Читать книгу Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel - Страница 15
Es gibt Nachwuchs: eine kleine Schwester
ОглавлениеIm Kriegswinter 1944 versinkt Eichenwalde in tiefem Schnee, klirrende Kälte dringt durch Fenster und Türritzen. Alles ist lautlos und wattig. Wir Kinder sind begeistert, toben im Schnee bis Handschuhe und Stiefel steif gefroren und die Nasen knallrot sind. Von Ferne hört man hin und wieder Schüsse und danach das Kläffen der Hunde. Sonst liegt Totenstille über der Gegend. Das letzte Weihnachten in der Heimat steht bevor. Eichenwalde ist nicht unser zu Hause. Mutter wartet ungeduldig auf die Möglichkeit, wieder in eigene vier Wände zurückzukehren. Tante Inge und Mutti sprechen kaum mehr miteinander. Ich schäme mich für Mutti, sie ist so dick geworden in letzter Zeit und Tante Inge so schlank. „Sie bekommt doch ein Baby“, flüstert Arne in mein Ohr. Der dicke Bauch wurde damals im Gegensatz zu heute, so gut es geht, versteckt. Heute sind die jungen Mamis stolz, ein Baby zu bekommen und alle Welt soll das deutlich sehen. Ich will nicht, dass Mutter ein neues Baby bekommt, mir reichen meine Brüder. Ich will lieber eine schicke
Mutter und eine Puppe zu Weihnachten. Man fragt sich, wie die Frauen im Krieg alle immer wieder schwanger wurden. Die Männer sind im Krieg, die zurückgebliebenen in der Regel nur alte Greise, hohe Offiziere oder Männer in kriegswichtigen Betrieben. Die Offiziere in Eichenwalde waren für Tante Inge reserviert. Kriegswichtige Betriebe gab es weit und breit nicht. Kam also nur Vater und seine Urlaube vom Krieg infrage, den Grundstein für ein neues, viertes Kind gelegt zu haben. Im
Herbst besucht uns Bestemor, sie macht ihrer Tochter Vorwürfe: „Wie kannst du in solchen Zeiten noch Kinder in die Welt setzen? Kann denn dein idiotischer Mann nicht aufpassen?“
Mutter war dann immer beleidigt: „In solchen Zeiten ist einem alles egal und außerdem sind Kinder ein Reichtum.“ Ich kann mir heute gut vorstellen, dass meine Eltern sich verzweifelt geliebt haben im Angesicht des allgemeinen Untergangs, dass es ihnen völlig egal war, was später ist. Jetzt und hier lieben sie sich. Und jetzt und hier nehmen sie Abschied. Vielleicht für immer. Was kümmern uns jetzt die Folgen. Na ja, die Folge war unsere kleine Schwester. Hineingeboren in das Inferno einer untergehenden Welt. Aber auch in dieser Welt hält man sich an Rituale. Dazu gehört auch Weihnachten.
Bestemor mit uns auf der Treppe zum Gutshaus