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Kapitel 4
Оглавление»Wenn ihm jetzt Elkanasai gehört, wird er uns bald von zwei Fronten angreifen«, befürchtete Sehared, General des Hexenprinzen und Lord des Toten Waldes. »Er wird seinen Neffen mit einer Flotte über die See schicken«, fuhr er fort und beugte sich über den massiven Kartentisch, der aus einer Scheibe eines kutschenbreiten Wildnisbaumes gezimmert war. »Der Großkönig selbst wird sich mittels der Armee des toten Kaisers durch die Wildnis schlagen.«
Der tote Kaiser… Wexmell spürte, wie ihm die Kehle eng wurde.
Der Kaiser von Elkanasai war tot. Sein Sohn war tot.
Seaks, Lord von Dargard, stimmte mit einem düsteren Nicken dem anderen Adeligen zu. »Sobald der Schnee sich im Frühjahr lichtet, werden wir mit den ersten Angriffen rechnen müssen. Wir brauchen Verteidigungspläne für die Schwarze Stadt und die dahinterliegenden Burgen in den Fruchtbaren Hügeln, um den Vormarsch aufzuhalten.«
»Sie könnten auch wo anders anlegen«, gab Hierraf zu bedenken. »Etwa im Osten, wenn sie die steilen Klippen dort nicht fürchten und es wagen, sie zu erklettern. Oder sie landen einfach an den Sandstränden der Wüste.«
»Unwahrscheinlich«, gab Sehared zu bedenken und zeichnete die gezackten Ränder der Karte entlang. »Die Violette Küste ist unser größter Schwachpunkt, der Handelsposten ist in Richtung Wasser nicht sonderlich gut geschützt, wir besitzen nur eine Kette im Wasser, aber die wird sie nicht lange aufhalten. Die Stadt ist so gesehen leicht einzunehmen, da dürfen wir uns nichts vormachen, zudem reich an Vorräten. Ein kluger Angreifer nimmt zuerst die Küste ein und verbarrikadiert sich dort. Sie könnten Jahre in der Schwarzen Stadt ausharren, der Handel hat sie reich gemacht, und das nicht nur an Gold. Obst, Reis, exotische Güter und eine Vielzahl sauberer Brunnen mit vom Stein gefiltertem Wasser. Es ist das Paradies für Angreifer, König Desiderius hat schon vor Jahren versucht, die Verteidigung am Hafen zu verstärken, doch uns fehlen noch immer Güter! Und Arbeiter.«
»Ein kluger Stratege würde jedoch wissen, dass wir ihn dort erwarten und etwas anderes planen«, befürchtete Lady Sigha aus dem Schwarzfelsgebirge.
»Die Wüste wäre ihr Tod, die Hitze, der Sand, es gibt kaum Essen außerhalb der Städte, und diese sind weit vom Strand entfernt. Es wäre Selbstmord. Sie könnten allerdings versuchen, hinter dem Toten Wald zu landen und die Burg einzunehmen«, mischte sich Seaks wieder ein und blickte neben sich zu Sehared, der grimmig nickte.
»Vor allem brauchen wir Sparmaßnahmen«, fügte Gretchen, Lady von Gino, hinzu. »Wir müssen unsere Vorräte überschlagen und uns zusammentun, mögliche Belagerungen in Überlegungen einfließen lassen und entsprechende Vorkehrungen treffen. Wenn wir jetzt nicht sparsam mit unserem Korn umgehen, verhungern unsere Soldaten, eher sie die Barbaren und Elkanasai aufhalten können.« Sie sah sich in der Runde des Kronrats um. »Seaks hat recht, wir haben einen Winter lang Zeit, unsere Verteidigung zu verstärken, wir sollten dafür sorgen, dass wir den Vorstoß der Angreifer so lange wie möglich zurückschlagen.«
Sie redeten und redeten und das schon seit Stunden. Zum ersten Mal seit Jahren gab es an diesem Tisch keinen Streit und keine Unstimmigkeiten, keine Vorwürfe und keine Forderungen. Niemand schlug sich auf irgendeine Seite, es ging nicht mehr um Magier und Normalsterbliche, und auch nicht um Wexmell oder Riath. Nein, der Feind von außerhalb ließ die Fehden vergangener Monate wie albernes Gezanke erscheinen, das angesichts der Gefahr verblasste.
Zumindest, dachte Wexmell bei sich, hielten sie nun zusammen und würden Schweiß, Blut und Tränen vergießen, um ihre Heimat und ihre Nachbarn zu verteidigen, obwohl sie sich vor kurzem noch so uneinig darüber gewesen waren, welchem Mann sie die Treue halten sollten.
Er stand vor einem Fenster mit dem Rücken zu seinem Rat und blickte scheinbar nach draußen, doch was er wirklich ansah war sein Spiegelbild in der bunten Scheibe. Schnee wirbelte in dem durchsichtigen Bild herum, draußen bedeckten die weißen Massen alle Zinnen und die Helme der wachdienstschiebenden Königsgarde.
»Er wird den Winter vielleicht gar nicht abwarten«, hörte Wexmell sich sagen.
Hinter ihm verstummten die Männer und Frauen am Tisch.
Er drehte sich um und besah die verschiedenen Gestalten seiner alten Bekannten und Freunde. Sehared trug schwarz und violett, genau wie sein Prinz, dem er ewige Treue geschworen hatte. Dunkler Schopf, hartes Gesicht, kluge Augen. Die besaßen sie alle am Tisch.
Sie waren älter geworden, es fiel Wexmell zum ersten Mal richtig auf. Sie hatten Sorgenfalten in ihren Gesichtern, die auch er in seinem Spiegelbild erkannte, weil sie von der Pflicht und der Bürde zeugten, die auf ihren Schultern lasteten, genauso wie auf seinen. Gretchen hatte sich ein schweres Wams aus Leder über die gertenschlanke Figur gezogen, um der Kälte auf der Hohen Festung vorzubeugen. Sie versank fast darin und ihr zierliches, aber hartwirkendes Gesicht und ihr Kopf sahen aus wie aufgesetzt, da das Wams ihren Leib breiter erscheinen ließ, als ob jemand einen falschen Puppenkopf auf einen zu breiten Körper gesteckt hätte. Ihre langen Haare hatte sie abgeschnitten, sie waren nun kürzer als Wexmells. Sigha trug ein dunkles Kleid in der Farbe reifen Weines, mit Mieder und schwerem Rock, ihre dunkle Mähne war geöffnet und von silbernen Flüssen durchzogen, in ihren Augen lag eine deutliche Trübheit und hatte die Farbe ihrer Iriden gestohlen, doch ihr Gesicht wirkte noch immer zugleich stolz und unbeugsam, gleichwohl auch warm und freundlich, wenn sie es wollte. Eine Mutter, durch und durch, lieblich und doch stark. Seaks bevorzugte seither einfache Kleidung und unterschied sich nur durch das teure Schuhwerk und durch die verzierten Waffengriffe an seinem Gürtel von einem einfachen Landsmann, er war dünner geworden und sein Haar war durchgehend ergrau, nur sein Gesicht war das alte geblieben. Er wirkte stets nachdenklich und kritisch.
Und Hierraf… nun Hierraf hatte sich bis auf die durchgehend schwarze Rüstung und seinen Rang seit dem Tag, als er Desiderius und Eagle geholfen hatte, die Festung von einem Fluch zu befreien, kaum verändert. Langes und blondes Haar, die feinen, aber männlichen Züge eines ausgewachsenen Luzianers, und die große und stämmige Figur eines Generals, der tagein und tagaus auf dem Hof der Baracken eigenhändig dabei mitmischte, Rekruten auszubilden.
Sie alle sahen Wexmell stumm und aufmerksam an, als er zum Tisch zurückkam. Er trug Derius´ Umhang, der leise hinter seinen Schritten her schliff, darunter ein schwarzes Hemd aus starken Leinen, robuste Lederhosen und leichte Stiefel, deren Schäfte bis knapp unter seine Knie reichten.
»Der Großkönig ist ein Mann des Nordens, ebenso seine Barbaren, der Schnee wird sie nicht aufhalten«, erklärte Wexmell seinen Beratern. »Ich gehe fest davon aus, dass er mich, sobald es ihm möglich ist, in Bedrängnis bringen wird. Und wir können davon ausgehen, dass er keine Grausamkeit und keinen noch so schmutzigen Trick scheuen wird, mich in die Knie zu zwingen.« Er sah sie ernst nacheinander an und spürte ihre entschlossenen Blicke, die auch auf seine Mahnungen hin nicht ins Wanken oder in Angst gerieten. Sie alle waren stark, sie alle hatten die Dämonenarmee erlebt und sich ihr entgegengestellt. Derius hatte seinen Rat gut ausgesucht, er hatte den richtigen Menschen Macht verleihen. Zumindest… innerhalb der eigenen Heimat.
»Er wird jeden Unschuldigen abschlachten, den er in die Finger bekommen wird«, warnte Wexmell sie vor, während er sowohl eiskalte Besorgnis und brennende Wut spürte, die sich in seinem Magen zu einem harten Knoten vermischten. »Er wird sich auf jedes wehrlose Wesen stürzen, ob Tier oder Kind, jedes Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrennen, jede Frau, jeden Mann von seinen Barbaren schänden und massakrieren lassen, bis er vor meinen Toren stehen und mir anbieten wird, den Krieg und das Leid zu beenden, wenn ich ihm meine Krone überreiche.« Wexmell lehnte sich auf den Tisch und sprach eindringlich weiter. »Melecay hat Derius geschätzt. Er schätzt mich. Deshalb ist es nicht voranging unser Ziel, ihn von mir fernzuhalten, denn wenn er mich hätte töten wollen, hätte er es längst getan. Nein, er will mich dazu zwingen, ihm die Krone zu überlassen und ihn um Verzeihung zu bitten. Er hasst mich nicht, ich habe ihm nie einen Grund dazu gegeben, darum geht es ihm nicht. Er wird jeden, an dem mir etwas liegt, und jeden von Riaths Getreuen, abschlachten, bis ich bereit bin, ihm genau das zu überlassen, was er will. Nohva. Er will unsere Anerkennung, er will der König über alles sein. Und er weiß, dass ich lieber selbst sterben würde, als zuzulassen, dass auch nur einem Bauern ein Haar gekrümmt wird. Er wird versuchen, meine Schwäche auszunutzen.«
Sie senkten nachdenklich die Augen auf die Karte. Seaks legte den Kopf von der einen auf die andere Seite, Gretchen griff zum Wein, Sehared plumpste lautstark auf seinen Stuhl.
Wexmell zog den seinen in der tiefen Stille zurück, sodass die Beine über den Boden kratzten, und nahm ebenfalls Platz.
Sehared ergriff als Erster wieder das Wort, indem er zuerst grimmig den Kopf schüttelte. »Er war es nicht.« Er sah sie alle nacheinander an. »Prinz Riath hat Kaiser Eagle nicht getötet. Er wäre nicht so dumm.«
Doch Gretchen verzog zweifelnd das Gesicht. »Seid Ihr Euch da so sicher?« Sie blickte wieder in die Runde, beinahe entschuldigend suchte sie nach den Blicken der anderen. »Vielleicht hat er es nicht geplant, vielleicht geschah es im Streit, so wie der Großkönig behauptet. Ich meine… es wäre ebenso dumm von Melecay, seinen einzigen Verbündeten zu töten.«
»Nicht, wenn ihm Eagles Ableben einen Vorteil einbringt. Und das tut es, indem er den Mord unserem Prinzen anhängt und den Hass der Elkanasai auf unser Land lenkt.« Wexmell hob den Blick von der Karte und besah die Gesichter am Tisch, die auf seine Äußerung hin zu begreifen schienen.
Unglauben und Verstehen traten in ihre Augen.
Wexmell fing Sehareds Blick ein. »Ich glaube nicht, dass Riath Eagle getötet hat.« Es fiel ihm schwer, es auszusprechen und dabei nicht gequält die Augen zu schließen. Auch wenn es immer Differenzen zwischen ihm und Eagle gegeben hatte, er hatte nie gewollt, dass er starb. Wexmell musste schlucken, sein Plan war unendlich schief gegangen.
»Ich … trage Schuld am Tod meines Sohnes.« Er hob eine Hand, als sie protestieren wollten, um sie zum Schweigen zu bringen. Seine vollen Lippen wurden zu einem grimmigen, dünnen Strich. »Es ist wahr, ich habe dafür gesorgt, dass Riath und Kacey in Elkanasai einen Sieg über Eagle und Melecay erringen. Ich war dumm genug, Melecay zu unterschätzen und dumm genug, ein Wagnis einzugehen. Ich glaubte, ich würde uns damit einen Gefallen tun, und wollte Riath ausnutzen, meinem Sohn die Macht zu rauben, die er gegen mich verwenden wollte. Ich wollte Eagle und seine Familie – meine Schwiegertochter und meine Enkel! – hier her, in Sicherheit, bringen lassen. Gleichzeitig erhoffte ich mir, durch Kaceys wichtige Rolle in Elkanasai auch Riath eine neue Heimat zu bieten, um die Unruhen in Nohva verstummen zu lassen. Ohne anwesenden Prinzen, gibt es auch keinen Streit darüber, ob er an meiner statt die Krone tragen sollte.« Er hob die Hände angesichts der Niederlage und verzog bedauernd das Gesicht. »Mein Plan wurde von Melecay vereitelt und jetzt ist mein Sohn tot, statt sich auf dem Weg nach Nohva zu befinden, und Riath ist vor einer weiteren Nation auf der Flucht. Ob nun unser Prinz oder Melecay den Kaiser umgebracht hat, spielt keine Rolle, Elkanasai denkt es war Riath. Und ohne mein Einmischen, wäre Melecay nicht gezwungen gewesen, Eagle zu beseitigen.«
Er machte eine kurze Pause, eher er verkrampft einatmete und sich innerlich zusammenriss. Er konnte nicht leugnen, wie schwer ihn die Schuld traf. Er wäre wohl auch nicht mehr er, wäre es ihm gleich gewesen.
Dennoch konnte er es sich nicht erlauben, in Trauer zu versinken, er musste sich konzentrieren. »Melecay konnte nicht riskieren, dass ich Einfluss auf Elkanasai nehme, er verlor mit Eagles Absetzung seinen Verbündeten, also tötete er ihn, um es Riath – und Nohva – anzuhängen, und sich den Hass des Kaiserreichs – und natürlich Desiths Hass – zunutze zu machen. Ich habe ihn in die Enge getrieben, er hat einen Gegenschlag gemacht. Und er wird nachsetzen, bevor ich es kann.«
Sie senkten die Blicke und einige schürzten die Lippen, um nichts sagen zu müssen.
Hierraf zog mitleidvoll die Augenbrauen zusammen und beugte sich zu Wexmell. »Mein König, bei allem Respekt, Ihr habt nur getan, was Ihr für nötig hieltet. Der Tod des Kaisers ist nicht Eure Schuld!«
Wexmells eisblaue Augen erwiderten seinen Blick ungerührt. »Ich laufe nicht vor meiner eigenen Verantwortung davon, ich nehme meine Schuld an«, sagte er und drückte seinem General dankbar den Oberarm. »Ich habe Melecay unterschätzt.« Dann sah er in die Runde. »Ein Fehler, den wir uns kein zweites Mal erlauben können.«
Er bemerkte, wie sie irritiert aufsahen und sich stumme Fragen zuwarfen.
Wexmell lächelte düster. »Ich habe nicht vor, meine Krone kampflos dem Mörder meines Sohnes zu überlassen. Wenn er sie haben will, muss er schon mehr bieten. Auch, wenn der Großkönig mit einer Übermacht in Nohva einmarschiert und mir droht, mein Volk abzuschlachten, wenn ich nicht friedlich kapituliere, werde ich mich nicht beugen, macht euch darüber keine Gedanken. Denn ich kenne diesen Mann vermutlich besser als er sich selbst, und ich weiß sehr wohl, dass jedes Versprechen aus seinem Mund nur haltloses Geschwafel ist. Er wird niemanden verschonen, er wird jeden töten lassen, der mir ergeben war, einfach aus Prinzip, und er wird Nohva unterjochen, ob ich mich ergebe oder nicht, er wird uns ausnehmen wie eine Festagsgans.«
Seine Berater runzelten grübelnd die Stirne, Seaks rieb sich nachdenkliche das Kinn.
»Mein König«, begann er und lehnte sich nach vorne auf den Kartentisch. Er wirkte sichtlich verwundert. »Verzeiht, doch wir vermuteten, Euch in langen Sitzungen tagein und tagaus ins Herz reden zu müssen, um Euch davon zu überzeugen, zu kämpfen.«
Wexmell nahm es ihm nicht übel, ganz im Gegenteil, er musste sogar ein wenig lächeln. Sein Blick schweifte ab und glitt durch den Raum. So wie alles in dieser Festung, erinnerte auch die Halle des Kronrates ihn so sehr an Derius, dass es schmerzte. An diesem jungen Nachmittag jedoch spürte er die Hand seines Geliebten auf der Schulter – und im Herzen erfasste ihn die Wut über den Tod seines Sohnes.
»Ich habe mir geschworen, mich niemals von meiner Angst leiten zu lassen, ihr niemals Macht über mich zu geben.« Er schloss nun doch die Augen und spürte die Blicke aller auf sich, verständnisvoll und nachsichtig. Sie warteten geduldig, dass er weitersprach.
Dann fügte er rau hinzu: »Was ich spüre ist jedoch keine Angst, es ist Wut.« Er presste die Zähne aufeinander, als heißbrennender Zorn auf sich selbst und ebenso auf Melecay in ihm hochkochte. »Unbändige, alles einnehmende und ohnmächtige Wut.« Sie versenkte ihn innerlich und es fühlte sich seit erhalt der Nachricht so an, als ob er sich selbst verlieren würde, doch ihm blieb keine Wahl. Nohva konnte sich den Luxus nicht leisten, dass der König er selbst blieb. Es stand kurz davor, erneut gestohlen zu werden.
»Er tötete Euren Sohn und er sorgte dafür, dass Eurer anderer Sohn zum Gejagten wurde«, sagte Sigha bedauernd. »Wir fühlen Eure Wut, mein König. Sie ist auch die unsere.«
Er liebte sie für diese Worte. Und die anderen, weil sie nickten.
Wexmell wandte das Gesicht zu ihnen um und besah seinen Kronrat.
»Melecay denkt, er könnte mit uns spielen, aber er hat etwas vergessen.« Er spürte eine unergründlich tiefe Entschlossenheit in seinem Herzen, als er die Hoffnung der anderen bemerkte, die allein auf seiner Entscheidung lag. »Ich bin vielleicht kein skrupelloser Heerführer, aber ich bin ein hervorragender Politiker und Spieler. Wenn er denkt, er könnte Derius´ Heimat haben, dann muss er erst an uns allen vorbei!«
Er spürte, wie sich die Laune und der Mut im Raum hob, düstere Überlegungen wichen einem prickelnden Hochgefühl, das sogar das winterlich graue Tageslicht, das von draußen auf den Tisch fiel, wärmer erscheinen ließ.
»Ich gestehe, ich frage mich, seit ich von Eagles Tod erfahren habe, was das Richtige für uns wäre, wälze mich seit Nächten umher und spielte mit dem Gedanken, nach Elkanasai zu reisen, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen…«
»Es wäre eine Falle«, warf Gretchen besorgt ein. »Wenn Ihr müsst, dann reisen mindestens drei von uns mit Euch – zuzüglich unserer Armeen!«
Er musste wieder lächeln über so viel unerwartete Unterstützung, denn auch alle anderen nickten, als wäre es bereits beschlossene Sache.
Nur Sehared schüttelte entschieden den Kopf und erlaubte sich einen liebevollen Befehl: »Ihr bleibt hier in Nohva, mein König, Desiderius würde uns im Schlaf heimsuchen, würden wir Euch in eine Falle laufen lassen! Nein, wir lassen den Verräter kommen – und zeigen ihm, was Nohva zu bieten hat! Wenn er denkt, wir wären so leicht einzunehmen und zu hintergehen wie die Spitzohren, wird er ein wahres Wunder an Loyalität und Rechtschaffenheit erleben, dass ihm Hören und Sehen vergehen! Wir fürchten keine Barbaren, wir haben Dämonen besiegt!«
Der Lord vom Toten Wald mochte sein Herz und sein Land dem Hexenprinzen verschrieben haben, jedoch galt seine Treue vor allem dessen toten Vater – und der Heimat.
Wexmell sah wieder zur Seite und starrte in die Flammen des Kamins, der hinter Hierraf auftürmte wie ein Haus. »Ich fragte mich in den letzten Stunden, wie ich die Pflicht mit meinem Gewissen vereinen kann. Ich weiß es nicht und ich wusste es nie«, gestand er ein und schmunzelte bedauernd über sich selbst. »Meine Ansichten über Krieg und Waffengewalt ist allgemein bekannt, ich halte nichts vom Töten, auch nicht von Hinrichtungen, selbst wenn es sich um Verräter handelt. Ich betrauere jeden, der durch meine Hand starb.« Er seufzte matt und sah die Personen am Tisch wieder an. »Aber ich weiß sehr wohl, dass ich bei Melecay durch sanfte Reden und Diplomatie nicht weiterkomme. Dass ich es mit einem Feind zu tun habe, der entschlossen ist, zu bekommen, was er will. Und bereit ist, einen Preis zu zahlen, von dem er genau weiß, dass ich ihn nicht bezahlen will. Den Blutpreis, den unsere Völker geben werden.«
Sie schwiegen, denn sie wussten selbst, dass Wexmell recht hatte.
»Ich denke, Kriege kann man unter Umständen aus zwei Winkeln betrachten«, lenkte er dann ein, vor allem um sein eigenes Gewissen zu beruhigen. »Es ist nämlich eine Sache, in ein Land einzufallen und seinen Kriegern zu befehlen, unschuldige Bauern zu töten und ihre Dörfer abzubrennen, um eine wertlose Krone an sich zu reißen, und eine ganz andere Sache, sich Invasoren im eigenen Land entgegenzustellen, die gekommen sind, um zu morden.«
Seaks nickte bedächtig. »Das sind wohl wahre Worte, mein König.« Er war natürlich dankbar über Wexmells Einsicht, denn er und seine Stadt Dargard gehörten zu den ersten Mauern, die fallen würden, wenn ihm niemand half, die Invasion der Barbaren schon an der Küste und in den Hügeln zu schwächen.
»Ich denke dennoch, dass Morden, um Morden zu verhindern, nicht die beste Wahl ist. Ich habe das immer anders gesehen«, warf Wexmell ein und erntete nervöse und besorgte Blicke. »Aber was bleibt mir für eine andere Wahl?«
Sehared starrte den Tisch an, als er vorschlug: »Ihr könntet Riath die Krone überlassen.«
Wexmells Augen wanderten zu ihm und er entgegnete: »Wenn Riath auf Nohvas Thron säße, hätten die Elkanasai erst recht einen Grund, sich Melecay anzuschließen. Er wird sie nutzen, um sie auf den angeblichen Mörder ihres Kaisers zu hetzen. Ob sie Eagle treu ergeben waren oder nicht spielt keine Rolle mehr, Riaths angeblicher Anschlag war eine Kriegserklärung an das Reich; von Nohva an Elkanasai. Und was glaubt ihr, wie die Elkanasai über unsere Völker herfallen werden, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommen? Nein, es geht nicht nur um Personen, jetzt ist der Stolz des Reiches verletzt, und sie werden Rache wollen!«
Gretchen legte die Stirn in Falten und lehnte sich auf den Tisch, den Weinkelch in beiden, zierlichen Händen. »Das heißt, die Spitzohren kommen, weil es etwas Persönliches ist. Aber habt Ihr nicht noch einen Einfluss auf das Kaiserreich?«
Wexmell senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Gewiss habe ich ihn laut Gesetz, doch das Gesetz wurde von Melecay bereits untergraben. Unser einziger Vorteil ist, dass er einige Zeit brauchen wird, um über die Hauptstadt des Reichs hinaus auch andere Städte zu infiltrieren. Doch unsere Spione berichteten bereits von Barbaren, die hochrangige Politiker und Statthalter einem nach dem anderen abschlachten. Melecay sucht keine Verbündeten, die ich kontaktieren und von meiner Macht überzeugen könnte, er tötet jeden, der etwas Macht besitzt, schüchtert die Truppen ein oder schürt ihren Hass auf Riath, spielt sich als Retter auf und nutzt natürlich den Hass auf Magie, um seine Position zu stärken. Er … hat das alles von langer Hand geplant. Als Eagle noch lebte, hat er das Land bereits mit seinen Truppen nach und nach besetzt. Ohne den Rat, habe ich keinen Einfluss auf das Volk von Elkanasai, aber der Rat befindet sich in Melecays Gewalt und wird bewacht. Mir sind die Hände gebunden, es sei denn…«
»Wir greifen die Stadt an und befreien sie«, vollendete Hierraf Wexmells Rede.
Wexmell nickte schwermütig. »Wir müssten in den nächsten Wochen all unsere Truppen mobil machen und versuchen, die Stadt zu befreien, eher Melecay noch mehr an Macht in Elkanasai gewinnt. Aber…« Er lachte humorlos auf und spürte, wie die Last der Entscheidungen ihn zu Boden rang, »…es wäre die Art von Manöver, die ich Derius ausgeredet hätte, um die unschuldigen Leben innerhalb der Hauptstadt Elkanasais zu schützen. Es wäre ein Blutbad, auch auf unserer Seite.«
Es blieb einen Moment – einen sehr langen Moment – sehr still am Kartentisch. Wexmell starrte auf eine Landzunge, ohne etwas zu sehen, während seine Ratgeber stumme Blicke austauschten.
»Als Diplomat«, begann Hierraf vorsichtig, »kann man sich eine gewisse Ideologie gewiss erhalten.« Er wartete, bis Wexmell ihn ansah. »Niemand hat behauptet, es wäre leicht, Entscheidungen zu fällen. Als König ist man jedoch genau dazu da. Man trägt die Bürde eines Landes – und auch sein Gewissen. Doch am Ende zählt nicht nur das, was man opfert, sondern das, was man dadurch retten konnte.«
»Wir brauchen einen konkreten Plan, König Wexmell!«, sagte Sehared drängend. »Verteidigung oder Angriff? Unsere Ressourcen reichen nicht für beides.«
Wexmell starrte auf die Karte, die sein Land zeigte, erinnerte sich daran, wie er bei seiner letzten Flucht beinahe durch jeden Fleck seiner Heimat getrieben worden war. Er durfte Nohva nicht noch einmal verlieren. Das… durfte einfach nicht passieren.
Er fragte sich nicht, was Derius getan hätte, denn das wusste er. Aber Wexmell war nicht Derius und so sehr er ihn auch geliebt und geschätzt hatte, er wollte nicht wie er handeln, nicht wie er sein. Wexmell musste er selbst bleiben und seinen eigenen Weg finden, seine eigenen Schlachten schlagen. Er war nie nur ein Doppelgänger gewesen und wollte es auch nicht sein.
Doch die Zeiten, da er sich Ideale hätte leisten könnten, schienen sich dem Ende zuzuneigen. Allerdings hatte er sich noch nie selbst verraten.
»Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, dass wir Melecays Pläne unter allen Umständen so schnell wie möglich durchkreuzen müssen«, sagte er in die Runde. »Ihr seid meine Berater, ich möchte eure Meinungen dazu hören, aber am Ende bleibt mir die Entscheidung überlassen. Und ich denke, wenn wir Melecay noch ein klein wenig Zeit geben, werden unsere Spione uns etwas zutragen, das uns hilft, seine Macht ohne große Verluste zu schwächen. Nicht jeder Sieg muss mit einem Kampf errungen werden, nicht Krieg muss durch Schlachten geführt werden. Melecay hat gewiss die ein oder andere Schwachstelle, und ich will von euch noch mehr Späher und Meuchler und alles, was ihr an Schleichern aufbringen könnt, um herauszufinden, wo und wie wir ihn treffen können!«
Seine Antwort machte vor allem Sehared nicht glücklich, er presste die Lippen zusammen. »Ihr sprecht von abwarten.«
»Manchmal ist die stärkste Waffe, die man besitzt, die Geduld.« Wexmell ließ sich nicht von dem enttäuschten Blick des Lords ins Wanken bringen. »Ich warte nicht einfach ab, Lord Sehared, doch um Melecay zu durchschauen, müssen wir ihm ins Kartendeck schauen, bevor er in unseres schaut.«
Wexmell spürte, dass die Unruhen in Elkanasai noch nicht vorbei waren. Etwas lag dort noch verborgen, das sich ihm offenbaren wollte.
»Vertrauen wir unseren Spionen, schickt mehr ins Kaiserreich, und gebt ihnen noch ein paar Tage Zeit«, beschloss er, »bis dahin möchte ich, dass so viele Dörfer evakuiert und hinter dicke Mauern gebracht werden, wie möglich. Vor allem jene, die den Barbaren in die Quere kommen könnten. Wir schicken keine Bauern vor, uns zu beschützen, wir rufen sie hinter Mauern und graben Gräben, um uns alle zu schützen!« Er wandte den Kopf geschäftig zur linken Tischseite. »Seaks und Gretchen reisen an die Violette Küste und sehen zu, ob sie die Verteidigung am Hafen verstärken können, Sigha und das Oberhaupt der Kirche, Aquila, ziehen durch die Fruchtbaren Hügel und warnen den Adel dort, bringt die Leute in die Burgen und organisiert ein friedliches Zusammenrücken. In der Zwischenzeit untersuchen die Hexen Xaiths Warnung. Lord Sehared, ich erwarte von Euch und Riaths Magiebegabten, dass sie ihre Unterstützung anbieten.« Er erhob sich und schob dabei den Stuhl weit zurück. »Denn das Letzte, was wir jetzt gebrauchen könnten, wäre eine unbekannte, magische Bedrohung. Ich möchte, dass alles Wissen über den Schleier umgehend in die Hohe Festung gebracht wird, damit die Hexen es studieren können.«
Sie nickten und wagten keinen Widerspruch. Vielleicht waren sie auch froh, Aufgaben nachgehen zu können. Aber er war sich sicher, dass Sehareds Riath bald eine Nachricht zukommen lassen würde, in der jedes Wort dieser Besprechung wiedergegeben wurde.
»Wenn wir nach einem halben Mondzyklus noch nichts Neues wissen, erwartet meine Entscheidung.« Wexmell klopfte auf die Tischkante und beendete das Treffen. »Und jetzt entschuldigt mich, ich muss noch eine äußerst ausgefeilte Zeile an Melecay schreiben, in die ich die wohlüberlegten Worte: ›Ich weiß, dass du lügt, du Scheißkerl‹, einsetzen werde.«
Sie mussten tatsächlich schmunzeln. Gretchen prostete ihm mit dem Weinkelch zu. Und Wexmell konnte sich endlich mit einer spöttischen Verneigung verabschieden, die erneut zu Erheiterung am Tisch führte.
Er war des Redens so müde, doch zum ersten Mal seit Jahren verließ er diesen Raum mit einem guten Gefühl, zumindest was den Zusammenhalt seines Königreiches anging. Selbst Melecays Versuch, sie zu spalten, hatte sie nicht auseinanderreißen können.
Angesichts einer Bedrohung von außen, würde Nohva immer eine Einhalt bilden, daran wollte und musste Wexmell glauben. Denn es war im Moment alles, was ihnen an Überlegenheit geblieben war.