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sechs.

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sechs.

Spät am Nachmittag des nächsten Tages blickte ich aus dem Fenster und sah meinen Nachbarn Stefan, wie er mit weißer Farbe die Fensterscheiben seines Hauses anstrich. Caros Mann Stefan war Pächter unserer Tankstelle im Dorf. Er war vier Jahre jünger als ich, sechsunddreißig also und man konnte sich auf ihn verlassen. Wenn er nicht an der Tankstelle arbeitete oder im Angelklub war, stemmte er in seinem Keller Gewichte. Im Sommer konnte man ihn bei offenen Fenstern immer dabei stöhnen hören. Stefan war von den Knöcheln bis zum Hals tätowiert, die meisten Tattoos hatte er selbst gezeichnet. Aufgrund seines hohen Haaransatzes rasierte er sich den Schädel. Im Gesicht trug er einen Vollbart, den er unter dem Kinn zu einem Zopf geflochten hatte. Seine Frau Caro war etwas größer als er, hatte schwarze, kurz geschnittene Haare mit Strähnchen, deren Farbe sie alle paar Wochen wechselte. Sie schminkte sich immer auffällig und trug einen Piercing-Knopf in der Oberlippe. Im Keller ihres Hauses betrieb sie ein kleines Nagelstudio, sie lebte aber hauptsächlich davon, dass sie alten Leuten in unserem Dorf die Füße pflegte. Lucy himmelte sie an, sie spricht auch heute noch ständig von ihr, denn wenn Caro Zeit hatte, lackierte sie auch ihr ab und zu die Fingernägel. Beim letzten Mal waren sie schwarz gewesen.

Im Sommer grillten wir oft zusammen mit den beiden und saßen dann bei ihnen oder uns auf der Terrasse. Nun stand Stefan da an seinem Haus und bestrich hastig die Fenster mit Farbe. Aus dem Kragen seines T-Shirts schlängelte sich entlang der Wirbelsäule ein grün geschuppter Drachenschwanz mit spitzem, rotem Schwert hoch bis zu seinem kahl geschorenen Hinterkopf. Ab und zu verharrte Stefan in dem, was er tat und starrte zum Himmel. Wie ein erschrecktes Tier sah er aus. Es schien, als habe er keine Zeit zu verlieren. Neugierig öffnete ich das Fenster.

»Was machst du da?«, rief ich ihm zu.

Erschrocken drehte Stefan sich um. Fast wäre er dabei in den Eimer mit weißer Farbe getreten.

»Siehst du doch! Hast du’s noch nicht gehört?«

»Was gehört?«

»Das mit dem Reaktor.«

»Was mit welchem Reaktor?«

»Bumm!« und beim »Bumm« sagen, spritzte Stefan nur so mit weißer Farbe um sich.

»In die Luft gegangen ist er. Heut morgen hat mir’s wer erzählt – Leute, die hier mit dem Auto durchkamen. Ich war grad mit dem Hund raus und sie fragten mich nach dem Weg. Ist auch egal. Jedenfalls – die ganze Luft ist verseucht, meinten sie. Die Leute wollten in den Osten. Da sei man angeblich sicher.«

»Wo ist es denn passiert?«

»In Biblis.«

»Das ist über 200 Kilometer entfernt.«

»Der Wind weht es trotzdem her, meinten sie.«

Ich sah zum Himmel. Eine dicke graue Masse zog langsam Richtung Süden über unsere Köpfe.

»Heute kommt der Wind von Nordosten, da weht nichts her«, meinte ich. So ganz sicher war ich mir aber nicht.

»Und wenn doch? Wenn die Strahlung schon hier ist?«, fragte Stefan.

»Dann können wir sowieso nichts tun. Nur die Fenster und Türen geschlossen halten und besser nicht vor die Tür gehen – zumindest, bis die Strahlenwerte weniger geworden sind. Das mit dem Fensteranstreichen bringt übrigens nichts, das schützt dich nur bei einer unmittelbaren atomaren Explosion vor dem Licht, nicht aber vor der Strahlung. Das hab ich mal irgendwo gelesen.”

Stefan sah mich fragend an, dann blickte er in seinen Eimer. Er nuschelte noch etwas in seinen Bart, dass ich nicht verstand, und ging dann eilig ins Haus.

Ich schloss das Fenster und überlegte, was zu tun war. Dann erzählte ich Anna, was Stefan gesagt hatte. Sofort rief sie Lucy ins Haus, die im Garten mit Nero spielte, derweil ich durch die Räume unten und oben im Haus ging und überprüfte, ob alle Fenster geschlossen waren. Ich band mir ein Tuch um den Mund und lief in den Garten und verschloss die Zisterne, damit kein Regenwasser hineingelangen konnte. Zurück im Haus nahm ich Handtücher und presste sie in die Ritzen unter den Türen. Was dann? Wir wuschen uns. Waschen ist gut, dachte ich. Zuerst setzen wir Lucy in die Wanne und wuschen sie so gut es ging mit Mineralwasser ab, dann wusch sich Anna, dann kam ich an die Reihe und anschließend der Kater. Wir schrubbten uns so gut wir konnten, denn die meiste Zeit der letzten beiden Tage hatten wir draußen im Garten oder im Dorf verbracht. Wenn wir Strahlung abbekommen hatten, mussten wir uns so schnell wie möglich davon reinigen – falls das mit Wasser und Seife möglich war. Wir hatten keine Ahnung, ob es half, aber Wasser und Seife waren besser als nichts. Die Kleidung, die wir in den vergangenen Tagen anhatten, warf ich aus dem Fenster. Vom Haareschneiden konnte ich Anna gerade noch abhalten. Irgendwo im Keller mussten noch Atemschutzmasken vom Umbau liegen, was wenn, dachte ich … Aber halt! Wenn Strahlung in der Luft war, war es nicht sicher, dass sie bei den Windverhältnissen, in denen der Wind die Strahlung weg Richtung Süden trug, überhaupt hierherkam. Aber woher sollte man das wissen?

Ich hatte keine Ahnung von atomarer Strahlung, Empfehlungen gab es keine, wir wussten ja so gut wie nichts darüber – außer, das nach dem Unfall in Tschernobyl, auch noch viele Jahre nach der Katastrophe, die Gegend darum noch immer unbewohnbar war. In Bayern, so hatte ich mal gelesen, könne man noch heute im Fleisch von Wildschweinen ein geringes Maß an Radioaktivität nachweisen. Andererseits jedoch: Fukushima hatte zwar das Leben tausender Japaner für immer verändert, aber lebten die Einwohner von Tokyo nicht wieder wie eh und je in ihrer Stadt? Zumindest die meisten? Und sie waren auch nicht weiter weg von Fukushima als wir von Biblis. Wir durften uns nicht so viele Gedanken machen, dachte ich. Das sagte ich Anna und nahm ihr die Schere aus der Hand.

»Meinst du wirklich, es reicht, ein paar Tage bei geschlossenen Fenstern in der Wohnung zu sitzen? Ich glaube nicht!«

»Mehr können wir nicht tun, Schatz. Was willst du machen? Die Koffer packen und weg? Und wo willst du dann hin? Auch in den Osten? Dort kennen wir doch niemanden, der uns aufnehmen könnte.«

»Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«

»Wir bleiben erstmal hier und sitzen es aus.«

»Zuhause sitzen und abwarten. Aussitzen. Prima Idee!«

Sie schnappte sich Lucy und den Kater und ging nach oben in Lucys Zimmer.

Ich kam mir vor wie Noah in der Arche. Allerdings nur mit einem Kater. Das Verschwinden der Sintluft versuchte ich aus dem Wind zu erkennen, der die Äste der drei haushohen Birken im Garten sanft berührte oder auch mal kräftig schüttelte. Wenn ich aus dem Fenster schaute, war niemand auf der Straße zu sehen, nur streunende Katzen und lose herumfliegende Reklameblättchen von einem Optiker aus der Stadt.

Vier Tage blieben wir im Haus, aßen unsere Vorräte und schlugen irgendwie die Zeit tot. Es hieß abwarten und den Lichtschalter ausprobieren, die Sicherungen hoch- und wieder runterfahren. Und dasitzen. Einfach nur dasitzen und lesen und beobachten, wie sich am Himmel die Wolken formierten. Die Tage glitten monoton dahin. Was mir neben Fernsehen und Internet fehlte, war die Möglichkeit, zu arbeiten oder wie früher, als ich noch mehr Zeit hatte, meine Langspielplatten zu hören, während ich auf der Terrasse saß und las. Diese verdammte, ungewohnte Stille!

Am Anfang war die Dunkelheit

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