Читать книгу Am Anfang war die Dunkelheit - Björn Täufling - Страница 7

fünf.

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fünf.

In aller Stille war es Montag geworden. An diesem Tag brach der unsichtbare Damm, der das Dorf übers Wochenende vor dem Chaos bewahrt hatte. Ein Hahn, irgendwo in der Nähe, weckte mich an diesem Morgen. Anna stöhnte kurz im Schlaf, drehte sich dann um und schlief weiter. Nie zuvor hatte ich diesen Hahn gehört. An jenem Montag war er auf einmal da gewesen. Er schien aus einer vergangenen Zeit gekommen zu sein, um die Menschen zu wecken, die sich selbst nicht mehr durch ihre Technik wecken konnten und er begrüßte mit seinem Geschrei den neuen Tag, dessen Sonnenlicht die Dunkelheit in sich immer mehr und mehr zurückziehende Schatten verwandelte.

Ich stand auf und zog mich schnell an, denn ich wollte zum Supermarkt. Wenn er um acht Uhr aufmachte, wollte ich nicht der Letzte sein, denn tatsächlich hatte ich die Hoffnung, dass er an diesem Tag wieder seine Türen öffnete. Wir hatten kaum noch frische Lebensmittel zu Hause, vieles hatten wir wegwerfen müssen, da wir es nicht mehr ausreichend hatten kühlen können. Konserven hatten wir zwar, aber es fehlte uns an Obst und Gemüse, denn das stand am Samstag nicht auf dem Einkaufszettel, da wir meist nur für wenige Tage einkauften und Lucy bestand auf ihre Milch zum Frühstück. Ich schrieb Anna einen Zettel, nahm meinen Rucksack und ein paar Tüten sowie einen Teil unseres restlichen Bargelds und zog die Tür leise hinter mir zu. Es war kurz nach sieben und kein von Menschen verursachtes Geräusch war zu hören. Da waren nur die Lieder der Vögel, das Rascheln der Blätter, das Rauschen des Windes und sonst nichts weiter. Die Rollläden waren vor den meisten Fenstern heruntergelassen, auch die Fensterläden waren geschlossen, nirgendwo in den Häusern war Licht zu sehen. Auch auf der Straße begegneten mir nur wenige Menschen. Und die, die mir begegneten, hatten nur eine Frage:

»Strom?«

»Nein.«

Als ich nach zehn Minuten Fußweg am Supermarkt ankam, standen bereits einige Leute vor dem Eingang. Gegen halb acht waren es dann schon mehr als sechzig und um kurz nach acht über hundert Personen. Um halb neun waren es fast zweihundert. Die Leute aus dem Dorf standen vor den Einkaufswagen und lamentierten. Sie unterhielten sich über die von ihnen benötigte Babynahrung, sie beschwerten sich, dass sie kein Brot hatten und Wurst sowieso schon gar nicht mehr, aber auch darüber, dass Mineralwasser, Bier, Cola und Klopapier knapp geworden waren in den Haushalten. Am allerwenigsten hatten sie jedoch eines: Geduld. Die war ihnen übers Wochenende ohne Fernsehen und Internet komplett abhandengekommen und das machte sich bemerkbar.

Einige behaupteten gar, sie hätten seit Freitag nichts mehr gegessen. Eine etwas pummelige Frau, Anfang zwanzig mit fadem, blondem Haar und unreiner Haut, sorgte schließlich dafür, dass das geschah, vor dem sich alle insgeheim fürchteten. Bewusst hat sie es bestimmt nicht getan, da bin ich mir ziemlich sicher. Bekanntlich aber kommen ja die meisten Steine ins Rollen, ohne dass sie bewusst angestoßen werden und ruckzuck begräbt die von ihnen ausgelöste Lawine ein ganzes Dorf unter sich. Die junge Frau also trug auf dem Arm ihren weinenden, knapp zweijährigen Jungen. Der Kleine war viel zu dick für sein Alter, ja ich wunderte mich, wie sie ihn überhaupt auf ihren speckigen Armen halten konnte. Sie stand mit ihm vor den Eingangstüren des Supermarkts und schlug mit der Faust taktlos gegen die Scheibe, dabei beschimpfte sie wüst die Supermarktangestellten, die immer noch nicht an ihrem Arbeitsplatz erschienen waren.

»Macht auf, ey! Mein Lukas braucht ne neue Pampi und was zu essen!«, rief sie und dabei lief dem kleinen, dicken Lukas gelbgrüner Rotz aus der Nase. Er seilte sich langsam ab auf ihre Schulter, ein nach oben hin immer dünner werdender, glänzender Faden. Nach ein paar Minuten ging der Frau die Puste aus, die sie für ihren Wutanfall benötigte. Sie stützte sich mit dem Rücken gegen die Glastür des Supermarkts, schluchzte erst, dann weinte sie tatsächlich und rutschte schließlich unter Ermüdung ihrer Kräfte mit ihrem wabbeligen Hintern die Scheibe hinunter, bis sie in der Hocke auf dem Boden vor der Glastür saß und die Jogginghose um ihre Beine gefährlich spannte. Lukas stand wackelig neben ihr, er schluchzte ebenfalls und betrachtete abwechselnd neugierig die Umstehenden und das, was er sich aus seiner Nase geangelt hatte. Die Leute aus dem Dorf schauten ihn an. Sie sahen die Person neben sich an und sich auf die Schuhe. Einige holten auch ihr Handy aus der Tasche und tippten wichtig darauf herum, was wieder andere dazu veranlasste, es ihnen gleichzutun. Eine Frau ging schließlich zu Lukas hin, streichelte ihm über den Kopf und reichte ihm ein Taschentuch. Keiner sagte etwas, kollektives Schweigen, bis ein älterer Mann neben mir das Wort ergriff. Erst murmelte er vor sich hin, doch dann wurde er lauter.

»In einer Notsituation muss man sich zu helfen wissen. Keiner hilft uns, wenn wir uns nicht helfen. So ist es doch, oder? Wo ist denn bitteschön die Regierung?«, fragte er und sah mich dabei an, so, als sei ich die Regierung, als wüsste ich eine Antwort, aber ich wusste keine und so zuckte ich nur mit den Schultern.

Und so antwortete er selbst: »Ich sag’s Ihnen: Die hocken in Berlin. In irgendeinem Bunker mit Nahrung für die nächsten Wochen und Monate. Die hocken in ihrer Scheißkrisensitzung und beratschlagen, was sie tun können. Für sich natürlich. Sie grübeln darüber, was ihnen die nächsten Wahlen sichert. Und wir sind hier vollkommen auf uns allein gestellt und wissen nicht, was wir tun sollen, um über die Runden zu kommen. Aber bei einem bin ich mir sicher: Die Herren Aldi, Rewe, Plus und Edeka und wie sie alle heißen, die ganzen fetten Bonzen halt, die werden bestimmt nicht hungern müssen. Und wissen Sie noch was? Wir sollten es auch nicht! Helfen Sie mir mal damit«, und er nickte mit dem Kopf zu dem Einkaufswagen, auf den er sich gestützt hatte.

»Was haben Sie denn vor?«, fragte ich.

Zwei Männer, die in unserer Nähe gestanden und uns zugehört hatten, kamen herbei. Sie wirkten aufgeregt wie junge Hunde, bevor es nach draußen geht. Offenbar schien es Leute zu geben, die den Duft verführerischer, aber auch unheilvoller bevorstehender Ereignisse richtig riechen konnten, mir jedoch war diese Fähigkeit fremd.

»Sie haben recht, so kann es nicht weitergehen. Das ist eine Frechheit, diese verdammten Arschlöcher, die sollen ihren Scheißladen aufmachen! Dem Kleinen von der fetten Frau tut’s ja vielleicht ganz gut, wenn er mal nix zu beißen kriegt, aber wir, wir brauchen was!«, sagte der eine.

»Schlagen wir die Scheibe ein!«, sagte der andere.

»Genau! Es ist eine Notfallsituation und keiner hilft uns. Keiner kommt und keiner sagt uns, wie es weitergeht!«, rief eine Frau.

»Weiß einer, wo der Bürgermeister ist?«

»Keine Ahnung, aber der lässt es sich sicher gut gehen!«

»Die fette Sau!«

»Los, wir schnappen uns den Einkaufswagen zu viert und dann donnern wir ihn in die Scheibe!«

»Und wenn die Polizei kommt?«

»Die Bullen können mich mal! Die habe ich das ganze Wochenende nicht gesehen. Und außerdem: Wir handeln, um zu überleben. Was wollen die machen? Uns deshalb erschießen? Die Bullen wissen ja, dass wir eigentlich friedliebende Bürger sind. Und außerdem haben die genug mit sich selbst zu tun.«

»Und Familien haben die auch.«

»Wir nehmen nur so viel, wie wir benötigen, okay?«

»Wir wollen’s ja bezahlen, aber wenn’s nicht geht und keiner da ist, der unser Geld will?«

»Naja, das können wir auch später noch machen.«

»Wir schreiben auf, was wir mitnehmen und kommen die Tage zum Bezahlen vorbei!«

»Ja, das könnten wir machen.«

»Ja, so machen wir’s!«

»Also… Tun wir’s?«

Ich fühlte mich nicht wohl dabei, aber die Leute hatten recht. Wie lange wollten wir warten? Sollten wir verhungern, weil niemand da war, der uns den Laden aufschloss und unser Geld haben wollte, mit dem wir ganz anständig für die Waren hatten bezahlen wollen, von denen wir nur durch eine Glasscheibe getrennt waren? Sollten wir das Gesetz höher achten als unser Leben, nur weil die es von der Regierung nicht hinbekamen, uns zu versorgen? Und es ging ja schließlich nur um Mundraub, oder nicht? In der Not muss jeder für sich selbst sorgen, die Gesetze sind zum Wohle der Allgemeinheit gemacht, dachte ich. Aber was, wenn die Allgemeinheit in lauter Einzelindividuen zerfällt? Wenn nur der den Kürzeren zieht, der als letztes zieht? Sollen wir das Gesetz achten, damit einer seine Waren behält, um die er sich nicht kümmert? Waren, die er ja für uns produzieren lässt und die vor unseren Augen vergammeln und Hunderte ernähren können? Sollen wir warten, bis andere das tun, was wir tun wollen und uns hinterher darüber ärgern, dass wir es nicht zuerst getan haben?

Der ältere Mann schob den Einkaufwagen zur Scheibe, drei Männer folgten ihm.

»Macht mal Platz! Gleich gibt’s genug für alle!«, schrie einer der Jüngeren und die Leute sprangen zur Seite. Neu-gierig schauten sie zu. So also sahen ihre Gesichter aus, wenn sie mal wieder im Schneckentempo über die Autobahn fuhren, um Videos und Fotos von Un-fällen zu machen, um zu sehen, ob die Leichen bei dem Unfall noch zerfetzt in der Windschutzscheibe hingen oder ob sie schon weggeschafft worden waren, dachte ich. Ich sah immer nur rote Lichter vor mir, es interessierte mich nicht, Tote anzustarren. Sie aber, sie konnten es nicht glauben, dieses Abenteuer, das sie nur aus dem Fernsehen kannten: Plünderung: Seien Sie live dabei! Und wie sahen sie aus? Sie sahen aus wie du und ich.

Als ich ein Kind war, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich einmal selbst erleben würde, was Nachrichten aus anderen fernen Winkeln dieser Welt berichteten und dass die Schlagzeilen der Boulevardpresse in meiner eigenen, kleinen Welt jemals Wirklichkeit werden könnten. Geschichten über Plünderungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Morde wegen etwas zu essen, ein paar Lumpen oder Zigaretten waren Geschichten vergangener Zeiten oder aus entlegenen Teilen der Welt. Geschichten aus Ländern, um die man besser einen weiten Bogen machte. Dies war nicht die Geschichte der bevorstehenden und zu durchlebenden Realität in meiner Heimat. Mittlerweile wütet das Chaos vielleicht sogar in ganz Europa, niemand kann es sagen. Morgen oder in einem Monat konnte man vielleicht schon wegen etwas Nahrung, einem Kanister Benzin, einem Päckchen Zigaretten oder einem Fahrrad überall und von jedem umgebracht werden, dachte ich – die Leute, die nie den Hunger gekannt hatten, die immer im Wohlstand lebten, sich nehmen konnten, was sie wollten und wann sie es wollten, sind verzweifelter, ungeduldiger, egoistischer und hoffnungsloser als die Generation vor ihnen, glaube ich. Wir, meine Generation, wir hocken ganz oben im Baum. Wir sind, als der Strom ausfiel, von weiter oben gefallen, und als wir hart aufschlugen, hat die Angst von uns Besitz ergriffen und die meisten angesteckt. Später hörte ich es, ich weiß nicht mehr, wer’s mir erzählt hat. Aber man erzählte, dass es nicht zuerst die Armen gewesen waren, die sich nahmen, was sie wollten, als es keine moralischen Grenzen mehr gab. Es waren die, die reich gewesen waren.

Die Männer also stemmten zu viert den Einkaufswagen hoch und warfen ihn wie Kugelstoßer gegen die Scheibe, direkt ins Gesicht einer lächelnden Blondine, die auf einem Werbeplakat in einem cremefarbenen Satin-Bademantel für nur 19,99 Euro diese Woche, ab Montag, posierte. Das Geräusch des Aufpralls ließ alle erschrocken einen Meter zurückspringen. Aus der Mitte des zwei Quadratmeter großen und bedrohlich wirkenden Spinnennetzes, das nun auf der Scheibe zu sehen war, lächelte zwar noch immer einladend die Blondine, aber zersprungen war die Scheibe nicht. Und so hoben die Männer den Einkaufswagen ein zweites Mal an und donnerten ihn zwei, drei, vier, fünf, sechs Mal in die Scheibe, sie nahmen ihn wie einen Rammbock und stießen und bohrten ihn mit einem knirschenden Geräusch, das sich anhörte wie eine Nadel, die über Glas gezogen wird, immer wieder und wieder in die Mitte des Spinnennetzes, das sich auf der Scheibe gebildet hatte, bis sie endlich, endlich nachgab und klirrend in sich zusammenfiel. Alle erstarrten für einen Augenblick. Dann: JUUUUU-BEL!

Die Menschen ließen ihre Einkaufswagen stehen und stürmten mit lautem Geschrei den Supermarkt wie Barbarenstämme Jahrhunderte zuvor das Schlachtfeld. Und wie damals, Historienfilme zeigen das nicht, trotteten auch einige ängstlich hinterher. Es schien, als hätten alle dem gesellschaftsordnenden Stromgott eine Frist bis zu diesem Montag gesetzt, das Zepter wieder in die Hand zu nehmen und sich um seine Aufgaben zu kümmern. Er hatte es nicht getan. Sein Zepter lag da. Genau vor unseren Füßen. Und wir nahmen es uns. Und damit änderte sich alles.

Endlich geschah etwas, nun konnte man das Leben wieder in die Hand nehmen. Wir hatten das Wochenende über gewartet und nichts hatte sich geändert. Jetzt war es an der Zeit, etwas zu ändern. Dachte ich. Und wahrscheinlich haben das auch alle anderen gedacht. Mütter mit Kindern, Familienväter in Polo-Shirts mit randlosen Brillen und Segelschuhen und Rentner mit kariertem Hut und Stock warfen mit Steinen auf die großen Scheiben, an denen die Angebote der vor uns liegenden Woche hingen. Und da man zusammen mehr erreicht, zersprangen auch sie irgendwann. Ein Meer zersprungenen Glases lag vor dem Eingang des Supermarkts. Es knirschte, als wir darüber liefen, um dann mehr oder weniger elegant in den Supermarkt zu klettern.

Ich hatte mal einen Bericht im Fernsehen über Krisenvorsorge gesehen und wusste daher ungefähr, was Anna, Lucy und mir langfristig am meisten dabei helfen könnte, über die Runden zu kommen und so rannte ich, nachdem ich einen Salatkopf, sechs Äpfel sowie die Milch für Lucy ergattert hatte, zum Tabak an der Kasse, denn dieser ist ein ideales und lange haltendes Tauschmittel und stopfte mir mit Zigaretten, Drehtabak und Blättchen die Taschen voll, dann ging ich zu den Regalen mit dem Grill- und Campingzubehör und warf Grillanzünder und Gaspatronen, auch Kerzen und Streichhölzer in meine große blaue Einkaufstasche und preschte zwei Regale weiter zu den Konserven mit Ravioli, Rindfleisch und Gemüse und nahm einige Pakete Zucker, Salz und Mehl, Trockenobst, Bohnen, Nudeln, Reis, Erbsen, Linsen, etliche Rollen mit Vitamintabletten, Verbandszeug, Alkohol und einige Päckchen mit Fertignahrung und noch etliches mehr mit. Vier Rollen mit großen blauen Müllbeuteln packte ich auch ein, denn ich hatte mal gelesen, dass Müllbeutel in Zeiten, in denen rein gar nichts mehr funktioniert, ungeheuer wichtig seien - und ich sollte damit recht behalten. Als ich die drei großen Tüten und den Rucksack, den ich von zu Hause mitgenommen hatte, vollgepackt hatte, steckte ich meinen Pulli in die Hose und machte den Gürtel so eng, dass mir beinah die Luft wegblieb und stopfte oben in den Halsausschnitt meines T-Shirts noch Thunfisch in Dosen, Senf, Pfefferkörner, Schokolade, Fruchtbonbons und Müsliriegel. Derweil stritten sich die Menschen um mich herum um die noch verbliebenen Kekspäckchen, um die letzte luftgetrocknete Salami, das letzte Paket Windeln, die letzte Flasche Korn. Mit all dem Zeug in meinem T-Shirt hatte ich Mühe zu laufen und lief doch so gut ich konnte zum Ausgang. Immer mehr Menschen kamen herein, das ganze Dorf schien sich nun auf dem Parkplatz des Supermarkts versammelt zu haben und sie alle pressten sich durch das kaputte Fenster und die eingeschlagenen Scheiben der Türen und rannten dann scheinbar orientierungslos durch die Gänge, in denen mittlerweile die meisten Lebensmittel verstreut zwischen den Scherben heruntergefallener Flaschen lagen. Mehr und mehr vermengten sich auf den Fußbodenkacheln die Pfützen von Öl, Wein, Wasser, Milch, Sahne, Bier und Fruchtsaft mit Mehl, Zucker, Reis, Gummibärchen, Chips und Eiern und machten den dunklen Weg durch die Gänge nach draußen zu einem gefährlichen Unterfangen. Ich blieb stehen, um andere vorbeizulassen und sah dabei, wie einige Jugendliche draußen den Leuten, die es geschafft hatten, vorbei an den einströmenden Horden und hinaus auf den Parkplatz zu gelangen, mit Gewalt die Tüten aus den Händen und die Rucksäcke vom Rücken rissen. Auch dem alten Mann, mit dem ich vorhin vor dem Supermarkt gesprochen und der die Plünderung letzten Endes mit seinen Worten ausgelöst hatte, nahmen sie die Tüten weg. Er lag auf dem Boden und hielt krampfhaft einen Leinenbeutel fest, den ihm ein Jugendlicher versuchte zu entreißen, während ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen wieder und wieder auf ihn eintrat.

Wenn du da durchgehst, nehmen sie dir alles wieder weg, sie schlagen und treten dich zusammen, du hast keine Chance, dachte ich. Dann drehte ich mich schwerfällig um und rannte so schnell ich konnte zu der schweren Metalltür, die zum Lager führte und die ich beim Vorbeigehen zwischen zwei Kühltheken wahrgenommen hatte. Sie war nur angelehnt und ich quetschte mich mit Gewalt durch den Spalt und drückte sie von innen mit der Schulter zu. Dann klemmte ich den Griff eines herumstehenden Einkaufswagens unter den Türgriff und verriegelte sie so.

Es war dunkel da im Lager, nur durch ein Dachfenster kam etwas Licht herein und malte genau vor meinen Füßen ein fast weißes Rechteck auf den grauen Estrich – prima, immerhin schien draußen die Sonne. Nur gedämpft hörte ich den Lärm und die Schreie aus dem Supermarkt durch die schwere Tür. Regale stürzten um, ich hörte, wie Glas zersprang und wie viele, viele, viele, viele, viele, viele Füße über den hell gefliesten Boden rannten. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich mich um. Der Raum war fast leer, an den Wänden standen leere Rollwagen und Getränkekisten, und in einer Ecke lagen gestapelt auseinandergeschnittene Kartons neben einem Biertisch. An der Wand mir gegenüber entdeckte ich eine Klappleiter. Ich ging zu ihr, dabei stolperte ich und fiel der Länge nach hin. Dann hörte ich Stimmen vor der Tür, sie waren leise. Dann verstummten sie. Ich dachte schon, ich hätte sie mir eingebildet, da hämmerte auf einmal etwas laut gegen die Tür, der Türgriff wackelte. Jemand trat wütend von außen gegen die Eisentür. Ohne einen Atemzug zu machen, blieb ich stehen..

»Wer ist da? Was ist da drinnen? Mach auf, ich hab dich reingehen sehen! Mach auf, sag ich!«, befahl die Stimme auf der anderen Seite der Tür.

Mein Herz hämmerte und ich merkte, wie mir plötzlich der Schweiß auf der Stirn stand. Aufmachen? Niemals! Sie würden mir alles nehmen, und wenn sie Pech hatten, würde auch ihnen wieder alles genommen werden, und wenn die, die das getan hatten, dann auch noch Pech hatten, würde denen dann auch noch alles genommen werden, noch ehe sie draußen waren. Ja, und draußen? Draußen würde ihnen ja sowieso alles genommen werden.

Ich stand auf und stellte meine Tüten vorsichtig in eine Ecke, dann überlegte ich, was ich tun konnte. Ich konnte warten, bis sie weg waren. Aber wie lange würde das dauern? Und was wäre dann? Was, wenn sie draußen vor dem Supermarkt auf mich warteten? Von draußen hörte ich noch immer das wütende Geschrei. Die Rolltore, die ins Freie führten und an denen die Lkw normalerweise ihre Ladung entluden, waren alle verschlossen. Zum Glück. Wären sie offen, stünde ich hier nicht alleine, dachte ich. Besser, ich warte. Dann sah ich wieder zu der Leiter. Bis zur Dachluke waren es gute vier Meter. Wenn ich aufs Dach gelange, kann ich dort warten, bis die Luft rein ist – solange, bis es dunkel geworden und hier nichts mehr zu holen ist, dachte ich. Und da ich diese Idee für den besten Entschluss hielt, nahm ich die Leiter von der Wand und stellte sie auf, aber sie war nicht lang genug, es fehlten knapp zwei Meter. In der Ecke stand der Biertisch. Ich nahm ihn und trug ihn unter die Dachluke, während draußen wieder jemand schrie, dann packte ich die Leiter und kletterte auf den Tisch und stellte sie auf – eine wackelige Konstruktion, aber es war nur noch ein Meter, der mir vom Ende der Leiter bis zum Erreichen zur Dachluke fehlte. Ich kletterte hoch und öffnete die Dachluke, mit meiner Faust schlug ich gegen sie und beim dritten Schlag sprang sie endlich krachend auf. Vorsichtig stieg ich von der Leiter und holte die erste meiner Tüten nach oben und warf sie vorsichtig durch die Luke aufs Dach. Noch immer rüttelte jemand an der Tür.

»Mach auf! Ich weiß, du bist da drinnen«, schrie die Stimme.

Das Rütteln wurde heftiger und ich sah, wie sich der unter dem Griff der Tür verankerte Einkaufswagen langsam löste.

»Wir holen was zum Aufbrechen, gleich kommen wir. Dann bist du geliefert!«, hörte ich es vom Supermarkt höhnisch zu mir rufen.

Schnell holte ich die zweite und die dritte Tüte, und warf auch sie hoch aufs Dach und kletterte dann hinterher. Wenn sie reinkämen, würden sie die Leiter sehen und mir folgen, dachte ich. Ich hörte einen heftigen Schlag, dann ein Kratzen an der Tür – sie versuchten, sie aufzubrechen! So weit ich konnte, beugte ich mich in das Loch der Dachluke hinunter und bemühte mich, nach der Leiter zu greifen, ich streckte meinen Oberkörper, es fehlten nur noch weniger Zentimeter. Da – ich griff sie. Erst mit dem ersten Glied des Mittelfingers, dann auch mit den anderen Gliedern meine Finger – zum Glück war sie leicht, eine Aluminiumleiter. Ich zog sie hoch und fasste sie auch mit der anderen Hand und rutschte dabei langsam nach hinten. Dann stützte ich mich ab, stellte mich auf und zog sie nach oben, derweil unten der Einkaufswagen wegrollte und die Tür aufsprang und gegen die Wand donnerte. Schnell legte ich die Leiter beiseite, schloss die Dachluke und legte mich, so leise, wie ich nur konnte, auf den steinigen Boden des Daches. Mein Herz raste. Sollte ich einen Blick riskieren? Nein, besser nicht, dachte ich. Dann hörte ich Stimmen von unten.

»Hier war jemand, ich weiß es.«

»Schau dich doch um, ich sehe hier keinen. Hier ist niemand.«

»Doch, ich bin mir sicher!«

»Nein, du hast dich geirrt.«

»Und warum steht da der Tisch? Den hat doch jemand dahin gestellt!«

»Und für was? Um aufs Dach zu gelangen? Quatsch, du siehst doch, wie hoch das ist, da kommt keiner rauf. Komm, lass uns gehen.«

»Und ich könnte schwören…«

»Schwör nicht zu viel. Los, wir gehen. Kommst du?«

»Ja, okay, du hast Recht.«

Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich von dem Schock erholt hatte – viel hatte nicht gefehlt und sie hätten mich erwischt. Die Sonne war nun plötzlich weg und der Himmel über mir dicht bewölkt, vereinzelt waren noch helle Flecken zu sehen, die erahnen ließen, dass es darüber irgendwo eine Sonne gab. Bereits am Tag zuvor war es so gewesen, das Wetter, und dabei schwülwarm bis heiß. Irgendwo im Dorf brannte es, ich konnte es riechen, der Rauch lag schwer in der Luft und zog einen dunklen Schleier über den Himmel, der sich zu verstecken schien. Verschloss er sich, um nicht zu sehen, was im Dorf passierte? Auf Knien und Ellbogen rutschte ich vorsichtig bis zum Rand des Daches und blickte nach unten und beobachtete die schreienden Menschen unter mir auf dem Parkplatz. Ich sah Kinder, die sich um eine Konservendose prügelten, alle, die Jungen und die Alten zogen, und rissen aneinander, sie gönnten niemandem was. Nur Gruppen schafften es, das Gelände mit vollen Tüten zu verlassen, einzelne hatten da keine Chance. Ich drehte mich auf den Rücken, und da küssten plötzlich sachte kleine Nieselregentropfen mein Gesicht und meine Hände und vermischten sich mit dem Schweiß auf meiner Haut. Ich blieb liegen, kramte in einer meiner Tüten herum und brach mir schließlich ein Stück aus der gestohlenen Schokoladentafel ab und ließ es in meinem Mund zergehen. Anschließend rauchte ich eine Zigarette, meine Finger zitterten beim Anzünden. Es war die Erste, die ich seit Langem rauchte. Der Geschmack war seltsam und schon nach dem zweiten Zug wurde mir so schwindelig, dass ich mich wieder hinsetzen musste. Ich sah in den Himmel. Dann übergab ich mich. Dabei dachte ich an Anna und hoffte, dass sie sich keine Sorgen um mich machte. Ich hatte Zeit. Alle Zeit der Welt, denn ich musste warten, ich konnte noch nicht runter vom Dach, also lag ich dort den ganzen restlichen Tag, bis es dunkel wurde und ich niemanden mehr schreien hörte. Die Wolken verzogen sich. Ich stand auf und ging an den Rand des Daches. Dann ließ ich meine Tüten und den Rucksack vorsichtig vom Dach in einen Busch fallen und kletterte im Schutz der Dunkelheit an der Regenrinne hinunter, sprang auf einen Müllcontainer und eilte mit meiner Beute nach Hause.

Am Anfang war die Dunkelheit

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