Читать книгу Am Anfang war die Dunkelheit - Björn Täufling - Страница 14
zwölf.
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Es kam zu den ersten drastischen Unstimmigkeiten unter der Bevölkerung, und zwar, weil einige noch über etwas Strom verfügten. Sie hatten einen funktionierenden benzin- oder batteriebetriebenen Generator oder eine gut ausgebaute Solaranlage, die ihnen zumindest einen Teil ihres Grundbedürfnisses an Elektrizität sicherte. Wer in Besitz einer solchen Anlage war, konnte sich glücklich schätzen – am besten aber, ohne dass es jemand von den Nachbarn bemerkte, denn man hatte schließlich den letzten, wenn auch eingeschränkten Zugang zu den Vorzügen der zivilisatorischen Hilfsmittel in seinem Haus, ohne den niemand weder gewohnt noch gewillt war auszukommen, geschweige denn seinen Alltag hätte bestreiten können. Aber in einem kleinen Dorf kennt jeder jeden und keine noch so kleine, verstaubte Kiste auf dem Dachboden bleibt dort vor dem Auge des Nachbarn verborgen – und schon gar keine Solaranlage auf dem Dach. So kam es, dass vor den Häusern derer, die über Anlagen verfügten, die noch Strom erzeugten, sich schon gleich am Montag nach dem Ausfall Trauben von Menschen mit Kochtöpfen gebildet hatten. Natürlich waren sie auch gekommen, um Neuigkeiten aus dem Radio zu hören oder um Fernsehen zu schauen. Doch kaum angekommen, mussten sie erfahren, dass im Radio nur ein Rauschen zu vernehmen war und sich keine Internetverbindung mehr aufbauen ließ.
Nach wenigen Tagen weigerten sich schließlich die Besitzer von den Generatoren aufgrund des ihnen immer rarer werdenden Kraftstoffs, der immer schwächer werdenden Batterien oder aufgrund des andauernd bewölkten Himmels, den anderen kostenfrei ihr Essen zu erwärmen oder Wasser zu kochen. Auch die Solarzellenenergie, mit der einige Häuser ausgestattet waren, gab nicht soviel her, als das es für alle gereicht hätte. Von Tag zu Tag verlangten die, die noch etwas Strom hatten, höhere Summen dafür. Nach einer Woche kostete eine Tasse heißer Instantkaffee achtzig Euro, heißer Bohnenkaffee sogar hundertzwanzig. Leisten konnte sich das natürlich niemand, denn viel Bares hatte ja keiner mehr in der Tasche.
»Es wäre besser, wenn niemand mehr Strom hätte, dann wäre auch niemand bevorzugt«, murrten einige und versuchten sich Zutritt zu den Häusern der Leute zu verschaffen, die noch über ein bisschen Strom verfügten und dreist Unsummen für Kaffee und Gemüsesuppe verlangten, denn sie wollten die Generatoren und Solaranlagen zerstören. Andere wiederum plünderten nachts heimlich die Gärten und Keller derer, die Obst und Gemüse anbauten, oder versuchten, Viehbesitzer zum Wohle der Allgemeinheit dazu zu überreden, die eine oder andere Kuh oder wenigstens ein Schwein oder ein Schaf zu schlachten. Auch bei uns waren sie gewesen. Sie hatten in unserem Garten alles, was genießbar war oder noch werden sollte, ausgegraben. So kam es, dass wir kaum Äpfel hatten, auch die Pflaumen und Walnüsse hatten sie von den Bäumen gestohlen und die ganzen Beete aus- und umgegraben. Anna war stinksauer gewesen und Lucy hatte geweint deswegen.
Die Besitzer der Generatoren und Solaranlagen, Rinder, Hühner, Schweine, Kaninchen, Enten und Lämmer, die, deren Keller mit Kartoffeln, Zwiebeln, Äpfeln und Eingemachtem voll waren, verbarrikadierten aufgrund der immer dreister werdenden Diebstähle ihre Häuser und Ställe und gaben – sofern sie über Waffen verfügten – Warnschüsse ab, wenn jemand versuchte, auf ihr Grundstück zu gelangen.
So war in meinem idyllischen und meist auch stinklangweiligen Dörfchen innerhalb von wenigen Tagen ein kleiner, aber für die Bewohner nicht unbedeutender Bürgerkrieg entbrannt und niemand traute mehr dem anderen. Es geschah zweimal, dass Väter versehentlich die Freunde ihrer minderjährigen Töchter anschossen, einmal in die Schulter, das andere Mal in den Hintern, wie mir Lotsch erzählte, da sie sie abends im Dunkeln auf ihrem Grundstück erblickten und von Weitem nicht erkannten.
Nach und nach weigerten sich schließlich alle Generatorenbesitzer der Allgemeinheit ihr Gerät zur Verfügung zu stellen, was von den anderen mit der Drohung beantwortet wurde, ihnen die Häuser anzuzünden. Um die lauernde Gefahr von sich abzuwenden, die von den ebenso neidischen wie stromlosen Nachbarn ausging, stellten die Generatorenbesitzer ihre Geräte, für die sie nach einigen Tagen sowieso kein Benzin mehr hatten, vor die Tür und zerschlugen sie demonstrativ. Nun gab es also nur noch Solartechnik im Ort. Welchen Fortschritt hätte dies zu einer anderen Zeit, eigentlich nur zwei Wochen zuvor bedeutet! Der Bürgermeister wäre dafür gefeiert worden und die Medien hätten im großen Stil über das Dorf berichtet: Das erste Dorf in Deutschland, in dem es nur noch Solartechnik gibt! Aber der Bürgermeister war eine Woche vor Beginn der Katastrophe in den Urlaub irgendwohin in den Süden geflogen und niemand hat ihn je mehr zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich war es das Beste für ihn, irgendwo weit weg zu sein. Er hätte sich zum einen hoffnungslos geschämt für seine Mitbürger und zum anderen wäre er auch heillos überfordert gewesen mit der Situation. So wie wir alle.
Insgesamt gab es drei Häuser im Dorf mit Solaranlagen, die ihre Bewohner vollständig selbst versorgen konnten – zumindest weiß ich nur von Dreien. Eine der Anlagen war von Jugendlichen aus Langeweile oder Neid mit Steinen so sehr beschädigt worden, dass sie unbrauchbar war. Die Zweite war aus Angst oder Solidarität von ihren Besitzern abmontiert worden, keiner wusste weshalb, sie stand von einem Tag zum nächsten vor Zaun und Garagentor. Und die Dritte gehörte der Familie Gehrling und deren Geschichte ist eine Geschichte für sich.
Gehrlings Anlage war die größte Anlage im Dorf und sie war noch immer in Betrieb. Gehrling war erst vor zwei Jahren mit seiner Familie ins Dorf gezogen, erzählte mir Stefan mal. Ich kannte diesen Gehrling nur vom Hörensagen, gesehen habe ich ihn nie, aber gehört hab ich über ihn so einiges. Er hatte ein altes Bauernhaus etwas außerhalb des Dorfes gekauft und war mit seiner Familie dort eingezogen, nachdem sie es sich nach ihren Wünschen hatten umbauen lassen. Gerling, Stefan hieß er wie mein Nachbar mit Vornamen, war Softwareentwickler. Noch keine vierzig und hatte es in seinem Leben beruflich wohl schon sehr weit gebracht, ja, er hatte mit seiner Firma und der Entwicklung von Shopping-Apps so viel verdient, dass er eigentlich gar nicht mehr hätte arbeiten brauchen. Man erzählte mir, er sei ein Genie auf seinem Gebiet, privat jedoch ein ziemlich arroganter Kotzbrocken. Nun besaß der also eine riesige Solaranlage, die das Dach des großen alten Bauernhauses beinah ganz bedeckte und ihn nahezu unabhängig vom örtlichen Stromnetz machte. Als er zum ersten Mal in das Dorf gekommen war und die alten, zum größten Teil noch überirdisch angebrachten Leitungen gesehen hatte, die zu dem Bauernhaus führten, hatte er es vorgezogen, gar nicht erst an das örtliche Netz angeschlossen zu werden, sondern eine eigene Anlage auf dem Dach seines Hauses errichten zu lassen. Vielleicht wäre es anders für ihn gekommen, wenn er sich besser integriert hätte, dann wäre das vielleicht alles nicht passiert, keine Ahnung. Hinterher redet man viel darüber, was wäre gewesen wenn, und hätte er vielleicht nicht besser und so weiter, aber das ist alles Blödsinn. Es ist passiert und ändern lässt es sich jetzt nicht mehr.
Eines Abends, am Ende der zweiten Woche ohne Strom, hatten sich die jungen Männer des Dorfes mit den letzten übrig gebliebenen Dosen Bier und ein paar Flaschen selbst gebranntem Korn getroffen, um mal wieder so richtig einen zu heben. Und irgendwann waren sie da beim Trinken natürlich auch auf das Thema Frauen gekommen und dann auf Geld und große Autos – klassische Männerthemen halt, vor denen niemand gefeit ist. Je mehr man trinkt, desto mehr nähert man sich ihnen. Der Name Gehrling fiel. Sie sprachen über den cremefarbenen Ford Mustang Baujahr 1964, der beim Gehrling auf dem Hof stand. Und über seinen weißen Mercedes G-Klasse AMG und über den giftgrünen Lamborghini Aventador in der Garage. Und darüber, wie scharf die Frau vom Gehrling war. Hatte die nicht mal in so einem Film mitgespielt und war vorher Zweite bei Germany's Next Top Model gewesen? Keine Ahnung, aber ich glaube, so war’s. Die Dorfjungs hatten den reichen Städter nie ausstehen können und seitdem er mit seinem Geld, seinen Autos und seiner etwas aufgetakelten, aber dennoch bildschönen Frau – alles Dinge, die für sie nahezu unerreichbar waren – in das Dorf gezogen war und sie ihn oder seine Frau mit diesen Autos aus der Hofeinfahrt hatten fahren sehen, hatten sie ihn gehasst und sich inständig gewünscht, dabei zu sein, wenn ihn einmal sein Glück verlassen sollte. Heftiger als dieser Wunsch war bei ihnen wahrscheinlich nur der Wunsch ausgeprägt gewesen, daran teilzuhaben, wenn es mit ihm bergab ging. Dieser Wunsch konnte jedoch in einem funktionierenden Rechtsstaat nur schwerlich in die Tat umgesetzt werden, ohne Ärger mit den Behörden und der Polizei zu bekommen, soviel war ihnen auch klar. Zudem Gehrling sehr einflussreich war. Aber träumen durften sie ja. Mit dem Stromausfall jedoch sah plötzlich alles ganz anders aus. Jetzt zählte nur der Einfluss, den man im Dorf hatte. Welche Politiker oder Industriemagnaten man kannte, zählte nicht mehr. Und Geld? Geld war nur noch in Form von Münzen und Papier etwas wert, aber davon gab es ja nicht mehr viel.
Nachdem sie alles, was sie hatten, viel zu schnell weggetrunken hatten, stürmten sie kurz nach Mitternacht das Haus der Gehrlings und Stefan Gehrling musste zusammen mit seinen beiden Kindern dabei zusehen, wie sieben junge Männer einer nach dem anderen über seine Frau herfielen. Anschließend zerstörten sie die Anlage auf dem Dach und banden Gehrling, nachdem sie ihn drei Stunden übel zugerichtet hatten, an seinen Mercedes Geländewagen und fuhren mit ihm über einen Kiesweg hoch in den Wald. Vorher steckten sie noch sein Haus in Brand. Ich weiß noch, ich sah in dieser Nacht das Feuer und wunderte mich darüber. Am übernächsten Tag hörte ich dann die Geschichte. Einer der Jugendlichen, der dabei gewesen war, aber selbst nichts gemacht hatte, wie er immer wieder beteuerte, erzählte sie einem Freund. Der erzählte sie Stefan und Stefan erzählte sie Caro und die erzählte sie Anna und sie erzählte sie mir.
»Und was geschah mit der Frau und den Kindern?«, fragte ich sie. Anna wusste es nicht. Aber im Dorf fehlte von ihnen jede Spur.