Читать книгу Am Anfang war die Dunkelheit - Björn Täufling - Страница 15
dreizehn.
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Die Tage fingen an, kürzer zu werden. Drei Tage lang stürmte es heftig, in einer Nacht war es jedoch besonders schlimm. Der Wind heulte ums Haus, pfiff um die Ecken und brachte das Wellblechdach auf unserer Gartenhütte zum Zittern. Er schlug die Rollläden laut knallend gegen die Scheiben und ließ den Regen tanzen, er fiel mal von links, dann von rechts und drehte sich wieder und wieder im Fallen und wirbelte herum, ehe er den Boden erreichte. Der Sturm riss uns alle Pflanzen auf der Terrasse um, unsere zwei kleinen Olivenbäume waren am anderen Tag unterhalb der Verästelung umgeknickt und einen unserer Gartenstühle fand ich verkeilt in Stefans Buchsbäumen wieder.
Das Wetter war ungewöhnlich für diese Jahreszeit und es traf uns völlig unvorbereitet. Sturm, Regen und Sonnenschein kamen und gingen und niemand wusste, wie das Wetter die nächsten Tage werden sollte. Ich hatte nie gelernt, anhand der Wolken auf das kommende Wetter zu schließen und ich kannte auch niemanden, der das konnte. Es war etwas, was wir lernen mussten. Etwas von vielem. Mittlerweile kann ich das. Die Temperatur war in drei Tagen um mehr als etwa zehn Grad gefallen, so jedenfalls zeigte es das Thermometer auf der Terrasse an. Drei Wochen waren seit dem Beginn des Stromausfalls vergangen. Drei Wochen. In den ersten vierzehn Tagen hatte sich mein Gewicht um sechs Kilo reduziert, die Woche darauf hatte ich noch mal zwei Kilo verloren. Zum einen lag das an meiner vielen Bewegung, zum anderen aber auch daran, dass wir die übrig gebliebene Nahrung rationiert hatten, denn zu Beginn der zweiten Woche hatten Anna und ich beschlossen, sparsamer mit dem Essen umzugehen. Gesünder war meine Nahrung nicht geworden, nur weniger, wir ernährten uns ausschließlich von Konserven, Nudeln und Kartoffeln. Wir kochten alles auf offenem Feuer auf dem Grill im Garten oder im Kamin, die Gaspatronen bewahrten wir bis auf Weiteres auf. Seltsam, wie einem auf einmal Dinkelnudeln, die seit Monaten hinten im Schrank liegen oder Marzipanschokolade, die uns Annas Chefin immer schenkte und die bei uns aber niemand aß, wertvoll werden können. Lucys Ernährung war uns wichtiger, sie bekam die gesunden Sachen, die wir noch hatten, zum Beispiel eingemachtes Obst und von allem mehr als wir. Dennoch aber meckerte sie über das, was es gab, denn wir tischten ihr fast jeden Tag dasselbe auf. Zum Nachtisch gab es für jeden von uns immer einen Esslöffel Marmelade – die Erdbeermarmelade meiner Schwiegermutter.
»Papa, warum gibt es für dich und Mama denn so wenig zu essen? Hast du gar keinen Hunger?«
»Nee, ich bin heute nicht so hungrig, mein Schatz. Aber du, du musst essen, damit du ordentlich wächst.«
»Aber wenn du nichts isst, Papa, hast du auch keine Kraft. Das sagst du auch immer zu mir.«
»Ja«, sagte ich. »Aber ich habe noch genug Kraft. Ist alles hier drin«, und ich zeigte auf meinen Bauch.
»Wird alles wieder gut, Papi?«, fragte sie.
Ich musste schlucken und nahm sie auf den Schoß.
»Klar. Wir haben zwar keinen Strom mehr momentan, aber der kommt schon wieder.«
»Und deswegen kann Mama nicht kochen?«
»Genau. Und wir können nicht fernsehen und auch viele andere Dinge nicht mehr tun, was ziemlich doof ist. Aber weißt du was …«
»Was denn, Papa?«
»Strom ist ja manchmal ganz schön warm. Bei einer Lampe zum Beispiel. Und weißt du was …«
»Ja, was denn?«
»Ganz tief in dir drin«, und ich nahm ihre Hand und führte sie unter meinen Pulli und legte sie auf meine Brust, »ganz tief in dir drin, da ist es warm, richtig warm und da ist noch Strom. So wie bei mir. Fühlst du, wie warm es ist?«
»Aber da ist doch dein Herz!«
»Ja, aber da ist es auch warm und wo es warm ist, da ist auch Strom, als Energie, weißt du? Solange diese Energie noch vorhanden ist, ist alles gut. Fühl mal – du hast sie auch«, und ich legte ihre Hand auf ihre Brust.
»Merkst du es?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mach mal die Augen zu und konzentriere dich darauf … Fühlst du es jetzt?«
»Ja.«
»Achte schön auf diese Wärme. Da ist der Strom, da ist die Energie. Und die sorgt schon bald dafür, dass alles wieder gut wird.«
Lucy ging zu Anna und horchte an ihrer Brust.
»Wir haben alle diese Energie, Lucy«, sagte Anna, lächelte mich an und streichelte dabei Lucy über den Kopf. »Und niemand kann sie uns nehmen.«
Nichts änderte sich, der Strom war weg und niemand wusste, ob er je zurückkommen würde. Wir wussten nur, dass der immer kühler werdende Wind die Blätter von den Bäumen wehte und uns den Herbst brachte, und wir uns mit dem Umstand zu konfrontieren hatten, dass die Welt, so wie wir sie kannten, der Vergangenheit angehörte.
Wenigstens mussten wir uns um die Verköstigung eines Familienmitglieds keine Sorgen machen: Lucys Kater Nero war schon von klein auf ein Streuner gewesen, der sich gerne auch mal sein Futter selbst fing und es dann unter der Couch im Wohnzimmer oder hinter dem Schrank in Lucys Zimmer deponierte. Tat er es vor dem Stromausfall, um seinen Jagdtrieb zu befriedigen und ließ er die Mäuse achtlos unter der Couch liegen, wenn er des Spielens mit ihnen überdrüssig geworden war, so musste er sie nun jagen, um zu überleben – das schien er begriffen zu haben, denn seitdem die Supermärkte leer waren, gab es auch sein Lieblingskatzenfutter mit schonend gegartem Atlantik-Thunfisch ohne Zusatzstoffe nicht mehr für ihn. Die erste Woche lief er noch maunzend morgens um Punkt sieben Uhr um seinen Fressnapf und man sah ihm an, dass er nicht begeistert war, unsere Reste vom Vortag zu fressen. Mitte der zweiten Woche jedoch bekam er gar keine Reste mehr, ab da musste er für sich selbst sorgen. Er schien es uns übel zu nehmen, denn von diesem Zeitpunkt an sahen wir ihn seltener und es geschah, dass er tagelang wegblieb.
Die Tage vergingen langsamer als früher, mit dem Strom war auch der Zeitdruck aus meinem Leben verschwunden. Was übrig blieb, war Zeit. Nackte, pure Zeit – ganz für mich allein.
Niemand wollte mehr etwas von meiner Zeit, sie gehörte wieder mir, einfach nur mir, denn es gab keine Fremdbestimmung von außen mehr in meinem Leben. Sicher, es gab Dinge, die mehr Zeit erforderten, wir brauchten zum Kochen länger und mussten ständig Wasser holen und uns morgens eiskalt waschen. Das Leben war ruhiger, stiller geworden. Die Dinge dauerten nun eben so lange, wie sie dauerten. Das Licht der Sonne sagte uns am Morgen, wann es Zeit zum Aufstehen war und die Dunkelheit am Abend, wann es hieß, ins Bett zu gehen. Wer nur über einen begrenzten Vorrat an Kerzen verfügt und keine Ahnung hat, ob und wann es jemals wieder Strom gibt, der geht abends eben früh ins Bett, so einfach ist das.
Ohne künstliches Licht fällt es schwer, lange wach zu bleiben. Und je früher es von Woche zu Woche dunkel wurde, desto eher waren auch Anna und ich im Bett und wärmten uns, erzählten uns, küssten uns, neckten uns und liebten uns, wenn wir sicher waren, dass Lucy schlief.
»Wie lange, glaubst du, wird das noch andauern?«, fragte sie mich und spielte dabei mit den Haaren, die auf meinem Bauch wuchsen.
»Ich weiß es nicht. Wir können nur abwarten. Abwarten und rationieren. Den anderen geht es auch nicht besser.«
»Ich war heute drüben bei Caro und Stefan. Sie meinten, sie hätten noch für diese Woche was zu essen, dann müssten sie sich was einfallen lassen. Vielleicht Pilze im Wald sammeln oder jagen gehen oder so. Und sie überlegen, ob sie das Risiko eingehen und von hier fortgehen. Vielleicht Richtung Süden«, sagte sie.
»Du hast ja gehört, was der Faulstich erzählt hat. Auf den Straßen kommst du schlecht durch. Du weißt nicht mal, wie weit du überhaupt kommst. Die Tankstellen sind alle dicht. Da gibt’s nichts mehr«, sagte ich.
»Also mein Tank ist noch halb voll … Deiner?«
»Keine Ahnung. Ich hatte den Wagen Freitag vor dem Stromausfall vollgetankt.«
»Wir könnten doch zu meinen Eltern. Ich … ich mach mir große Sorgen um sie.«
»Deine Eltern haben nur eine kleine Wohnung – da können wir unmöglich lange bleiben!«
»Ich würde trotzdem gerne zu ihnen fahren.«
»Du weißt, wie ich darüber denke: Kein Mensch weiß, wie es auf den Straßen aussieht. Was ist, wenn wir stecken bleiben? Was ist dann? Was? Deine Eltern können uns nicht abholen und wir können nicht alles zu ihnen schleppen, sie können auch nicht für uns sorgen, die haben wahrscheinlich selbst gerade genug für sich und außerdem weißt du nicht mal, ob sie überhaupt noch dort sind und nicht vielleicht bei deinem Onkel auf dem Land. Also, wenn ich an der Stelle deines Vaters wäre, wäre ich schon längst dort auf dem Bauernhof, da haben sie Platz und auch noch jede Menge zu essen.«
»Du kennst meinen Vater!«
»Ja, ich kenne ihn. Und deswegen weiß ich auch, dass es weder ihm noch uns etwas bringt, zu ihnen zu fahren.«
Schweigend lagen wir nebeneinander.
»Dein Tank …«
»Ja? Was ist damit?«, fragte ich.
»Gefahren bist du seitdem das passiert ist nicht viel, oder? Mit dem Sprit kommen wir doch, wenn wir langsam fahren, sicher bis über die Alpen.«
»Und was willst du da? Über die Alpen … und überhaupt bis dahin, das ist ja noch gefährlicher! Hast du das mit der Strahlung vergessen? Und denk an die Atomkraftwerke. Im Süden stehen jede Menge davon … Ich jedenfalls denke, es ist besser, wir bleiben weiter hier und warten ab.«
Wieder Schweigen. Eine Mauer aus Schweigen zwischen uns. Die eine lag links, der andere rechts davon. Reglos. Beide. Anna setzte sich auf. Sie sah mich an in der Dunkelheit, durch die Mauer hindurch, obwohl sie mich eigentlich nicht sehen konnte. Dennoch aber spürte ich ihren Blick.
Draußen hörte ich eine Eule schreien. Wenn sie schreien, erstarren die anderen Tiere, sie bewegen sich nicht, weil sie sich nicht verraten wollen. Aber genau das ist ihr Tod.
Ich tat als schliefe ich. Sie legte sich wieder zurück auf ihr Kissen. Und ich starrte an die Decke. Zwischen uns lagen noch Worte. Große, eckige, unbequeme Buchstaben. Ich spürte sie unangenehm zwischen uns liegen, auch Anna musste sie spüren. Aber keiner von uns beiden nahm sie und sie blieben da liegen, wo sie waren und stachen uns in den Rücken. Ich rutschte mehr zum Rand des Bettes und hörte ihr beim Atmen zu. Irgendwann schlief sie ein.