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… und der Bundesbrief?

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In der zeitgenössischen Chronistik und in der späteren Tradition der Befreiungsgeschichte der Waldstätte im 15. und 16. Jahrhundert spielt der Bundesbrief keine Rolle, er war schlicht nicht bekannt. Er wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts wieder entdeckt, zur Kenntnis genommen und erhielt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung, die er bis heute hat. Das lateinisch geschriebene Original der Urkunde liegt in Schwyz. Eine deutsche Übersetzung, die wahrscheinlich aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt, ist in Nidwalden überliefert. In einem Konflikt zwischen Ob- und Nidwalden im Jahr 1616 legten die Nidwaldner die Abschrift vor, um ihre Gleichberechtigung mit ihren Nachbarn zu belegen. Die Schiedsorte Luzern, Uri und Schwyz akzeptierten diese Abschrift jedoch nicht. Mit den Worten «da muossten wir lachen» erachteten sie diese als ungültig.51

Die Urkunde beinhaltet ein Landfriedensbündnis, in dem die Wahrung der inneren Ordnung und Sicherheit und eine Hilfsverpflichtung bei äusserer Bedrohung im Vordergrund standen. Wichtig geworden in der Beurteilung ist das Richterprivileg. Die Länder sollten keine fremden oder gekauften Richter akzeptieren. Dieser Passus entspricht in etwa dem Richterprivileg, das König Rudolf den Schwyzern am 19. Februar 1291 in Baden ausgestellt hatte. In diesem Sinn ist der Bundesbrief kein revolutionäres Dokument oder eine Gründercharta, wie das 1891 von Wilhelm Oechsli postuliert worden ist. Und er ist schon gar kein hochpolitischer, gegen Habsburg-Österreich gerichteter Bund, wie das Karl Meyer 1941 zur 650-Jahr-Feier des Bundes schrieb.52 Hingegen gibt es eine Reihe von Fragen, die Zweifel am Dokument hervorrufen.

Die Urkunde trägt keinen Ausstellungsort, zählt keine handelnden Personen auf und ist nicht auf einen Ausstellungstag genau datiert. Sie ist in einem komplizierten und verworrenen Latein abgefasst von einer Schreiberhand, die in dieser Zeit unbekannt ist. Sie scheint auch aus verschiedenen Textelementen zusammengesetzt zu sein. Die Reihenfolge der Siegel entspricht nicht der Reihenfolge der Erwähnungen der Länder im Text und das Siegel zu Nidwalden entspricht dem gemeinsamen Siegel von Ob- und Nidwalden, das erst im frühen 14. Jahrhundert nachweisbar ist. Die inwendige Siegelinschrift «vallis superioris» (Obwalden) ist später angebracht worden. Roger Sablonier hat gar zur Diskussion gestellt, ob die im Brief erwähnte «communitas hominum Intramontanorum vallis inferioris», die Gemeinschaft der Menschen in den Bergen des inneren Tales, überhaupt Nidwalden bezeichnet, oder nicht ursprünglich das Urseren-Tal, was genauso Sinn machen könnte.53 Und im Bündnis von Zürich mit Uri und Schwyz von Oktober 1291 ist keine Rede vom Bundesbrief. Eine Altersbestimmung mit der 14C-Methode hat erbracht, dass das Pergament des Bundesbriefs durchaus in die Zeit um 1300 gehört, mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent in die Zeit zwischen 1252 und 1312.54

Unklar ist weiter die Erwähnung einer «antiqua confoederatio», eines älteren Bündnisses. Generationen von Historikern haben sich darüber den Kopf zermartert. Das ältere Bündnis wurde wahlweise in den 1240er-Jahren während der Stauferwirren, 55 um 1252 nach dem Ende dieser Wirren, gleichzeitig wie der ähnlich lautende geschworene Brief von Luzern, 56 oder 1273 nach dem Abkauf der kyburgisch-laufenburgischen Rechte durch Rudolf IV. von Habsburg gesucht.57 Ein neuer Erklärungsversuch für diese Frage ist, das ältere Bündnis als Vorlage zu betrachten, aufgrund derer der erhaltene Bundesbrief entstanden ist, eine Vorlage, die vielleicht von 1291 stammt und später neu gefasst worden ist. Später kann heissen, einige Jahre danach, im wahrscheinlichsten Fall im Jahr 1309 – warum?

1309 setzte der neue König Heinrich VII. von Luxemburg – er war nach der Ermordung von Albrecht I. von Habsburg-Österreich gewählt worden – den Rapperswiler Erben Werner von Homberg als Reichsvogt über die drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden ein. Und im gleichen Jahr verstarb die Mutter des Hombergers, Elisabeth von Rapperswil. Sein Erbe stand zur Debatte, nicht zuletzt auch gegenüber seinem Stiefvater Rudolf von Habsburg-Laufenburg und seinem noch jungen Stiefbruder Johann. Werner von Homberg hatte ein Interesse daran, seiner Reichsvogtei eine rechtliche Form und Tradition zu geben, da sie 1309 wahrscheinlich erstmals in dieser Form geschaffen worden ist. Und die Länder – vor allem Unterwalden – hatten ein Interesse daran, gegenüber einem neuen König – notabene keinem Habsburger – eine eigene Tradition vorzuweisen. In diesem Fall wäre der Bundesbrief eine Konstruktion des Reichsvogts im Verein mit den Waldstätten mit Bezugnahme auf ein älteres Bündnis, das nicht von ungefähr in die königslose, unsichere Zeit nach dem Tod von Rudolf von Habsburg im Sommer 1291 datiert wurde.58 Die Urkunde wäre in diesem Fall weniger ein ereignisbezogenes Vertragsgeschäft als vielmehr Teil einer Traditionsbildung mit politischem Hintergrund gewesen.59

Unabhängig davon, ob der Bundesbrief wirklich im Jahr 1291 entstanden oder später hergestellt worden ist, für die weitere Entwicklung der Waldstätte und der Eidgenossenschaft hatte er keine Bedeutung. Er war nicht bekannt und wurde nicht gebraucht, in der Tradition spielte er keine Rolle. Die Tradition konstruierte hingegen im 15. Jahrhundert die Befreiungsgeschichte mit Tell, Bundesschwur und Burgenbruch und erachtete den Brief von Brunnen nach der Schlacht am Morgarten vom Dezember 1315 als den ersten Bund. Tschudi datierte die Befreiungsgeschichte auf die Jahreswende von 1307/08. Was wissen wir über diese für die weitere Entwicklung so folgenreichen Jahre? Was Wernhern von Stouffach von Switz mit dem landtvogt Grisler begegnet und wie [er] uss siner eefrowen rat gen Uri fuer, alda Walther Fürst von Uri, ouch er und Arnolt von Melchtal von Underwalden ob dem Kernwald den ersten pund zesamen schwuorend im land Uri, davon die eidtgnoschafft entsprungen.

[…] Also ward er ouch berüfft, und wurdend also dise drij man Walther Fürst von Uri, Wernher von Stouffach von Schwitz und Arnolt von Melchtal von Underwalden der Sachen eins, das si gott ze hilff nemmen und understan weltind diser sachen sich ze underwinden. Des schwuorend si ein eid zuo gott und den heiligen zesamen, und wurdend nachvolgende bedingen von inen abgeredt: nämlich das iro jeder sölt in sinem land an sine bluotzfründ und andre vertruwte lüt heimlich werben umb hilff und bistand, die an sich ziechen und zu inen in ir püntnus und eidtsgelübt ze bringen und behulffen ze sin, wider ir alte frijheit ze erobern und die tirannischen landtvögt und muotwillige herrschafft ze vertrijben, einandern bi gericht und recht ze schirmen und daran ir lib und leben ze setzen; doch das nichtzdestminder jetlich land dem heiligen römischen rich gebürliche gehorsame tuon, ouch jeder mentsch sin sonderbare pflicht wes er gebunden, es is sig gotzhüsern herren edlen und unedlen und mengklich dem andern inländischen oder ußländischen, wie von alter har gebürende pflicht und dienst leisten, so verr und die selben nit si von ir frijheiten und wider recht ze trengen fürnemmind. […] Es ward ouch abgeredt, wann etwas fürfiele das von nöten sich ze underreden, das dann si drij einandern berueffen und nachts zesamen komen für dem Mijtenstein so im see stat under Sewlisberg an ein end, heist im Rütlin. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 3, 1980, 220–223)

Von Morgarten bis Marignano

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