

Ungerührt blinzelte Xaith Eri an. »Du weißt, ich kategorisiere nicht auf diese Art. Er steht unter Krampflöser, das andere steht unter Gifte.«

Eri drehte sich um und zog das Buch heran.

Noch einmal betrachtete Xaith ihn und stellte fest, dass er, seit sie sich das erste Mal begegnet waren, deutlich größer geworden war. Es waren keine Jahre vergangen und doch hatte Eri in den letzten Wochen vieles an seiner Kindlichkeit verloren. Er war schon ein junger Mann.

Mit einem seltsam beklemmenden Gefühl stieg Xaith die Stufen hinauf. Das Tageslicht blendete ihn und er war plötzlich unendlich müde. Auch wenn er Eri aufgemuntert hatte, spürte er eine deutliche Melancholie.

»Kommen die beiden hoch?«, frage Jin, der die Fische gerade mit blutigen Händen recht grob aufspießte. Zimperlich war er nicht, und auch nicht empfindlich.

Xaith nickte und ging mit einem leichten Humpeln zur Reling, ließ die Hände darüber gleiten und lehnte sich seufzend darauf.

Jins verwunderter und besorgter Blick folgte ihm. Der Rotschopf stellte den Spieß gegen den Mast und griff zu einem Tuch. Während er sich die Hände sauber machte, lehnte er sich neben Xaith und betrachtete ihn einen Moment fragend.

»Was ist los? Geht es ihm nicht besser?«, hakte er fürsorglich nach.

Xaith verzog das Gesicht. »Nein, er ist nicht krank.«

»Aber ihm war doch übel«, erinnerte Jin sich.

»Seine erste Blutung.« Xaith wollte Eri nicht bloßstellen, das tat er vor Jin auch nicht und er hatte keine Verschwiegenheit geschworen. Aber Jin würde Eri ohnehin nie darauf ansprechen, denn er besaß Feingefühl, noch würde er sich dadurch irgendetwas ändern.

»Oh.« Jin warf das Tuch über die Schulter. »Also möchte er nichts essen?«

Xaith lächelte. Jin war einfach… wunderbar. »Doch, er kommt. Und ich habe gesagt, ich würde dir nichts davon erzählen.«

»Nett, dass du so verschwiegen bist.« Jin schmunzelte neckend. »Tratschweib.«

Xaith nickte nur abwesend.

Besorgt legte Jin den Kopf schief und tastete Xaiths Profil mit den Augen ab. »Was ist los? Du wirkst so bedrückt. Deine Mundwinkel angeln gleich noch einen Fisch.«

Xaith sank noch mehr auf die Reling und ließ den Kopf durch die Arme hängen. »Warum werden sie so schnell groß?«, klagte er nur und wusste plötzlich, wie seine Väter sich gefühlt hatten, wann immer sie diese Worte über ihn und seine Geschwister gesprochen hatten.

Jin gluckste und wagte es, Xaith eine Hand auf den Rücken zu legen. »Armer Onkel Xaith«, säuselte er mit hochtrabender Belustigung.

»Ich schmeiß dich irgendwann ins Wasser«, konterte Xaith.

»Ich kann leider ganz gut schwimmen.«

»Scheiße.«

Jin lachte leise.

*~*~*

Es war wie ein stilles Brüllen, das ihn durch die Schwärze sog. Ein Brüllen, das ihn unweigerlich aufschrecken und seinem Widerhall folgen ließ, obwohl er kein Geräusch vernehmen konnte. Es war ein stiller Ruf, mehr als nur ein Gefühl, ein Zwang, ein Drängen. Wie ein Tier, das einer Witterung folgte. Doch es war mehr als reiner Instinkt. Ein Ruf, ganz genau das war es, ein Ruf ohne Geräusch, mehr als nur ein Empfinden.

Er folgte diesem Drängen durch die dichte Schwärze, bis sein Stiefelabsatz von der lautlosen Dunkelheit auf nackten Stein traf. Verwundert blickte er nach unten und erkannte gepflasterte Gesteinsblöcke. Ein Weg, der aus dem Nichts führte. Er blickte auf und schielte reglos umher, sein Geist bis zum Zerreißen angespannt. Doch er konnte keine Gefahr spüren, nur diesen unerklärlichen Ruf, er ihn wie an einer Leine zu sich zog.

Vorsichtig trat er aus dem Nichts und tauchte in den schmalen Gang vor sich ein. Pechfackeln hingen an den kahlen Wänden und ihr flackerndes Licht blendete ihn, da er die Schwärze bereits so gewöhnt war.

Es fühlte sich an, als stiege er aus den schwerelosen Massen eines Sees und tauchte ein in eine bitterkalte und beschwerliche Welt, während seine Beine noch das Gefühl vermissten, sich mühelos zu bewegen. Die Gegenwart pflanzte jeden seiner Schritte hart auf den Boden, seine Stiefelabsätze verursachten leise und dumpfe Laute, die vom nackten Gestein widerhallten.

Es war beengt, eisigkalt und feucht. Er folgte dem Flur bis zu einer Gabelung, die entweder nach links zu einer gewundenen Treppe führte oder nach rechts einen weiteren Gang entlang. Er musste nicht überlegen, denn der Ruf führte ihn.

Er drehte den Kopf nach links, als hätte jemand zärtlich eine Hand auf seine Schulter gelegt. Er folgte dem Gefühl, heran gewunken zu werden, und nahm die Treppe.

Mehr leere Gänge und mehr Stufen warteten auf ihn, es wurde etwas wärmer, je höher er stieg, heimeliger. Königsblaue Läufer dämpften seine Schritte, Wandbehänge wechselten sich mit Fackeln ab. In einem Kaminzimmer prasselte ein Feuer, ein Wein und ein Buch lagen auf einem mit Fell ausgelegten Stuhl im Schein der Flammen, doch niemand saß darin. Es war gespenstisch still, als ob der Ort verlassen wäre, dabei wirkte jeder Raum, jeder Gang so, als wären die Bewohner gerade erst gegangen.

Nein, sie sind nicht gegangen, er konnte sie spüren, ihre Lebensflüsse, sie waren hier, sie saßen und standen herum, er konnte sie nur nicht sehen – und sie ihn nicht.

Er ging weiter, breite Gänge entlang, die Anlage schien nicht groß, aber verworren und verwinkelt. Er gelangte an ein weiteres Treppenhaus, dessen flache Stufen sich wie eine Schlange um einen Stock nach oben wandten. Er stieg den Turm hinauf, hinter den winzigen Fenstern konnte er nichts als Schwärze erkennen, als befände er sich samt dieses Gebäudes noch immer im Nichts. Die Dunkelheit lauerte dort draußen und schien ihn warnend anzufunkeln. Sie wollte ihn wieder haben.

Er ging nach oben, immer weiter, an Türen und schmalen Gängen vorbei, folgte dem Ruf.

Das letzte Zimmer des Turmes war das einzige, dessen Tür sich für ihn wie von Zauberhand öffnete, kaum dass er sie erblickte. Mit schweren Eisen beschlagen und aus dunklem, gerußtem Holz gezimmert, starrte sie ihn an, um sich dann mit knarrenden Scharnieren zu öffnen, als stöhnte sie.

Der Ruf wurde lauter, prickelte intensiv über seine Haut und sorgte dafür, dass sich jedes einzelne Haar in seinem Nacken aufstellte.

Er nahm die letzten Stufen mit pochendem Herzen und trat ungeachtet aller Gefahr blind durch die aufschwingende Tür.

Und da lag er. Zerbrechlich und schwach auf einem kalten, kahlen Boden in einem leeren Zimmer, während sich unter ihm eine schimmernde Blutlache ausgebreitet hatte.

Riath blieb das Herz stehen.

Die Schwärze sickerte durch die Fenster herein, Schatten breiteten sich aus und fraßen die Ecken, sie drangen immer weiter auf sie ein, mit jedem Schritt, den er auf den Liegenden zumachte.

Doch die Dunkelheit, das Nichts, holte sich das Zimmer zurück.

Stöhnend drehte sich das zarte, geschundene Geschöpf auf den Rücken und blickte ihn mit blutenden Augen an, rote Tränenbahnen zogen sich über die eingefallenen Wange zur zarten Kehle. »Riath!«, krächzte er und streckte flehend eine zitternde, blutgetränkte Hand aus.

Ein eiskalter Schock lähmte Riath, als er sah, was die Hand zuvor verborgen gehalten hatte. Ein tiefes, rotschwarzes Loch in Kaceys Brust, sodass es einen Blick auf sein blutendes und krampfendes Herz freigab.

»Riath…«, ächzte sein Schönling verzweifelt. »Carapuhr. Eisnacht…«

Die Schwärze erreichte ihn und Riaths Stiefel.

»Nein, Kacey!« Auch Riath streckte die Hand aus, endlich ging ein Ruck durch ihn. »Kacey!« Er ging mit großen, ausholenden Schritten durch den Raum, er fing an zu rennen, sah die Angst und die Qual in Kaceys blutigen Augen, doch die Schwärze holte sie schneller ein, als Riath zu rennen vermochte, und verschluckte sie in dem Moment, als sich ihre Fingerspitzen fast berührten.

Dann war es plötzlich wieder nur schwarz und still im ewigen Nichts.

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