Читать книгу Koexistenz! - Bono Blütner - Страница 11
Das Internet
ОглавлениеEs war Winter, Weihnachtszeit. Es muss Anfang der 90er Jahre gewesen sein, als es mir erstmals gelang, von zuhause aus, im Wohnzimmer auf dem mit altrosafarbenem Schlingenteppich ausgelegten Boden liegend, eine Verbindung zum Internet herzustellen. Maria war schon im Bett. Sie interessierte sich weder für Computer noch für Internet. Technik und Maria ließen sich sowieso in keinerlei Hinsicht unter einen Hut bringen. Schon Fernseher, Walkman und Fotoapparat stellten zeitweise Hürden dar, die sie kaum bewältigte. Sie erfüllte das Klischee einer technisch völlig unbegabten Frau in vollem Umfang.
Ich war oft deutlich länger auf als sie und konnte auf diese Weise ungestört meinen Interessen nachgehen. Meine neueste Errungenschaft war ein Modem von Creative Labs, das unglaublich schnell war. Es sollte, wenn es denn irgendwann einmal lief, eine Übertragungsrate von 128 KB/s erreichen. Zu einer Zeit, in der ein Akustikkoppler praktisch noch den Standard repräsentierte, war das ein nahezu ungeheurer Wert.
Mein PC war eine riesige Kiste, dessen Leistungswerte man heute nur noch belächeln würde. Er hatte eine Festplatte mit fantastischen 100 MB Speicherkapazität, die ich allerdings über ein Komprimierungsprogramm auf sagenhafte 300 MB erhöhte. Damals war das ein teures Gerät, erworben bei Conrad Elektronik in Dortmund, und ich war glücklich, dass ich es besaß. Der Umstand, dass nicht nur ich es erwarb, sondern auch ein paar meiner Kollegen, führte dazu, dass wir einen Sammeleinkauf organisieren konnten, was die Sache preiswerter machte. Wir waren in der guten Position über ein halbes Dutzend dieser Computer zu verhandeln. Das brachte jedem von uns einen Hunderter und eine Gratismaus.
Ein funktionierender Internetanschluss zu Hause würde eine großartige Sache sein. Bisher hatte ich nur von meinem Arbeitsplatz aus Zugriff auf das Netz. Als Browser diente damals noch überwiegend der Netscape Navigator, der in den ersten 1990er Jahren den Markt beherrschte. Es gab kaum Alternativen, und auch der Internetexplorer steckte noch in den Kinderschuhen. Der Browserkrieg, der später die Vorherrschaft des Netscape Navigators beenden würde, hatte noch nicht begonnen. Für mich allerdings war das an diesem Abend egal, weil ich weder den einen noch den anderen brauchte, denn ich hatte von irgendwoher eine AOL-Diskette, die damals als Beilage zu allen möglichen Computerzeitschriften verteilt wurden.
Ich nahm mein neues Modem zur Hand, von dem ich nur wusste, dass es angeschlossen und in Betrieb genommen werden musste, um damit ins Internet zu gelangen. Wie und warum das Ganze funktionierte, verstand ich nicht. Der physikalische Anschluss war unproblematisch. Es musste natürlich an den Strom und den Telefonanschluss und schließlich an die serielle Schnittstelle meines Computers angeschlossen werden. Davon gab es nur eine, insofern wurde mir keinerlei technisches Knowhow abverlangt. Nachdem alle notwendigen Kabel verbunden waren, startete ich das Installationsprogramm der Diskette. Plug & Play gab es noch nicht. Ich musste also unter den vielen von dem Installationsprogramm angebotenen Modems das Richtige finden und auswählen. Es versteht sich fast von selbst, dass genau der Typ meines Gerätes natürlich nicht aufgeführt war. Mir blieb nichts anderes übrig als zu experimentieren, und wie immer, wenn man etwas Neues ausprobiert, funktionierte das zunächst nicht. Eine ganze Stunde bastelte ich schon an dem Zugang, als plötzlich dem pfeifenden Erkennungston des Modems folgend eine sehr sympathische weibliche Stimme »Willkommen« sagte. Ich war wirklich überrascht, weil ich in Gedanken bereits aufgegeben hatte und machte Augen wie Boris Becker, der für AOL warb und dachte: »Ich bin drin!«
Dieser Moment war der Beginn eines sehr bedeutsamen und bis heute anhaltenden Wandels meines Lebens. Es begann mit einem aufregenden Kribbeln in der Magengegend, das mir bis heute lebhaft in Erinnerung ist, symbolisiert es doch meine kindliche Aufregung ein unerwartetes Ziel erreicht zu haben. Der Pessimist in mir hatte mir kaum Hoffnung gemacht, den Weg in das Internet tatsächlich zu finden. Umso erfreuter war ich, als es dann doch gelang, und wann immer mich die freundliche Stimme willkommen hieß, kehrte das Kribbeln zurück. Ich öffnete sozusagen eine Tür in eine andere Welt und hatte keine Vorstellung davon, was mich dahinter erwartete.
Anfang der neunziger Jahre waren die Internetverbindungen noch sehr langsam, so dass die Inhalte von Webseiten sich im Wesentlichen auf Text beschränkten. Bilder waren eher die Ausnahme, Videos erst recht. Meine ersten Gehversuche machte ich über AOL. Mir war zunächst gar nicht klar, dass es neben dieser Oberfläche, die für damalige Verhältnisse schon recht aufwendig und bunt war, noch ganz viele andere Dinge zu entdecken gab.
Mir begegneten Begriffe wie ›Chat‹ oder ›Newsgroups‹. Ich erinnere mich wie heute an meine Faszination, als ich erstmals einen Chatroom betrat und feststellte, dass dort auch andere waren, mit denen man quasi in Echtzeit ›reden‹ konnte. Als nahezu unfassbar empfand ich es, dass ich mit einem Amerikaner kommunizierte, der sich in dieser Sekunde auch tatsächlich in Amerika aufhielt.
Es dauerte nicht lange, bis ich die ersten sexuellen Inhalte entdeckte und glaube mich zu erinnern, dass ich das nicht besonders spannend fand, weil es zunächst nur Texte waren. Da gab es erst einmal nichts, was mich wirklich interessierte.
Ich war ein ganz normaler Mann, der langsam auf die 30 zuging und hatte eine im Großen und Ganzen völlig normale Entwicklung durchlebt. Mit sechzehn hatte ich mit Carina meine erste richtige Freundin, was nicht sonderlich lange hielt, aber in diesem jungen Alter war das eben so. Von da an war ich nie mehr allein, denn ich hatte immer und fast unterbrechungsfrei Freundinnen. Ungewöhnlich war vielleicht, dass meine erste wirklich lang andauernde Beziehung bereits mit neunzehn begann. Diese Frau, Maria, hatte ich zwischenzeitlich geheiratet. Heute denke ich, dass ich mir in den drei Jahren von sechzehn bis neunzehn die Hörner nicht wirklich abgestoßen habe, ohne es allerdings als echte Beeinträchtigung zu empfinden. Ich war das, was man eine ehrliche Haut nannte und ging meinen Freundinnen nicht fremd, und ich knutschte auch nicht fremd. Carina habe ich so heiß und innig geliebt, wie es nur ein pubertierender Junge kann, dessen Gefühle erstmals Achterbahn fahren, und ich hätte damals alles für sie getan. Für ihre Nachfolgerinnen empfand ich ganz sicher tiefe Zuneigung, in bestimmten Momenten vielleicht auch mal so was wie Liebe, aber erst als ich Maria kennenlernte, setzten sich meine Gefühle erneut in eine Achterbahn. Diesmal war sie deutlich spektakulärer, denn sie hatte Schikanen und Loopings.
Immer noch im Wohnzimmer auf dem altrosafarbenen Schlingenteppich liegend, surfte ich stundenlang weiter im Internet und stieß auf die ersten Bilder. Ich erinnere mich nicht an Details, und wahrscheinlich war es nichts Pornografisches, aber es müssen mindestens hübsche Frauen in wenig oder gar keiner Bekleidung gewesen sein, sonst hätten sie mich nicht interessiert. Auf jeden Fall jedoch machten sie mich neugierig auf mehr. Diese erste Begegnung mit sexuellen Inhalten setzte etwas in Gang, dass nie wieder aufhören würde, denn von Stund an suchte ich nach Texten, Bildern und den ganz seltenen Videos. Anfangs hielt sich das noch in vertretbaren Grenzen, und wahrscheinlich machte ich genau das, was jeder andere junge Mann mit Internetzugang auch tat, na sagen wir die meisten, um nicht alle über einen Kamm zu scheren. Später aber entwickelte sich das Suchen zu einer Manie. In dieser ersten Nacht blieb es bei den paar Nacktbildchen, doch es folgten viele weitere Nächte. Am Tage, wenn ich mein Tun nicht verbergen konnte, suchte ich nach unverfänglichen Dingen, und natürlich machte ich nicht jede Nacht zum Tag, doch es gab viele Abende, an denen Maria müde ins Bett ging und ich ihr sagte: »Ich bleibe noch eine Weile auf. Schlaf schön.«
Sie holte sich ihren Gute-Nacht-Kuss ab und ging ins Bett. Meist wartete ich noch einige Zeit, bevor ich an den PC ging und überbrückte die nicht enden wollenden Minuten mit Fernsehen. Erst wenn ich ganz sicher war, dass sie schlief, schaltete ich den Computer ein. An dieser Stelle bereits begann ich sie zu hintergehen. Ich ging ihr sozusagen heimlich mit meinem PC, bzw. mit dem, was es dort zu sehen gab, fremd. Ohne Zweifel hätte sie mir das, wenn sie es mitbekommen hätte, übelgenommen.
Zu Beginn war mein Umgang mit diesem neuen Medium sehr ungelenk. Es war gar nicht so einfach fündig zu werden, zumal es sich wahrscheinlich so verhielt, dass es in dieser Zeit nur wenig pornografische Webseiten gab. Wenn mein Stöbern mal zu einem Erfolg führte, merkte ich mir die Adressen, um nach einer Unterbrechung genau dort wieder aufzusetzen. Natürlich waren die Suchmaschinen damals bei weitem nicht so weit entwickelt wie heute. Die Suche nach bestimmten Themen im Internet war sehr viel aufwendiger als jetzt. Außerdem hatte ich immer das Gefühl, dass auch eine gewisse Zensur stattfand.
Aber ich lernte schnell dazu. Es war auf jeden Fall hilfreich, die letzten Fundorte als Ausgangspunkt für neue Expeditionen zu nutzen, denn schon damals fand, wenn auch in sehr geringem Maße, eine Verlinkung statt. Aus den relativ unverfänglichen Bildern wurden spätestens in dem Augenblick Pornografische, als ich die Newsgroups für mich entdeckte. Es war ein echter Sündenpfuhl, so jedenfalls war mein Empfinden, weil dort Themen behandelt wurden, die mir nie zuvor in meinem Leben begegnet sind. Da gab es Dinge, von denen ich aus ehrlicher Überzeugung auch wirklich nichts wissen wollte. Damals!
Ich begann Bilder herunterzuladen und auf meiner riesigen Platte abzuspeichern. Sie waren klein und nicht von überragender Qualität. Außerdem dauerte das Herunterladen eines einzelnen Bildes durchaus mehrere Minuten. Das alles störte mich nicht, denn das war Stand der Technik, und ich hatte keine andere Erwartungshaltung. Ich entwickelte eine wahre Sammelleidenschaft und speicherte im Laufe der Zeit sicherlich mehrere tausend Bilder auf meinen PC ab.
Mir missfiel, dass ich ständig Gefahr lief, von Maria in einem unpassenden Moment überrascht zu werden, und sei es nur weil der Harndrang sie trieb und sie deshalb an mir und meinem Computer vorbeimusste. Wenn es schlecht lief, würde sie augenblicklich begreifen, warum das Internet wirklich so interessant für mich war. Darüber hinaus gab es keinen richtigen Schreibtisch und somit auch keinen geeigneten Platz, um den PC so unterzubringen, dass es in unserem Wohnzimmer nicht permanent so aussah, wie auf einer Baustelle. Also verfrachtete ich ihn und das ganze Equipment auf den Dachboden. Dort gab es ausreichend Platz, und was noch viel wichtiger war, ich hatte meine Ruhe. Der Dachboden wurde zum neuen Zuhause meines PCs und damit nach einiger Zeit auch zu meinem. Nicht nur, dass ich die Technik hier oben viel sinnvoller unterbringen konnte, nein, ich entzog mich auch den Blicken meiner Frau, die mir natürlich gelegentlich über die Schulter sah und mich fragte, warum ich so viel Zeit mit dem Computer verbringe. Ich fühlte mich beobachtet und nur durch Glück noch nicht ertappt. Was fehlte, war der Telefonanschluss, und für ihn musste ich noch ein wenig Geduld aufbringen, denn ich wollte dort oben eine eigene Nummer. Es waren die dunkelsten Zeiten der Telekom, die wegen ihres offensichtlichen Unvermögens ihre Arbeit zu erledigen in der Öffentlichkeit regelmäßig zerrissen wurde, und so dauerte die Freischaltung, wie sollte es anders sein, etliche Wochen.
Irgendwann aber war der Umzug vollzogen, und ich ging fast jeden Abend dort hoch, um meiner neuen Leidenschaft nachzugehen. Ich verfuhr wie früher. Wenn Maria ins Bett ging, blieb ich noch eine Weile vor dem Fernseher sitzen, und wenn ich glaubte, dass sie eingeschlafen war, schlich ich mich nach oben. Wann immer die freundliche Stimme aus dem Computer mich mit ihrem »Willkommen« begrüßte, verspürte ich eine freudige Erregung. Ich tat etwas Verbotenes, und ich tat es gern.
Vieles von dem, was ich im Laufe der Zeit zu sehen bekam, stieß mich ab, so zum Beispiel Sex mit Tieren, Sex mit Toten oder Sex unter Männern. Ganz schrecklich fand ich Sex mit Exkrementen, insbesondere das Spiel mit der Scheiße. Während die meisten dieser Praktiken für mich tabu blieben, stellte ich irgendwann fest, dass die Geschichte mit den Männern meine Aufmerksamkeit erregte, denn sie begegneten mir auch außerhalb der Newsgroups, nämlich in den Chatrooms. Von denen bot die AOL-Oberfläche eine ganze Menge, und darüber hinaus war es möglich eigene Räume zu eröffnen. Die Namen der Räume konnten individuell vergeben werden und wurden so gewählt, dass man erkennen konnte, welche Themen die Gespräche in ihnen zum Inhalt haben würden. Man wusste also ungefähr, auf welches Klientel man traf. Zu meiner großen Überraschung schien es hier unglaublich viele Schwule zu geben. Natürlich betrat auch ich irgendwann einen dieser Räume. Ich konnte sehen, dass er gut besucht war, denn es gab eine Auflistung von Namen, die von den Anwesenden als Pseudonyme genutzt wurden.
Eine Konversation allerdings fand hier nicht statt, denn alle Gäste machten dasselbe. Sie betraten den Raum, um andere beim Gespräch zu belauschen, weil das aber alle taten, passierte hier nichts. Ich war neugierig und nutzte meine Anonymität, und anders als im echten Leben, mutierte ich zu einem Animateur und begann Unterhaltungen zu provozieren. Dazu brauchte es nicht viel. Mal grüßte ich einfach nur höflich, mal warf ich den Anwesenden im Raum vor, dass sie alle so still waren. Später als ich erfahrener war, ließ ich gerne auch mal eine Obszönität fallen, was in der Regel zu ein oder zwei Antworten führte, auf die ich umgehend reagierte. Mein Trick war denkbar einfach. Ich war Profi auf meiner Tastatur und schrieb, dem Besuch eines mehrmonatigen Schreibmaschinenlehrgangs sei Dank, extrem schnell. Die schnellen Antworten meinerseits führten dazu, dass sich keine Pausen ergaben, die ein solches Gespräch wieder einschlafen ließen. Bedingung war natürlich, dass sich neben den ganzen Dumpfbacken, die sicherlich den Großteil der Chatroombesucher bildeten, wenigstens ein oder zwei Personen im Raum befanden, die wirklich an einem Gespräch interessiert waren.
Anfangs war der Antrieb zu solchen ›Unterhaltungen‹ nur Neugier und Verwunderung darüber, dass in diesen Chatrooms alle Männer schwul zu sein schienen. Für mich selbst war das seinerzeit kein Thema, aber die ›Dialoge‹ wurden mehr und intensiver. Wenn sich überhaupt jemand fand, der chatten wollte, dann war das Thema fast immer Sex unter Männern. Solche Unterhaltungen begannen sehr häufig mit ›Worauf stehst du denn so?‹ oder ›Was suchst du?‹
Manchmal war der Aufwand, den meine Gesprächspartner betrieben außerordentlich minimalistisch. Da öffneten sich Sprechblasen, in denen stand einfach nur ›Sex?‹. Ich ließ mich auf diese Gespräche ein, allerdings zunächst etwas zögerlich. Für mich war Homosexualität anderer nie ein wirkliches Tabu, nur war sie mir viele Jahre nicht begegnet.