Читать книгу Am Anfang war die Dunkelheit - Björn Täufling - Страница 4
zwei.
Оглавлениеzwei.
Zwanzig Minuten später waren wir daheim. Jener Tag war ein herrlich heißer Spätsommertag, an dem die Luft vibrierte, flimmerte, still stand. Ein Tag, an dem sich alles Leben verlangsamte, schlief oder vor sich hindöste, um Kraft zu sparen. Ich stieg aus, nahm die Einkäufe aus dem Kofferraum und ging zur Haustür und wartete dort auf Anna. Ich wartete. Ungeduldig schaute ich in den Himmel und auf einmal war da diese Schneeflocke. Sie fiel langsam vor meinen Augen zu Boden. Ich hatte sie aus dem Augenwinkel heraus bemerkt und war ihr instinktiv ausgewichen, sonst wäre sie genau auf meiner Nase gelandet. Ich hatte mich erschrocken, denn wer denkt schon im Sommer an Schneeflocken? Ich sah in den dunkelblauen Himmel: Weit über mir thronte stolz und allein eine kleine, weiße Wolke. Die Einzige weit und breit. Kam die Schneeflocke von dort?
Vielleicht war sie auch von den Nachbarn herüber geweht, war künstlich, irgendetwas, nur kein richtiger Schnee. Aber kurz gesehen, gespürt hatte ich sie, sie hatte mich an der Nase gekitzelt und war mir wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen, das an eben diesem heißen Tag auf mich herabgefallen war.
»Hast du deinen Schlüssel nicht eingesteckt?« Anna lud mir zusätzlich noch ihre Tüten auf und öffnete die Tür.
»Da war gerade eine Schneeflocke auf meiner Nase.«
»Um diese Jahreszeit? Das wird wohl eher eine Feder gewesen sein.«
»Doch, echt!«
»Eine Feder ist aber wahrscheinlicher als eine Schneeflocke.«
»Es war aber eine!«
»Wenn du meinst ... Jetzt komm rein und hilf mir beim Auspacken.«
Drinnen war es angenehm kühl. Und ungewöhnlich leise.
Unsere Tochter Lucy war an diesem Wochenende noch bei Annas Eltern. Sie sollte erst am darauffolgenden Tag zurückkommen, da Montag die Schule wieder anfing. Sie kam in die Dritte und konnte es kaum erwarten, ihren Freundinnen zu erzählen, dass sie in unserem Urlaub auf Sardinien am Strand eine echte Schildkröte gesehen und sogar angefasst hatte. Schnell kramte ich die Einkäufe aus den Taschen und stellte sie auf den Tisch, damit Anna sie wegräumen konnte, dann nahm ich mir die neue Fernsehzeitung und ein Cola-Bier und ging auf die Terrasse. Kaum hatte ich es mir unterm Sonnenschirm bequem gemacht, rief Anna nach mir:
»Komm mal bitte, die Kaffeemaschine funktioniert nicht!«
»Was blinkt denn?«
»Es blinkt gar nichts.«
»Vielleicht ist der Stecker nicht drin.«
»Der Stecker i s t drin!«
Genervt legte ich die Zeitung auf den Tisch und ging ins Haus, um das Problem zu beheben. Wir hatten den Vollautomaten vor zwei Monaten gekauft. Als ich in die Küche kam, sah Anna mich ratlos an. Nachdem ich sämtliche Knöpfe des Vollautomaten mehrfach gedrückt hatte, bemerkte ich den Fehler. Der Vollautomat hatte keinen Strom. Und damit war er nicht allein: Auch beim An- und Ausknipsen des Küchenlichtschalters machte es nur: Klick. Klack. Klick-klack. Klickklack. Und das war’s auch schon. Es ist seltsam, wie es oftmals die kleinen Dinge des Lebens sind, die einem den Nerv rauben. Meist regt man sich über sie mehr auf, als wenn etwas wirklich Schlimmes geschieht. Das Schlimme ist, wenn es passiert, zu verstörend, als dass man dann die Kraft dazu hätte, sich zusätzlich noch aufzuregen. Ich ging die Treppe hinunter in den Keller, um mit der Lampe meines Handys nach den Sicherungen zu sehen. Sie waren alle in Ordnung.
»Fehlanzeige, die Sicherungen sind okay! Wahrscheinlich haben die von der Stadt bei Arbeiten mal wieder eine Leitung beschädigt!«
An den Stromausfall im Supermarkt und die toten Ampeln und an das, was sie im Radio gesagt hatten, dachte ich schon gar nicht mehr. Anna jedoch schon:
»Doch nicht auch hier bei uns, oder? So eine Scheiße!! Und das bei der Hitze! Da tauen uns sofort die Gefriertruhe und der Kühlschrank ab! Was mache ich mit den ganzen Sachen, die ich gerade gekauft habe? Das wird ja alles schlecht. Das kann ich morgen wegschmeißen!«
Ich ging zu ihr und gab ihr einen Kuss auf den Hals, das beruhigte sie immer, wenn sie aufgeregt war.
»Wir stellen die Sachen erst mal in den Keller. Da ist es ziemlich kühl. Oder frag doch Caro, vielleicht hat sie ja Platz in ihrem Gefrierfach – die haben sich doch erst so 'n Riesenteil gekauft.«
»Die sind nicht da. Die kommen erst morgen oder Montag wieder aus dem Urlaub. So genau weiß ich das nicht. Und außerdem: Wenn das die ganze Straße betrifft, dann haben Caro und Stefan auch keinen Strom … Aber du hast recht. Wir stellen die Sachen erst mal in den Keller, am besten hinten in die Ecke neben dem Schrank, indem das Werkzeug liegt, da ist es am kühlsten. Kannst du …? Ich ruf mal meine Mutter an.«
»Ist schon okay.«
Sie nahm sich das Telefon und ging auf die Terrasse, derweil ich mich daran machte, die Lebensmittel aus dem Kühlschrank und dem Gefrierfach in den Keller zu tragen. Anna kam wieder in die Küche.
»Das Telefon geht nicht!«
»Das hätte ich dir sagen können. Wenn der Strom weg ist, kannst du damit auch nicht telefonieren.«
»Aber vielleicht will Lucy uns anrufen, und wenn sie uns nicht erreicht, macht sie sich Sorgen.«
»Wenn sie uns übers Festnetz nicht erreicht, probiert sie’s auf deinem oder meinem Handy.«
»Handy – du sagst es! Ich rufe jetzt mal den technischen Notdienst an. Holst du mir das Telefonbuch?«
»Schaue doch lieber im Internet nach, das geht schneller!«
»Halt, warte mal! Sieh mal«, sie hielt mir ihr Handy entgegen.
»Was bedeutet das Zeichen da oben?«
»Das bedeutet, dass du keinen Empfang hast.«
Anna nahm ihr Handy und lief die Treppe hoch und dann durchs ganze Haus. Aber in welchem Raum sie auch war, nirgendwo hatte sie Empfang. Ich zog mein Handy aus der Tasche. Auch ich hatte keinen Empfang. Ich ließ es dabei bewenden und packte alles Tiefgefrorene in eine Kühlbox, und legte unsere blauen Kühlakkus dazu, die sich glücklicherweise noch im Gefrierschrank befunden hatten, und brachte alles in den Keller. Lange konnte der Stromausfall bei uns in der Straße noch nicht her sein, dachte ich, denn der Gefrierschrank begann gerade erst, abzutauen. Nachdem ich alles, was schnell verderben konnte, so kühl wie möglich im Keller gelagert hatte, setzte ich mich wieder auf die Terrasse. Anna stand im Türrahmen. »Nichts«, sagte sie. Sie sah mich an. Sie erwartete eine Antwort von mir, aber das Einzige, was ich ihr bieten konnte, war ein trauriger Blick und ein Schulterzucken – beides war ihr nicht genug.
»Ist schon gut, bleib sitzen«, fauchte sie und lief ums Haus herum auf die Straße. Verdutzt sah ich ihr nach. Meiner Meinung nach konnte man außer Warten bei einem Stromausfall wie diesem nichts tun. Was, bitte schön, sollte man denn tun? Alle Elektriker und Telefonanbieter des Planeten verfluchend, kam Anna nach wenigen Minuten wieder mit schnellen Schritten über den Kiesweg zu mir, ihr Handy hielt sie wie eine Waffe in der Hand. Schnaubend stürzte sie an mir vorbei durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Erst hörte ich nichts, dann das Klimpern von Schlüsseln und dann, wie die Haustür ins Schloss fiel. Wow. Ich wollte nicht in der Haut desjenigen stecken, der am anderen Ende der Leitung war, sollte Anna tatsächlich jemanden von irgendeinem Not- oder technischen Hilfsdienst erreichen. Wenn Anna richtig aufgebracht war, war sie nur schwer wieder zu besänftigen. Auch Lucy ist manchmal so. Sie ist dann wie der tasmanische Teufel aus der Zeichentrickserie Looney Tunes und man geht ihr dann besser aus dem Weg. Die Sache beschäftigte mich. Und ich war neugierig, wo meine Frau hinwollte. Also stand ich auf und sah um die Hausecke. Ich sah nichts, also jedenfalls nicht meine Frau, dafür hörte ich ein unschönes Kratzen aus dem Getriebe des Clio und dann, wie sie mit quietschenden Reifen davonraste. Wo wollte sie hin? Hätte ich besser mitfahren oder ihr irgendwie meine Hilfe anbieten sollen? Mit schlechtem Gewissen setzte ich mich wieder in meinen Gartenstuhl und nahm mir die Zeitung, aber ich war unfähig, mich auf die Artikel und das Programm zu konzentrieren. Ich starrte in den Himmel und ertappte mich dabei, wie ich nach weiteren weißen Wölkchen suchte, die mir mitten im Spätsommer den ersten Schnee brachten. Ich verstand Annas ganze Aufregung nicht. Stromausfälle passieren eben, da muss man mit leben, auch wenn’s unangenehm ist. Aber ihre Nervosität hatte mich angesteckt.
Nero kam um die Ecke des Hauses geschlichen, das schwarze Fell von Lucys Kater glänzte in der Sonne. Er blieb stehen, streckte sich und gähnte ausgiebig. Dann funkelte er mich mit seinen grünen Augen an. Seine beiden vorderen Tatzen waren weiß, es sah aus, als habe er Stiefel an. Lucy nannte ihn Nero, ich nannte ihn lieber Anton, nach dem Schauspieler Antonio Banderas, der dem gestiefelten Kater in Shrek die Stimme geliehen hatte. Ich fand, das passte – Nero für einen schwarzen Kater war mir zu offensichtlich. Der Kater kam zu mir und strich mir zwei-, dreimal um die Beine, maunzte und verschwand dann durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Nach etwa einer Stunde kehrte Anna zurück. Komplett verschwitzt und ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich auf die Liege neben mir fallen und starrte ins Leere.
»Nicht schlecht«, sagte ich.
»Was?«
»Dein Start – mit quietschenden Reifen und so. Fährst du Lucy manchmal auch so in die Schule?«
Sie grinste.
»Manchmal«, sagte sie.
Ich sah, dass ihr eigentlich nicht zum Grinsen zumute war. Ihre kleinen, festen Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem verschwitzten T-Shirt ab. Wie warm sie sein mochten, wie heiß und wie salzig die Feuchtigkeit auf ihrer Haut wohl schmecken würde? Der Schweiß auf ihren Schlüsselbeinen glänzte und ein kleiner Tropfen rann links daran herab in ihren Ausschnitt.
»Woran denkst du?«, fragte sie mich.
»An dich«, sagte ich, und ich sah ihr an, dass sie mir nicht glaubte.
»Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht. Hast du deine Mutter erreicht?«
»Nein, habe ich nicht … Ich habe niemanden erreicht.«
Anna erzählte mir, dass sie durch das ganze Dorf gefahren war und sich anschließend auf den Weg in die Stadt gemacht habe. Bis in die Stadt waren es immerhin fünfzehn Kilometer. Sie sei dorthin gefahren mit der Hoffnung, irgendwo Empfang mit ihrem Handy zu haben. Das sei ja eigentlich nicht zu viel verlangt, meinte sie. Auf dem Weg dorthin habe sie mehrmals an der Straße angehalten, aber auf dem Display ihres Handys hatte sich nichts geändert. Zuerst war sie zu einer Freundin gefahren, doch dort öffnete niemand die Tür und Empfang habe sie vor der Tür auch keinen gehabt. Also war sie wieder ins Auto gestiegen und zur Tankstelle gefahren, um von dort aus zu telefonieren, doch Fehlanzeige, auch dort funktionierte nichts: kein Telefon, kein Strom, kein Sprit, rein gar nichts! Auf der gesamten Strecke, die sie zurückgelegt hatte, sah sie überall dasselbe groteske Bild: herumirrende Menschen auf den Straßen, die alle das Handynetz suchten. Seltsam hatten sie ausgesehen, irgendwie skurril, meinte sie. Wie moderne Rutengänger. Weil die Leute entweder tief über ihr Handy gebeugt gewesen waren oder es winkend nach oben gehalten hatten – so, als könne man mit dieser Geste den Empfang einfangen. Anna lächelte und schüttelte leicht den Kopf, als sie das erzählte. Wieder andere wären einfach so ohne zu gucken über die Straße gelaufen und hatten nur auf ihr Handy gestarrt. Smombies eben – seltsam, dass es so viele von ihnen gab, dass man eigens einen Begriff für sie erfunden hatte. Allesamt hätten sie verzweifelt ausgesehen, wie Kinder, denen man ihr liebstes Spielzeug weggenommen hatte. Und sie waren überall, die empfangsgierigen Smombies. Auf den Balkonen: Menschen mit Handys, sogar auf den Dächern hatten sie gestanden, und bei der Rückfahrt hatte sie um den Sendemast bei uns im Dorf eine riesige Traube verzweifelter Empfangssuchender gesehen. Sie meinte, es habe ausgesehen, als sei der Sendemast kein normaler Sendemast, sondern ein heiliger Ort wie der Tempel in Jerusalem, der Petersdom in Rom oder die Kaaba in Mekka. Einige Wagemutige habe sie sogar hinaufklettern sehen. Und auch der Straßenverkehr sei bedeutend mehr gewesen als sonst an einem späten Samstagnachmittag. Die Parkplätze der Restaurants und Fast-Food-Ketten seien überfüllt gewesen, und bei McDonalds hätten die Autos schon hundert Meter vor dem Restaurant in einer Schlange auf der Fahrbahn gestanden, sodass sie dort fast nicht habe vorbeifahren können – dabei gab’s da gar nichts zu essen. Kein Strom, kein Fast Food, so einfach ist das. Dann war ihr noch der Gedanke gekommen, ob sie nicht kurz bei der Polizeiwache anhalten solle, um dort zu fragen, was los sei. Aber beim Vorbeifahren habe sie vor dem Polizeigebäude eine so große Menschenansammlung gesehen, dass sie gar nicht erst angehalten habe. Sie wusste auch so schon, was geschehen war: In der ganzen Stadt war der Strom ausgefallen.
»Seltsam, oder?«, sagte sie und strich sich ihre langen blonden Haare hinters linke Ohr.
»Ja, das ist sehr seltsam.«
»Was, wenn Lucy uns erreichen will, Jakob? Was, wenn ihr was passiert ist?«
»Was soll ihr denn passiert sein? Sie ist bei deinen Eltern und die passen schon auf sie auf.«
Anna sah mich zweifelnd, fast verzweifelt an, und ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte – wenn mich Menschen verzweifelt ansehen, weiß ich nie, wie ich ihnen helfen soll. In ihrem Gesicht zeichnete sich etwas ab, das man vielleicht nur in Gesichtern von Müttern finden kann. Ich stand auf und kniete mich vor sie hin. Dann nahm ich ihren gesenkten Kopf in beide Hände und sagte ihr, dass sie sich beruhigen solle, unserer Tochter und ihren Eltern gehe es bestimmt gut, sie brauche sich keine Gedanken zu machen, man werde den Fehler schon finden und reparieren und vieles weitere sagte ich ihr noch. Ich hab’s vergessen, aber ihr Lächeln dann, das habe ich nicht vergessen. Morgen früh, sagte ich ihr, werde alles wieder normal ablaufen und wahrscheinlich schon bald, gewiss noch heute, sagte ich ihr, werde uns Lucy mit einem Kontrollanruf auf die Nerven gehen.
Den Rest des Tages blieben wir auf der Terrasse. Und als die Dämmerung einsetzte, machte ich mich mit einer Kerze bewaffnet in den Keller und holte uns eine Flasche Wein, während das Fleisch aus der Gefriertruhe auf dem Grill briet und Anna uns einen Salat zubereitete. Auf der Terrasse war es angenehm. Eine sanfte Brise hatte die Hitze des Tages mit sich genommen und die Blätter der Büsche in unserem Garten zum Flüstern gebracht. Die Vögel saßen vom Tag auf den Giebeln der Dächer und zwitscherten. Anna und ich lauschten ihnen und dem Flüstern in den Büschen, mit unseren Blicken verfolgten wir die Sonne auf ihrem Weg in den Westen. Dann, etwas später, sahen wir dem Licht der Kerze beim Tanzen zu und genossen die durch den Stromausfall hervorgerufene Stille. Ja, es schien, als habe sie dem Leben um uns herum Raum gegeben, den es nun mit seiner eigenen, natürlichen Stimme erfüllen konnte. Wir wunderten uns, wie viel Ruhe diese Stimme uns gab. Gleichzeitig aber dachten wir, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, immer an Lucy – und daran, dass wir weder sie, noch sie uns erreichen konnte. Wir gaben es nicht zu, aber diese Hilflosigkeit fesselte uns, vor allem Anna. Sie nietete sie fest. Wir mussten warten und Warten ist ein unendliches Ziehen der Zeit. Wir mussten uns auf die Kompetenz anderer verlassen, mehr konnten wir nicht tun – wie wenig das war.
Im Laufe des Abends ging immer mal wieder einer von uns hinein und prüfte, ob der Strom wieder funktionierte. In der Küche: der Kühlschrank, die Gefriertruhe, der Ofen, die Mikrowelle, das Ceranfeld, der Mixer, der Toaster, der Wasserkocher, die Kaffeemaschine, der Brotbackautomat, das Radio und die elektrische Käsereibe. Im Wohnzimmer: der Fernseher, der Blu-ray-Player, die Stereoanlage, mein Plattenspieler, der Springbrunnen, der digitale Bilderrahmen, das Licht in der Vitrine und der Raumtemperatur- und Feuchtigkeitsmesser. In meinem Büro: der Computer, der Aktenvernichter, der Drucker, das Telefon. Sowie in allen Räumen das Licht: in der Küche, im Wohnzimmer, im Bad, im Gäste-WC, im Zimmer von Lucy, im Gästezimmer, im Flur, im Treppenhaus, im Keller, in der Waschküche, im Hobbyraum, im Abstellraum, auf dem Dachboden und im Schuppen. Doch der Strom war weg und er blieb weg, da konnten wir die Schalter so oft drücken, wie wir wollten.
Ganze sechsmal ließ ich mich von Anna an diesem Abend in den Keller schicken, um die Sicherungen zu kontrollieren. Es brachte keinerlei Veränderung mit sich, hatte aber den Vorteil, dass ich bei jedem dritten Mal eine weitere Flasche Wein mit nach oben bringen konnte. Die Situation war ungewohnt für uns, denn wir hatten das schon lange nicht mehr getan: Gemeinsam abends auf der Terrasse sitzen und nur den Geräuschen um uns herum zuhören und uns auf uns konzentrieren. Meist saß ich abends, nachdem wir Lucy ins Bett gebracht hatten, noch in meinem Büro und arbeitete, während Anna mit einer ihrer Freundinnen telefonierte, fernsah oder sich schon früh ins Bett legte und las. Ganz selten sahen wir mal gemeinsam fern, meist am Wochenende, sonst lebte aber jeder von uns sein eigenes Leben.
Um uns herum war es absolut still. So still, dass wir sie hören konnten, die Stille. Der Stromausfall sorgte dafür, dass uns an diesem Samstagabend niemand mit seinem Lärm ins Haus treiben konnte. Unsere Nachbarin Frau Lohnsdorf konnte an diesem Samstag nicht ihre Schlagerparade im Fernsehen gucken, der alte Mann von schräg gegenüber musste auf seine Fußball-Liveübertragung im Radio verzichten und die nervigen, lärmenden, pubertierenden Jugendlichen drei Häuser weiter, von denen hörten wir auch nichts. Bis auf ein paar Vögel, die sich gute Nacht sagten, und einem vorbeifahrenden Auto ab und zu, war es ganz leise. Später, kurz vor Mitternacht, bestaunten Anna und ich einen Sternenhimmel, wie wir ihn schon lange nicht mehr gesehen hatten. Das Firmament war so seltsam, so wunderbar klar, keine Wolke war am Himmel zu erkennen. Aber es waren nicht die fehlenden Wolken, die den Himmel klarer machten. Es war das fehlende Licht, das dem ewigen und unendlichen Himmelsgewölbe in unseren Augen seine majestätische Größe wiedergab. Wir – wir haben mit unserem künstlichen Licht dem Licht des Himmels seine Wichtigkeit genommen. Wir haben uns dieses Licht genommen und kaum einer hat noch nach oben geguckt, so dachte ich, als ich zum ersten Mal diesen neuen Himmel über mir bewunderte, den ich seit dieser Nacht, in der die Dunkelheit begann, in jeder klaren Nacht bewundern kann. Keine Lichter hinter den Fenstern, keine Straßenlaterne, kein Discostrahler, keine Leuchtreklame, nichts verunreinigte uns die Sicht in die Endlosigkeit und auf die kleinen, hellen Punkte, die dort oben leuchten und von denen es viele schon lange nicht mehr gab.
In jener Nacht tranken wir vier Flaschen Wein und als die Vögel schon anfingen zu zwitschern und der Horizont wieder an Helligkeit zunahm, trug ich Anna hoch ins Schlafzimmer. Sie trank fast nie Alkohol und war zu betrunken, um selbst noch gehen zu können. Ich half ihr beim Ausziehen, und wie sie so hilflos vor mir lag, erinnerte sie mich stärker als jemals zuvor an Lucy. Lucy. Sie hat die Zähigkeit, die anliegenden Ohren und die Form der Nägel von mir geerbt. Das Aussehen, die Intelligenz, die Anmut und den Witz und die Sturheit hat sie von Anna. Sie fehlte mir und ich machte mir Sorgen um sie, auch wenn ich nicht wusste, weshalb.