Читать книгу Am Anfang war die Dunkelheit - Björn Täufling - Страница 11
neun.
Оглавлениеneun.
Lucy war es leid, zuhause zu sitzen. Sie nervte mich und Anna damit, dass sie unbedingt die Blockade sehen wolle. Obwohl es mir nicht gefiel, gab ich schließlich klein bei, und ging mit ihr zu der Straßensperre, die man tags zuvor aufgestellt hatte. Neben dem Sprinter stand jetzt noch ein Traktor, und auch der Alte und der Jugendliche waren nicht mehr allein. Scheinbar im Schichtdienst bewachte nun eine ganze Gruppe Mundschutz tragender Dorfbewohner mit Knüppeln, Schaufeln, uralten Gewehren oder auch mit einer Zaunlatte bewaffnet die Hauptstraße und schickte Dutzende Autos, die durch unser Dorf fahren wollten, wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Fußgängern und Radfahrern verwehrten sie den Durchgang. Auf Diskussionen ließen sich die Dorfbewohner nicht ein und so blieb den von auswärts Kommenden nichts anderes übrig als umzukehren. Zumindest die meisten von ihnen taten das.
Mir war nicht wohl dabei, rumzustehen und zuzusehen wie Leute, die Hilfe suchten oder einfach nur an einen anderen Ort wollten, wieder weggeschickt wurden, und dann einen kilometerweiten Umweg durch die Wälder machen mussten. Es gefiel mir nicht. Wie sich diese kleinen Bauern aufspielten und wichtigtuerisch mit ihren alten Flinten rumfuchtelten. Nachdem Lucy die Blockade gesehen und alles in Augenschein genommen hatte, war sie zufrieden und zog mich am Ärmel in Richtung Ortskern. Sie wollte zur Eisdiele.
»Lucy, ich bin sicher, die Eisdiele ist geschlossen.«
»Aber vielleicht ja doch nicht, Papa! Dann können die ja gar kein Eis verkaufen und dann verdienen die ja auch nichts, weißt du?«
»Na gut … Dann lass uns mal gucken gehen.«
Der Gemüsehändler, die Fahrschule, das kleine Tattoo-Studio und ihm gegenüber das Lotto-Toto-Geschäft und auch die Boutique für Damenmode in Übergrößen mit den hässlichen Kleidern im Schaufenster – alle hatten bis auf Weiteres geschlossen. Auch die Eisdiele. Lucy war nicht gerade begeistert. Ich hob sie hoch, damit sie durch die Scheibe ins Eiscafé Venezia hineinschauen und sich vergewissern konnte, dass Angelo, der Inhaber der Eisdiele, tatsächlich nicht da war. Die Stühle lagen ordentlich mit den Beinen nach oben auf den Tischen und durch die einfallende Sonne glitzerten die leeren Metallbehälter, die aneinandergereiht in der Auslage standen.
Traurig und wütend blickte mich Lucy an, nachdem sie festgestellt hatte, dass es für sie heute definitiv kein Eis geben würde.
»Vielleicht nächste Woche, Schatz«, versuchte ich sie zu trösten.
»Ich will aber ein Eis! Jetzt!«
»Ich möchte auch gerne eins. Aber du siehst ja: Da drin ist niemand. Die Eisdiele ist geschlossen.«
Auf dem Weg nach Hause gingen wir wieder die Hauptstraße entlang. Im Dorf bot sich einem immer mehr ein schockierendes Bild. Es lag von Tag zu Tag mehr Müll auf den Straßen. Und da weder die Hundekotbeutelspender aufgefüllt wurden, noch die Toiletten in den Häusern funktionierten, lagen auf der Straße und vor den Hecken immer mehr Exkremente von Mensch und Tier. Die meisten Leute trugen ihre Eimer voll Scheiße aus dem Haus und kippten sie dann in den Rinnstein in der Hoffnung, dass der nächste Regen es wegspülen würde – aber es regnete nicht. Bei vielen Autos waren die Scheiben eingeschlagen und die Außenspiegel abgetreten worden.
»Sieh mal, Papa!«
Lucy deutete auf die Straßensperre, nein, sie deutete in die Richtung der Straßensperre, sie zeigte auf eine Person, die uns entgegenlief. Beim genaueren Hinsehen sah ich, dass es eine Frau war, die ein Kind auf dem Arm trug. Es schrie. Hinter ihr in einigem Abstand liefen die Männer und Frauen, die die Straßensperre bewacht hatten, sie verfolgten und beschimpften sie.
»Bleiben Sie stehen. Ich warne Sie zum letzten Mal«, rief eine Stimme.
»Gehen Sie! Verschwinden Sie!«, rief eine andere. Riefen viele andere.
Der Alte, der auch am Tag zuvor auf dem Transporterdach gestanden hatte, stand dort noch immer, ich sah, dass er das Gewehr hob. Ein Schuss zerriss plötzlich die Rufe der Leute. Die Frau drehte sich ängstlich um, sie presste ihr Kind fester an sich und lief, lief schneller geradewegs auf uns zu.
»Papa, was ist mit der Frau?«
»Ich weiß nicht, Lucy.«
»Ist sie verstrahlt? Warum sagen die, sie soll weggehen?«
»Ich weiß es nicht, Schatz.«
Ein Stein schlug wenige Meter neben der Frau auf den Asphalt. Dann ein Zweiter, ein Dritter. Die Frau war keine zwanzig Meter mehr von uns entfernt und noch immer schlugen die Geschosse um sie ein. Ich packte Lucy am Arm und zerrte sie in den überdachten, schützenden Eingang der Fahrschule. Die Frau kam direkt auf uns zu. Sie war verschwitzt, ihre Kleidung sah aus, als trage sie sie schon seit Wochen. Hilfe suchend streckte sie einen Arm in unsere Richtung. Sie sah mich an mit ihren großen Augen, in denen Verzweiflung, aber auch Entschlossenheit und etwas Unerbittliches lagen. Die Kleine auf ihrem Arm, sie war noch keine Zwei, blickte mit ihren verweinten Augen auf Lucy. Fünf Meter vor mir blieb die Frau plötzlich mitten auf der Straße stehen.
»Bitte«, sagte sie, krächzte sie, denn ihr Hals war zu trocken zum Sprechen. »Bitte«, sagte sie noch einmal, »meine Tochter«.
Sie sah mir fest in die Augen, dann riss sie etwas mit einem dumpfen Schlag nieder.
Lucy schrie neben mir. Die Frau fiel lautlos um und begrub das weinende Kind unter sich. Ich blickte auf den faustgroßen, schwarzen Stein, der auf der Straße direkt am Rand des vor kurzem erst installierten Blindenleitsystems des Gehwegs lag. Ich sah wieder zu der Frau. Sie bewegte sich. Erst ein Arm, dann kurz darauf bewegte sich auch der andere. Sie zuckte. Ihre Beine bewegten sich, ja, sie tanzten wild auf dem Boden und das Kind schrie dazu. Es schrie lauter, doch der Tanz endete nicht, die Frau lag auf dem Boden und bewegte ihre Glieder, es sah aus, als wolle jemand ihren Körper an unsichtbaren Fäden hochziehen. Dann rissen die Fäden, denn noch immer fielen Steine, sie schlugen auf die zuckenden Arme und Beine und auf den Rücken und hinterließen rote, sich ausbreitende Flecken unter der Kleidung. Dann hörte alles auf. Die Glieder der Frau tanzten nicht mehr und das Kind schrie nicht mehr und die Steine regneten nicht mehr. Ich ging die Stufe des Hauseingangs hinunter, ging hin zu der Frau.
»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, rief jemand.
Und ich dachte: Scheiß auf dich!
»Bleiben Sie stehen! Sofort! Rühren Sie sie bloß nicht an!«
Und ich sehe mich noch heute auf ihn springen. Und ich sehe den großen, schwarzen Stein in meiner Hand und dann, wie ich ihm damit den Schädel einschlage. Und dann sehe ich Lucy. Und Anna. Und dann bleibe ich stehen.
»Seid ihr wahnsinnig?«, hörte ich mich rufen. Ich war außer mir vor Wut »Sie hat ein Kind bei sich.«
»Sie ist verstrahlt. Sie sollte stehen bleiben, aber sie hat nicht gehört. Wir haben’s ihr höflich gesagt«, sagte eine der Stimmen.
»Ja, sie ist einfach immer weiter geradeaus gegangen«, eine andere.
»Sie hätte stehen bleiben sollen«, hörte ich jemanden sagen.
»Wir mussten sie doch aufhalten«, flüsterte eine ältere Frau.
»Aber das ist doch Unsinn!«, schrie ich.
»Das ist kein Unsinn! Und rühren Sie sie nicht an! Und auch das Kind nicht! Gehen Sie, hören Sie. Gehen Sie!«
»Aber sie braucht Hilfe«, sagte ich.
»Papa …«, Lucy zog mich am Ärmel. Sie sah mich verängstigt an und weinte.
»Sie ist tot. Und die Kleine auch«, meinte einer.
»Hilfe hätte auch vorher schon bei denen nichts mehr genützt«, sagte einer der Jugendlichen.
»Genau, die waren doch durch die Strahlung eh schon so gut wie tot, als sie noch lebendig waren«, ein anderer.
Ich schnappte ihn mir, packte ihn am Hals und presste ihn gegen einen Audi, der vor der Fahrschule stand. Ich drückte feste zu und er starrte mich an. Eine Hand packte mich an der Schulter.
»Lass ihn gehen, Jakob! Das bringt nichts. Wir können nichts mehr für sie tun.«
Hinter mir stand Georg Schubbert. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sehr lange. Er war mein Deutsch-, Geschichte- und Erdkundelehrer in der Oberstufe gewesen und später Rektor des Gymnasiums in der Stadt, auf dem ich vor über zwanzig Jahren mein Abitur gemacht hatte.
»Schubbert! Ich … meinst du wirklich?«
Das Du hatte er uns nachts um zwei auf der Abifahrt am Gardasee angeboten.
»Ja, das meine ich. Und für das Kind können wir auch nichts mehr tun.«
»Genau, und wenn Sie sie berühren oder sich ihr nähern, sind Sie genauso verstrahlt. Und dann können Sie sich denken, was das bedeutet. Dann heißt es Koffer packen. Man wird sie wegjagen. Überlegen Sie sich das gut. Denken Sie an Ihre Tochter. Gehen Sie jetzt, bringen Sie sie heim«, rief eine Stimme von hinten.
»Keine Sorge, ich bringe die beiden heim. Und ihr – ihr geht jetzt auch besser!«, sagte Schubbert streng und sah in die Runde. Sie sahen ihn böse an, dann aber entfernten sie sich.
Schubbert. Wie lange hatte ich den nicht mehr gesehen? Ein Jahr? Oder waren es zwei? Er hatte einen kleinen Hund an der Leine, irgendeine Promenadenmischung. Der Hund schnupperte an meinem Hosenbein, dann an Lucys und ließ sich von ihr kraulen. Nach ein paar Sekunden drehte er sich desinteressiert weg, um einem Hundehaufen im Straßengraben seine Aufmerksamkeit zu schenken. Schubbert zog ihn an der Leine zurück.
Er war ein Mensch, der von Natur aus Autorität ausstrahlte und der es geschafft hatte, allein durch seine Anwesenheit Ruhe in unsere Klasse zu bringen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals geschrien hat. Waren wir zu laut, verstummte er sofort und sah, ohne eine Miene zu verziehen, diejenigen nur an, die seinen Unterricht störten. Seine Benotung war streng, jedoch immer gerecht gewesen – er hatte tatsächlich versucht, uns etwas beizubringen und war so ziemlich der einzige Lehrer gewesen, vor dem wir alle Respekt hatten. Wahrscheinlich, weil er uns ernst genommen hatte und mit jedem auf eine andere Weise reden konnte. Er schien von Homer bis zum neuesten Beststeller alles gelesen und alle Kontinente bereist zu haben. Schubbert hatte nie jemanden bevorzugt und stets jedem eine Chance gegeben. Trotz mancher Strenge war er ein gütiger Lehrer gewesen. Einer, der auch mal beide Augen zudrücken konnte.
Der Mann hatte in den zwanzig Jahren nichts von seiner Ausstrahlung verloren. Der Blick seiner blauen Augen, in die sich die Mädchen damals in meiner Klasse verliebt hatten, und die Inhalt vieler kleiner Zettel gewesen waren, die durch die Reihen gingen, war milder geworden, die Stirn höher. Er ging auch etwas gebeugter, sein Bauch war runder und der Bart struppiger geworden, ansonsten aber hatte er sich kaum verändert. Er war fast zwei Meter groß und wog gut und gerne hundert Kilo. Zu meiner Schulzeit trug er meist Jeans, ein sandfarbenes oder braunes Cord-Jackett und im Winter schwarze Rollkragenpullover, im Sommer schwarze T-Shirts darunter. Seine lockigen Haare waren mittlerweile grau und wucherten noch genauso wild wie damals. Auch der schwere, goldene Siegelring mit dem eckigen S darauf steckte noch immer am kleinen Finger seiner linken Hand. Nach der Schulzeit hatten wir uns gegrüßt, wenn wir uns beim Einkaufen oder auf dem Weihnachtsmarkt gesehen hatten und ein bisschen miteinander geredet, was macht der und der, wie geht’s der Familie, schon gehört, dass soundso und das war’s dann aber auch. Es geschah selten. Jeder lebte sein Leben und war aber dennoch stiller Beobachter des Lebens, das der andere lebte.
Ich nahm Lucy an der Hand und wir gingen wortlos nach Hause, ohne uns noch einmal umzudrehen. Schubbert verabschiedete sich von uns vor der Haustür und versprach, in den nächsten Tagen mal bei uns vorbeizukommen.
Am darauffolgenden Tag lagen die Frau und das Kind noch immer auf der Straße. Am Tag darauf waren sie verschwunden. Einen Tag später war es auch die Blockade.