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Cybersex

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Immer öfter fand ich den Weg auf den Dachboden. Ich suchte in den Chatrooms nach Gesprächspartnern und auch nach Gesprächspartnerinnen. Natürlich gab es auch ›Kontakträume‹ für Heterobeziehungen, allerdings vernehmlich weniger, und was in den Heteroräumen in der Regel auch fehlte, waren die Frauen. Auch sie waren überwiegend mit irgendwelchen männlichen Dumpfbacken gefüllt, die glaubten, ihr Schweigen würde am Ende zu irgendeinem Kontakt führen. Wenn man auf Frauen traf, musste man sich immer die Frage stellen, ob es auch wirklich welche waren, und wenn der Tonfall zu derb ausfiel, konnte man unterstellen, es mit einem Mann zu tun zu haben, dessen Notgeilheit ihn dazu trieb, sich mit Männern aufzugeilen und sich dabei wahrscheinlich am anderen Ende der Leitung einen herunterzuholen. Man brauchte schon sehr viel Geduld. Die Geduld, die ich aufbrachte, führte schnell zu einem gefährlichen Schlafdefizit. Ich nahm mir regelmäßig vor, um Mitternacht ins Bett zu gehen, aber meist überschritt ich diesen guten Vorsatz um eine bis drei Stunden.

Ein Problem ergab sich auch aus dem Umstand, dass die Telefonkosten, also auch die Internetverbindungskosten, seinerzeit noch nach Einheiten abgerechnet wurden. Eine Einheit kostete damals knapp über 23 Pfennig und dauerte zirka acht Minuten, das heißt, dass für eine Stunde Internet ungefähr 1,73 DM, umgerechnet rund 0,88 Euro fällig wurden. Unsere Telefonrechnungen explodierten und hohe dreistellige Beträge wurden zur Regel. Maria machte mir diesbezüglich große Vorwürfe. »Das ist ja Wahnsinn. Über 300 Mark für eine Telefonrechnung.«

Solange sich der Vorwurf auf die Kosten beschränkte, konnte ich ja noch damit umgehen, aber natürlich kam am Ende der Diskussion jedes Mal die Frage: »Was machst du eigentlich immer im Internet?« An meine Antworten auf solche Fragen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Es muss mir allerdings gelungen sein, meine ›Aktivitäten‹ irgendwie plausibel zu erklären, denn die Fragerei ließ im Laufe der Zeit etwas nach, obgleich die Höhe der Telefonrechnungen kontinuierlich weiter anstieg.

Aus der anfänglichen Neugier wurde im Laufe von Wochen und Monaten eine Sucht. Fast jede Nacht schlich ich mich auf den Dachboden und suchte nach neuen Kicks und dann irgendwann auch ganz ernsthaft nach Kontakten. Diese Sucht begann mein Leben zu beherrschen.

Nächtelang chattete ich mit Männern oder Jungen und tauschte aus heutiger Sicht recht harmlose Fantasien aus. Zu Beginn durchforstete ich die Auflistungen der Chatrooms, deren Namen in den meisten Fällen auf die Themen schließen ließen, mit denen sich die Besucher der Räume befassen wollten. Meine Wahl fiel auf die, deren Namen erkennbar dafürsprachen, dass es sich um Kontakträume für ›Gleichgesinnte‹ handelte. So ein Raum hieß zum Beispiel ›Schwul in Riemke‹. Damit erhöhte sich die Chance, dass die Gesprächspartner so nahe waren, dass man sich theoretisch mit ihnen hätte treffen können. Ich begann immer damit mir die Profile von anderen Besuchern anzuschauen, die damals bei weitem noch nicht so komplex waren, wie sie es heute sind. Meistens bestanden die Namen der Gäste aus irgendeinem Spitznahmen und einer Zahl, anhand derer man auf das Alter schließen konnte. Ob das immer so stimmte, lasse ich an dieser Stelle einmal dahingestellt sein. Ich war damals unter 30, und mir ging es wie den meisten anderen. Wenn ich mir überhaupt vorstellen konnte, sexuelle Handlungen mit einem Mann vorzunehmen, durfte der auf keinen Fall älter sein als ich selbst. Natürlich waren dort auch ›Ältere‹, die nur dann eine Chance bei den jungen Bengeln hatten, wenn sie, was ihr Alter anging, schummelten. Dass die Wahrheit spätestens ans Licht treten würde, wenn man sich tatsächlich traf, ließen die meisten sicherlich zunächst außer Acht und verschwendeten damit ihre Zeit und auch die der anderen.

Anfangs hatte ich sicherlich nicht die Absicht, die Fantasien, über die man hier sprach, in die Realität umzusetzen, aber die Frage stellte sich dann irgendwann doch. Man tauschte sehr viele Bilder, natürlich nicht die eigenen, und ich stellte plötzlich fest, dass auch ein junger Mann durchaus eine gewisse Attraktivität für mich haben konnte. Ich selbst war darüber am meisten erstaunt, denn ich habe viele, sehr viele Jahre nicht an Homosexualität gedacht. Dieses Thema existierte für mich einfach nicht. Bei der Betrachtung der damals noch ziemlich verpixelten Bilder von androgynen Jungs, die natürlich mit Riesenschwänzen ausgestattet waren, in Verbindung mit der sehr theoretischen Annahme, dass mein Gesprächspartner dieser Junge auf dem Bild war, lösten in mir erstmals ein noch sehr zögerliches Verlangen nach Berührungen aus. Und so begann ich die Gespräche zu erweitern, wenn mein Gegenüber es zuließ. Man beantwortete die Frage ›Worauf stehst du denn so?‹ wahrheitsgemäß mit ›Blasen und Ficken‹ und fragte dann ganz vorsichtig ›Woher kommst du denn eigentlich?‹ Meistens wurde diese Frage damit beantwortet, dass das Gegenüber das Chatfenster einfach schloss. Natürlich waren da draußen ganz viele junge Männer, die wie ich eigentlich gar nicht vorhatten, ihre Gedanken umzusetzen. Wenn die Fragen zu intim wurden, und das war die Frage nach dem Wohnort ganz sicher in vielen Fällen, kappte man einfach das Gespräch und verschwand.

Ich selbst habe das nicht anders gemacht. Wenn ein Mann mir näherkam, bedurfte es nur eines winzigen Makels, damit auch ich kniff und ein Gespräch abbrach. Ein Makel konnte zum Beispiel ein Bauch, die Brille oder der Bart sein. Viele klärten das, indem sie direkt am Anfang eines Chats kundtaten, dass sie nur Kontakte zu Männern ohne BBB suchten. Interessant war, dass das auch bei mir so war. Mit der Brille hätte ich noch leben können, denn die konnte man schließlich absetzen, aber einen Bart wollte ich ebenfalls nicht haben, obwohl ich selbst seit Jahren einen dicken Schnäuzer mein Eigen nannte. Auch den Bauch wollte ich nicht, allerdings hatte auch ich keinen. In diesem Alter war ich noch gertenschlank, zudem sogar noch etwas muskulös und ansatzweise athletisch. Die Natur meinte es gut mit mir, denn ich musste für diese Vorzüge nichts tun, sie waren einfach da.

Langer Rede kurzer Sinn, ich verbrachte viele unnütze, verschwendete und auch teure Stunden vor dem PC, ohne dass sich wirklich etwas tat. Ich ›sprach‹ sicherlich mit mehreren hundert Menschen, von denen vielleicht ein Dutzend vielversprechend waren.

Dann endlich hatte ich unerwartetes Glück, denn ich traf auf eine vermeintlich echte Frau, die Interesse daran hatte, mit mir ihre sexuellen Fantasien auszutauschen. Ihr Name war ›Lissy‹. Ich erinnere mich an ihre anfängliche Zurückhaltung und ihre gewählte Ausdrucksweise, was mich nach kurzer Zeit davon überzeugte, es wirklich mit einer Frau zu tun zu haben. Wir ›unterhielten‹ uns einige Zeit. Sie war Mitte zwanzig und damit etwas jünger als ich und beschrieb sich als schlanke, rothaarige Frau mit einem vergleichsweise kleinen Busen. Nie versuchte sie mich davon zu überzeugen, dass sie aussah wie eine Granate, was ein weiteres Indiz dafür darstellte, dass sie war, wofür sie sich ausgab. Ich revanchierte mich mit einer wahrheitsgemäßen Beschreibung von mir.

Lissy versuchte sich im Schreiben von erotischer Literatur, genauer gesagt, von erotischen Kurzgeschichten. Sie bot mir an, mir ein oder zwei Geschichten zu schicken und bat mich, ihr ganz ehrlich zu sagen, was ich von ihren literarischen Ergüssen hielt. Und genau das taten wir dann auch. Sie schickte mir ihre Geschichten, die sehr unspektakulären Sex zwischen Mann und Frau beschrieben, und ich bewertete sie. Damals war ich noch nicht besonders erfahren, und viele ungewöhnliche Varianten des Liebespiels hatte ich selbst noch nicht praktiziert. In Lissys Geschichten fand ich mich wieder, einzig ihre Beschreibung einer jungen Frau, die hingebungsvoll das Arschloch ihres Freundes leckte, gehörte nicht in mein Repertoire. Also fand ich insbesondere das sehr aufregend. Ich fand es sogar so aufregend, dass ich es nie wieder vergaß. Ihre Ausdrucksweise war so, dass man nicht das Gefühl hatte, etwas Pornografisches zu lesen, denn sie schaffte den Spagat zwischen offener Direktheit und eleganter Umschreibung. Über ihre Erzählungen kamen wir ins Gespräch und chatteten nun regelmäßig miteinander, allerdings ohne Aussicht auf eine persönliche Begegnung. Sie erzählte mir, dass sie einen Freund habe, den sie sehr liebe. Bei mir ging es ihr tatsächlich nur um den verbalen Austausch und die Beurteilung ihrer erotischen Kurzgeschichten.

»Besser als nichts«, dachte ich mir also und versuchte den Kontakt möglichst lange aufrecht zu erhalten. Selbstverständlich hätte ich sie gerne näher kennengelernt, doch angesichts ihrer Liebesbekundungen an ihren Freund wagte ich nicht auf ein persönliches Treffen zu hoffen, wohl aber auf Telefonate. Natürlich ›fragte‹ ich sie irgendwann danach, doch auch Telefonieren ging schon deutlich über das hinaus, was sie zulassen wollte, und vielleicht war ich ihr mit meiner Bitte um ein Gespräch schon zu nahegetreten, denn unsere Begegnungen wurden seltener. Sie trat die Flucht an und schlich sich aus meinem Blickfeld. Erst reagierte sie nicht mehr auf meine Nachrichten, und dann verschwand ihr Pseudonym. Ob das von ihr gewollt war und mir galt, oder ob es sich einfach nur so ergab, weiß ich nicht. Und so verbrachte ich meine Abende nun wieder ohne Lissy.

Mein Leben bestand natürlich nicht ausschließlich aus den allabendlichen Abenteuern am Computer. Schließlich ging ich einem Beruf nach, der einen gewissen Anspruch an meine geistige Verfassung und mein Denkvermögen stellte. Schlechterdings aber erreichte ich einen Zustand, der mein Denken blockierte und der mir große Schwierigkeiten bereitete morgens um 06.30 Uhr aus dem Bett zu kommen. Wen wunderts, wenn ich erst um drei Uhr in der Nacht, so leise wie ich konnte, wieder hinunter in unsere Wohnung schlich und ganz behutsam unter meine Bettdecke kroch. Gott sei Dank hatte Maria einen ziemlich festen Schlaf. Sie wachte nach meiner Erinnerung nie auf und wusste deshalb auch nicht, wieviel Zeit ich tatsächlich mit meinen nächtlichen Streifzügen durch das Netz verbrachte. Anhand der Telefonrechnungen hätte sie es erkennen können, aber auf die Idee, die zu entrichtenden Beträge in Zeiteinheiten zurückzurechnen, ist sie nie gekommen.

Aber nicht nur das Schlafdefizit machte mir zu schaffen, sondern vor allem meine immerwährenden Fantasien rund um das Thema Sex, insbesondere die Gedanken an solche Spielarten, die für mich ›unnormal‹ waren. Dazu gehörte ganz klar auch der Sex zwischen Männern, aber der jedenfalls schien mir in realistischer Reichweite zu sein, und da Frauen über das Netz offenkundig unerreichbar waren, konzentrierten sich meine testosterongesteuerten Sehnsüchte folgerichtig auf Männer. Der Gedanke an einen fremden männlichen Schwanz, übte auf mich über einen langen Zeitraum eine sehr faszinierende Wirkung aus. Das Geschlechtsorgan stand dabei immer im Vordergrund. Die Schwänze, über die ich stundenlang sinnierte, hatten keine Gesichter, und Körper waren nur dann erlaubt, wenn sie weitestgehend unbehaart und auf jeden Fall gertenschlank waren. Wünschenswert fand ich, wenn mein Mitspieler wenigstens in etwa meine Größe haben würde. Er durfte nicht zu klein sein, denn ich wollte einen ebenbürtigen Gegner, den ich nicht mit Samthandschuhen anfassen würde. Er durfte aber auch nicht zu groß sein, denn vor großen Menschen, egal ob Mann oder Frau, hatte ich und habe ich bis heute eine imaginäre Angst.

Meine Erfolglosigkeit bei den vielen nächtlichen Jagden nach Abenteuern, löste wütende Frustrationen in mir aus, die sich immer mehr in den Vordergrund schoben und dazu führten, dass ich diese Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf verbannen konnte. Und das wiederum störte nach einiger Zeit mein Konzentrationsvermögen beträchtlich, denn egal was ich machte, meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Da half auch tägliches und exzessives Onanieren nicht, und irgendwann begann es sich auch auf meine Arbeit auszuwirken. Schlimmer noch! Ich begann meine Jagd während meiner Arbeitszeit fortzusetzen, was ein hohes Risiko darstellte.

Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen und war für viele Menschen ein großartiges Fenster zu unbekannten Welten. Jeder nutzte es, doch kaum jemand dachte darüber nach, wie dieses gewaltige weltumspannende Netz funktionierte. Da ich aber beruflich mit Computern und Software befasst war, war mir bewusst, dass es mit sehr großer Wahrscheinlichkeit irgendwo eine Serverfunktion gab, die mitschrieb, wenn ich in meine zwischenzeitlich nicht mehr wegzudenkende Welt der Pornografie abtauchte.

Mein Arbeitsplatz bot mir jede nur denkbare Möglichkeit, genau das zu tun, was heutzutage regelmäßig zur Kündigung von Mitarbeitern führt. Auf meinem Schreibtisch stand ein PC mit uneingeschränktem Internetzugang. Ich hatte ein kleines Büro nur für mich, dass nur durch eine Glaswand von einem angrenzenden Raum mit 6 weiteren Arbeitsplätzen getrennt war. Schnell erkannte ich, dass die Glaswand ein großer Vorteil war, denn meine Blickrichtung war das angrenzende Büro. Niemand konnte mich überraschen. Jeder, der zu mir wollte, musste auf diese Glaswand mit eingebetteter Glastür, die den einzigen Zugang zu meinem Arbeitsplatz darstellte, zugehen. In jedem Fall hatte ich genug Zeit, verräterische Bildschirminhalte verschwinden zu lassen.

Mein Kopfkino raste ohne Unterlass. Die Angst, dass mir jemand auf die Schliche kommen könnte, erlosch nach und nach immer mehr. Mit der schwindenden Angst vor Entdeckung, verringerte sich auch die Zeit, die ich für meine eigentliche Arbeit aufwandte. Bei jeder Gelegenheit suchte ich nach irgendwelchen Möglichkeiten meine Fantasien in die Tat umzusetzen. Auf meinem Schreibtisch türmten sich schon bald unerledigte Arbeiten. Den Zusammenhang zwischen der anderweitig genutzten Zeit und dem Anwachsen der Stapel auf meinem Schreibtisch, erkannte ich nicht. Ich blendete zeitweise völlig aus, dass ich zu nichts kam, weil ich Stunde um Stunde im Internet herum surfte. Ich war mir sicher, völlig überarbeitet zu sein und glaubte, dass mein Arbeitsanfall so hoch sei, dass er eben einfach nicht zu bewältigen war. Nur dem Umstand, dass meine Tätigkeit von Kollegen und Vorgesetzten kaum nachzuvollziehen war, verdankte ich, dass all das ungerügt blieb. Niemand ahnte, womit ich meine Zeit verbrachte, und so nutzte ich fortan nicht nur die Nächte, sondern auch erhebliche Anteile des Tages, um meine Sucht ungezügelt auszuleben.

Koexistenz!

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