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sieben.

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sieben.

In den folgenden Tagen war ich froh, dass es erstens seit über einer Woche nicht geregnet hatte und zweitens, dass unsere Zisterne dennoch voll mit Regenwasser war. Zumindest darum brauchten wir uns nicht zu kümmern. Auch um Gas zum Kochen brauchten wir uns vorerst keine Gedanken zu machen, wir hatten vom letzten Campingurlaub noch fünf Gaspatronen im Keller, die wir beim Kauf eines Fünf-Mann-Zeltes vom Händler geschenkt bekommen hatten. Wir hatten sie nicht benutzt, da Lucy den Imbiss unten am See bevorzugt hatte.

Im Notfall befanden sich im Keller zudem noch genug eingekochte Lebensmittel, denn sowohl Anna als auch ihre Mutter kochten gerne ein – meist mehr, als man essen konnte. Auch Kerzen und Streichhölzer hatten wir genug. Das einzige Problem war Bargeld. Zusammen hatten wir noch hundertdreiundzwanzig Euro und vierundfünfzig Cent, die Sparbüchse von Lucy und die Zwei-Liter-Whiskyflasche mit Ein- und Zweicentmünzen nicht mitgerechnet. Wer hat schon viel Bargeld daheim im Schrank oder im Tresor liegen, wenn er überall mit Karte zahlen kann?

Am meisten hat mich in den ersten Wochen die Stille genervt. Oder geängstigt? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Im Urlaub ist das ja ganz schön, aber dauerhaft, und wenn du weißt, es liegt etwas in der Luft? Wenn du weißt, die Ruhe ist so nicht gewollt, sie hat nichts mit Umweltschutz zu tun, da wurde keine verkehrsberuhigte Zone eingeweiht oder eine Lärmschutzmauer hochgezogen, nein, sie ist nur eine Laune und sie gehört da nicht hin, wo sie ist. Irgendwann kommt sie dir gefährlich vor, sie fängt an, dich zu bedrohen. Sie nagt an dir, summt dir ins Ohr, will dich fressen. Sie kann dich wahnsinnig machen. Wenn dich alles um dich herum an Geräusche erinnert, die auf einmal nicht mehr da sind, weil irgendetwas ihnen ihre Daseinsberechtigung genommen hat, das ist schon erschreckend. Früher weckte mich unter der Woche immer die nervige, viel zu hohe Stimme des Nachrichtensprechers, die aus dem Radiowecker kam, der neben meinem Bett stand. Meist um Punkt sieben Uhr, manchmal auch etwas früher. Am Wochenende war es dann das entfernte Brummen eines Rasenmähers oder das Klingeln des Telefons unten im Flur oder in meinem Arbeitszimmer.

Um Batterien zu sparen, ließen wir uns von der Sonne wecken und so erwachte ich letzten Spätsommer meist durch die trüben Strahlen, die ein dicker Wolkenvorhang filterte und nur geizig in unser Schlafzimmer fallen ließ. Anna ließ mich meistens schlafen, ich hatte ja sonst nichts zu tun. Wie sollte es weitergehen, hab ich mich oft jede Stunde an jedem Tag gefragt, und da war ich bestimmt nicht der Einzige, man konnte bei den meisten Leuten im Dorf das Fragezeichen über dem Kopf ja fast schon sehen, so sahen ihre Gesichter aus.

Und ich hab mir gesagt, und das sage ich mir auch jetzt wieder: Wenn alles um dich herum aus den Fugen gerät, musst du dich zusammenreißen. Wenn alle wahnsinnig werden, darfst du dich davon nicht anstecken lassen. Lass dich nicht fallen. Ja, das sag ich mir jetzt und das habe ich damals gesagt. Und ich sage es mir wieder. Und wenn du fällst, steh wieder auf!

Diese Stille. Immer diese Stille. Nur selten war ein Auto zu hören, kein Brummen des Kühlschranks, kein Klingeln des Telefons, kein Vibrationsgeräusch des Handys mehr in meiner Tasche. Nichts. Kein Kunde rief an und hatte eine Frage an mich. Mir war die Möglichkeit genommen, ins Internet zu gehen, zum Surfen, zum Bestellen, Kaufen, Mailen, keine Werbefenster gingen mehr wie von Zauberhand auf dem Bildschirm auf, und ich wusste nicht mehr, was an wenigen wichtigen und an vielen unwichtigen Dingen überall in der Welt geschah. Mein Informationsstand war der vom Freitagabend vor dem Stromausfall geblieben. Na gut, den Radiosprecher im Auto hatte ich noch mitbekommen.

Auch hatte ich keine Möglichkeit mehr, mich von meinem Leben durch eine DVD, Netflix, Amazon Prime, Spotify, oder stinknormales Fernsehen abzulenken. Mir schien es so, als sei ich mir selbst viel gegenwärtiger, es machte mich friedlich und gleichzeitig wahnsinnig, ich kann es nicht richtig beschreiben: Auf der einen Seite war ich in mir und mit mir selbst viel ruhiger, auf der anderen Seite wusste ich manchmal nichts mit mir anzufangen. Mir fehlte die gewohnte Möglichkeit der von allen Seiten kommenden Ablenkung – die, die von außen an mich herantritt und mich mein ganzes Leben bisher immer umgeben hatte. Nur zugreifen, und schon war die Ablenkung da. Information, Information, Information, Information, Information, Information – von überallher kommend. Daran war ich gewohnt. Aber es hatte auch sein Gutes: Endlich hatte ich Zeit für meine Familie. Ich las meiner Tochter Geschichten vor, lernte die Namen all ihrer Puppen auswendig, ließ mich von ihr frisieren, spielte mit Lucy Monopoly und versuchte, sie für Schach zu begeistern.

Wie es schien, drehte der Wind nicht, die verseuchte Luft blieb aus. Wir hatten Glück. Freitagnachmittag wagte ich einen kurzen Gang vor die Tür. Vorsichtshalber hatte ich mir wieder ein Stofftaschentuch vor Mund und Nase gebunden. Andere hatten dieselbe Idee, denn viele, denen ich begegnete, trugen ebenfalls ein Tuch vorm Gesicht, einige hatten sogar eine Atemschutzmaske auf, wie es sie in Baumärkten zu kaufen gibt.

Ich ging raus aus dem Dorf. Den Feldweg entlang, der hoch in den Wald führte. Die Luft war klar und für Anfang September viel zu kühl. Trug sie etwas Böses mit sich? Unmöglich – leicht und freundlich umwehte sie mich, »Komm bleib bei mir, bleib bei mir, lass dich von mir umarmen«, flüsterte mir der Wind zu, und es fröstelte mich, als ich oben auf der Kuppe angekommen war, von der man sowohl auf das Dorf, als auch auf den weit entfernten Kirchturm der Stadt blicken konnte.

Wie friedlich alles dalag. Und doch zog irgendwo unsichtbar der Tod über das Land, dachte ich. Ein heimtückischer, der sich erst nach Wochen bemerkbar macht. »Bist du sicher?«, fragte der Wind. Ja, sagte ich zu ihm, erst fühlst du dich schlecht, dann geht’s dir blendend und kurz darauf bist du tot, weil deine Organe zu Brei zerlaufen. Aber hier ist nichts, sagte er. Nichts, was dich zu vernichten droht. Rein gar nichts! Und ich glaubte ihm und riss mir das rote Stofftuch vom Gesicht und atmete einmal, zweimal, dreimal, viermal in vollen Zügen so viel Luft ein, wie ich nur konnte. Wie frisch sie schmeckte, sie kitzelte meine Bronchien und ich bekam einen Hustenkrampf. War da doch etwas? Etwas Bitteres, dass ich auf der Zunge schmeckte?

Es war egal, was ich glaubte. Über die Wahrheit entschied die Meinung, die sich unter der Bevölkerung durchsetzte. War sie davon überzeugt, dass die Luft verseucht war, dann war sie es auch. War sie davon nicht überzeugt, dann war die Luft rein. So war es schon immer. Meinungen sind stärker als das Wissen um die Wahrheit, dachte ich. Sie verbreiten sich wie ein Virus, gehen ins Ohr oder ins Auge und setzen sich fest. Wie viel Angst die Menschen vor der Wahrheit haben. Sie kämpfen verzweifelt gegen sie an. Ja, es liegt ihnen im Blut, gegen sie zu kämpfen.

Es ging mir gut draußen in der Natur. Die Vögel zwitscherten über meinen Kopf hinweg, so wie sie es immer taten und ich musste daran denken, dass die Natur keinerlei Anteil an der Misere nimmt, die mich und die Menschen um mich herum beschäftigte. Sie umgibt uns, und was uns passiert, ist ihr egal. Aber so war es doch schon immer, hörte ich es in mir drin sagen und bis auf ein paar Umweltaktivisten ist uns doch auch vollkommen egal, in welchem Zustand die Natur sich befindet, solange sie uns das gibt, was wir benötigen – der Abtau der Gletscher und Polarkappen, der CO2-Ausstoß und so weiter interessiert doch keinen, es sei denn, es betrifft einen persönlich, sie umgibt uns, aber was uns passiert, juckt sie ebenso wenig, wie es uns interessiert, wenn eine Insekten- oder Pflanzenart ausstirbt, es juckt sie nicht im Geringsten, brichst du den Ast an einem Baum ab, wächst ein anderer nach, du sollst nur nicht drauf sitzen, wir sind alle wie Äste, große und kleine an einem Baum und wieso heißt es eigentlich Umwelt, wenn wir ein Teil von ihr sind, also mittendrin, so wie Ameisen, Rotkehlchen, Salamander, Salat und Walnüsse, Seen, Meere und Berge und wieso heißt es nicht Inwelt oder nur Welt, etwa, weil wir uns von ihr bewusst abgrenzen wollen, die Natur ist hier und ich bin hier, und sie wird immer hier sein in irgendeiner Form, aber ich werde es nicht sein, sie interessiert nur die Balance und Notwendigkeit, dass der Stärkere überlebt und sonst nichts, das ist irgendwie grausam, aber das Wort kennen nur wir Menschen und alle anderen Worte, die mangels Notwendigkeit in der Natur keinen Platz haben. Worte machen uns aus, die Natur braucht keine, sie spricht durch einen Hauch, ein Säuseln, ein Rauschen, ein Wehen, ein Stürmen oder Tosen, sie macht sich durch einen Donnerschlag oder durch ein Blubbern, ein Grollen oder ein Lodern bemerkbar, wie sehr haben wir uns im Laufe der Jahre mehr und mehr von ihr getrennt, ich weiß ja nicht mal, welche Bäume gerade um mich herum wachsen und jetzt zahlen wir dafür den Preis, den Preis für unsere Ignoranz und Überheblichkeit, wir haben uns immer weniger um sie und unser Verhältnis zu ihr gekümmert und nur den eigenen Fortschritt vorangetrieben und total vergessen, wie man in ihr und mit ihr als Teil eines großen Ganzen lebt, unabhängig von technischen Hilfsmitteln und nur auf seinen Kopf, seine Hände, seine Kraft und sein Geschick angewiesen, abhängig sind wir von ihr, nicht sie von uns, aber waren wir uns dessen bewusst, dass sie uns ernährte, etwas so Offensichtliches konnte doch nicht vergessen gegangen sein, wir haben Geschick, daran fehlt’s uns auch nicht, ja, vieles haben wir und vieles davon gibt’s in der Natur gar nicht, zum Beispiel sind wir Menschen immer für die Schwachen, zumindest tun wir so, gerade die Politiker und wir nennen das dann human, aber ist das gut, ja, human sein ist gut, was kann uns denn bitte schön mehr anhaften als das Menschliche, es ist gut, dass wir nicht so sehr natur sind, aber sind wir das wirklich? Wenn es nicht bald besser wird, wird es sich sehr schnell zeigen, ob die paar tausend Jahre Zivilisation etwas gebracht haben, dann schlachten wir uns auch ab, wenn’s nicht ums nackte Überleben geht, wie wird es erst sein, wenn es wieder darum geht, es geht auf den Herbst zu und mal angenommen, ich hoffe und glaube nicht, dass es so ist, aber mal angenommen, es ändert sich nichts, der Strom bleibt auch nächste und übernächste und überübernächste Woche weg, was wird passieren? Wir werden hungern, denn wir haben verlernt, mit der Natur zu leben und bald wird es für einige Zeit für uns nichts mehr zu essen geben und viele könnten sterben, durch den Hunger oder die Hand eines anderen, die geführt wird vom Hunger, die Angst vor beidem wird bei vielen das Menschliche zerstören. Das, was uns ausmacht: Nächstenliebe, Mitleid. Auch bei mir. Bin ich bereit zu töten, um zu überleben? Ich hoffe es. Ich hoffe es nicht. Ich weiß es nicht. Würde ich für meine Familie töten? Die Familie ist das Wichtigste. Was machen wir für einen Stress um unser Leben! Aber jetzt, jetzt sind wir trotzdem hilflos.

Am Anfang war die Dunkelheit

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